Seite:Die Gartenlaube (1887) 327.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

hundert und mehr Kindern beiderlei Geschlechts besucht und begnügt sich mit den allerbescheidensten Leistungen.[1] Unser Freund zeichnet sich vor seinen Altersgenossen keineswegs aus, wie er denn überhaupt wenig geneigt ist, den Werth von Schulkenntnissen hoch anzuschlagen. Er hält es für ersprießlicher und unterhaltender, sich durch praktische Uebungen auf seinen künftigen Beruf vorzubereiten. Er benutzt alle freie Zeit, um Schiffe zu schnitzen, dieselben mit Takelage, deren Bestandtheile und Zusammensetzung ihm bereits genau bekannt sind, zu versehen und mit diesen Fahrzeugen zu manövriren. Er unternimmt auch wohl auf den Böten der Fischer und Fährleute mit seinen Kameraden selbständige Segelpartien, bei denen Unglücksfälle selten sind. So kommt der Zeitpunkt der Einsegnung heran, mit welchem er die Schule verläßt. Die Wahl eines Berufs macht ihn nicht verlegen. Daß der Junge zur See geht, ist selbstverständlich. Eines guten Tages kommt er nach Hause mit der gleichmüthigen Mittheilung, daß er sich bei dem Schiffer N. N. „festgemacht“, d. h., daß er sich bei demselben als Schiffsjunge verheuert habe. Was anderswo Sache des Vaters oder des Vormundes ist, nämlich die Aufsuchung eines geeigneten Lehrherrn, das besorgt unser angehender Seemann allein, schon frühzeitig stellt er sich auf eigene Füße. Die Mutter hat nun für eine passende See-Ausrüstung zu sorgen, welche aus einigen derben wollenen Anzügen, je einem Paar starken Stiefeln und Schuhen und dem „Oelzeug“ (einem in Oel getränkten Leinenanzug zum Ueberziehen bei Regenwetter und stürmischer See) besteht und je nach den vorhandenen Mitteln mehr oder weniger komplet ausfällt.

Endlich ist Alles „klar“ (in Ordnung); der Schiffer „mustert“ (nimmt kontraktlich in Dienst) bei der zu diesem Zwecke in jedem Hafenorte eingesetzten Musterungsbehörde seine Besatzung, als deren letztes Mitglied unser Schiffsjunge aufgeführt ist. Dieser bekommt eine „Monatsheuer“ (Lohn) im Betrage von 9 bis 12 Mark vorausbezahlt und trinkt sich, um seine Mannhaftigkeit zu dokumentiren, den ersten Rausch. Im Hafenorte, wo das Schiff in Winterlage gelegen, angekommen, begiebt sich die ganze Besatzung sofort an Bord, um das Schiff in seefertigen Zustand zu setzen; unser Schiffsjunge erhält seine „Koje“ (Schlafstelle) angewiesen und wird vom Steuermann mit seinen Obliegenheiten bekannt gemacht.

Es beginnt nun für unsern Helden eine Zeit, während welcher er nicht gerade gut gebettet ist. Das Los eines Schiffsjungen ist kein beneidenswerthes. Jeder an Bord, vielleicht mit alleiniger Ausnahme des Kapitäns, glaubt das Recht zu haben, sein Müthchen an dem Jungen zu kühlen. Wo etwas nicht in Ordnung ist, der Junge hat die Schuld, wo etwas vermißt wird, der Junge hat’s verlegt. Da giebt es Knüffe und Püffe ungezählt, und leider liegen die „Enden“ (Schiffstaue) überall auf Deck bei der Hand, und mit einem solchen Ende läßt sich von geübter Hand ein recht empfindlicher Hieb austheilen. Dabei werden dem armen Kerl alle möglichen und unmöglichen Dienstleistungen und Handreichungen zugemuthet. Bald wird er „oben“ (im Mast), bald unten, bald vorne, bald „achter“ (hinten auf Deck) verlangt. „Viel Arbeit, viel Schläge,“ so lautet für ihn die Devise. Den Knaben aus dem Binnenlande dürfte eine solche Lage verzagt und muthlos machen; der Sohn der Küste läßt’s mit stoischem Gleichmuth über sich ergehen. Er ist aus anderem Holze geschnitzt, er kann schon einen Hieb, und zwar nicht bloß in figürlichem Sinne, vertragen. Der Trost, der nach einem bekannten lateinischen Ausspruch in dem Besitze von Leidensgefährten enthalten sein soll, erweist sich auch bei ihm wirksam. Er weiß, seinen Kameraden, den übrigen Schiffsjungen, ergeht es nicht besser. Er tröstet sich, wenn’s Hiebe hageldicht setzt, mit dem Vorsatz: du wirst es heimzahlen. Diese Drohung ist aber nicht an seine Peiniger adressirt. Keineswegs! Seine Rachegefühle sind mehr auf die Zukunft gerichtet. Er denkt dabei an seine Nachfolger, an die Jungen, die später unter seine Finger gerathen werden, und er hält Wort.

Aber wie überall im Leben, so gehen auch hier die guten wie schlechten Tage vorüber, und die Lehrzeit nimmt ein Ende. Das Schiff kehrt nach mehrjähriger Abwesenheit, während welcher unser Held Gelegenheit gehabt hat, eine Anzahl großer Hafenstädte in fernen Landen und fremden Erdtheilen zu sehen, in den Heimathshafen zurück. Die Besatzung wird „abgemustert“ (amtlich aus dem Schiffsdienst entlassen), bekommt ihre rückständige Heuer ausgezahlt und kehrt nach Hause zurück.

Was ist während dieser mehrjährigen Abwesenheit aus unserem Helden geworden?

Daß junge Leute in der Uebergangsperiode vom Knaben zum Jüngling, in den sogenannten Flegeljahren, sich durch Anmuth und liebenswürdiges Betragen in der Regel nicht auszeichnen, ist männiglich bekannt. Was du aber, verehrter Leser, an Unart und Tölpelhaftigkeit auch erlebt haben magst, unser Schiffsjunge läßt Alles weit hinter sich. Stelle dir einen strammen Jungen vor mit sonnverbranntem Gesicht, in dem einzelne Bartspuren den künftigen Mann verrathen, stelle ihn dir vor, wie er dir mit wiegendem Gange entgegenkommt, mit der Mütze auf einem Ohr, die kurze Thonpfeife im Munde, die von der Theerarbeit schmutzigen Hände tief in die Hosentaschen vergrabend, gelegentlich ausspuckend und den „Priem“ (Kantabak) in auffälligster Weise von einer Seite des Mundes nach der andern schiebend, und du hast das nicht gerade sympathische Bild unseres jungen Freundes. Geh’ ihm, ich rathe es dir, aus dem Wege! Er weiß, daß eine Kollision auf dem Lande bei Weitem weniger gefährlich ist als eine solche auf See; auch ist ihm nicht unbekannt, daß bei einer gelegentlichen Karambolage der rücksichtsvollere Theil den Kürzeren zieht. Er geht gerade aus und gerade durch. Seine Stimme ist rauh, seine Sprache das Plattdeutsche in abgerissener Form. Und was beginnt unser Freund? Womit vertreibt er sich die Zeit? Nun, er erholt sich von den Strapazen des Seelebens, er hat das Nichtsthun zu seiner vorläufigen Lebensaufgabe gemacht. Den auch in ihm liegenden Thätigkeitstrieb befriedigt er durch mehr oder weniger argen Unfug, den er mit seines Gleichen während der langen Winterabende auf der Straße anstiftet. An den sonntäglichen Tanzvergnügungen nimmt er, so lange die mitgebrachten Groschen reichen, regelmäßigen und lebhaften Antheil, und wenn bei einer solchen Gelegenheit, was in der Regel geschieht, eine kleine Prügelei in Scene gesetzt wird, so betheiligt er sich unfehlbar an derselben, und bekommt er dabei etwas ab, ein blaues Auge oder eine angeschwollene Nase, so ist er darauf andern Tages nicht weniger stolz als der Studiosus auf seinen Schmiß. Das ist unser Schiffsjunge; so sieht er aus, und an diesem Bilde ändern die nächsten Jahre nicht eben viel.

Da plötzlich – er ist wieder einige Jahre fortgewesen und unterdeß an die 20 Jahre und darüber alt geworden – geht eine merkwürdige Umwandlung mit ihm vor. Wir erblicken ihn nämlich eines guten Tages in sauberem seemännischen Anzuge mit einigen Büchern unter dem Arme. Am Halse stiehlt sich ein weißer Hemdkragen hervor, und die Mütze sitzt fast gerade auf dem Kopfe. Was ist geschehen? Hat er den Beruf gewechselt? O nein, der Ehrgeiz hat ihn gepackt; er will einmal Schiffskapitän oder doch wenigstens Steuermann werden. Die Sturm- und Drangperiode liegt hinter ihm.

Es dürfte auch in denjenigen Kreisen, welchen Seefahrt und Küstenleben fernab liegt, bekannt sein, daß der Staat sowohl vom Schiffer wie auch vom Steuermann den Nachweis der Qualifikation zur Ausübung seines Berufs verlangt. Die praktische Befähigung wird durch eine 45monatliche Fahrzeit als nachgewiesen angesehen, zum Nachweis der theoretischen Befähigung muß sich der junge Seemann einer Prüfung, der Steuermannsprüfung, und wenn er als Schiffer fahren will, einer zweiten Prüfung, der Schifferprüfung, unterziehen. Die verlangten Kenntnisse erwirbt er sich auf einer Navigationsschule. Da nun die in der Jugend erworbenen Kenntnisse den jungen Seemann nur in seltenen Fällen befähigen, an dem Unterricht in diesen Schulen, der zum Theil ganz komplicirte astronomische Rechnungen umfaßt, mit Aussicht auf Erfolg theilzunehmen, so muß er zunächst eine Vorschule, wie solche in den großen Küstendörfern eingerichtet sind, besuchen.

Es ist nun doch ein eigen Ding, wenn ein junger Mann in den Zwanzigern so ganz von vorn, so zu sagen mit dem ABC wieder anfangen soll. So geht’s nämlich unserem Freunde. Er ist genau in derselben Lage wie Hans Bendix im „Abt von St. Gallen“. Er kann weder lesen noch schreiben, ganz zu geschweigen vom Latein. Es wird ihm herzlich sauer. Bis spät in die Nacht brennt auf seinem Stübchen die Lampe, doch in seinem Kopfe will es nicht hell werden. Aber unser Freund ist zähe, und welche Schwierigkeiten lassen sich nicht durch ernsten

  1. Wir erinnern daran, daß unsere Schilderung die Verhältnisse früherer Zeiten wiedergiebt; die heutigen Schulverhältnisse an der Küste sind wohlgeordnete und stimmen mit den oben geschilderten nicht mehr überein.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_327.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2023)