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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

er sich gelegentlich eine Vernachlässigung des Dienstes zu Schulden kommen ließ, erhielt er seinen Abschied. Er war nun wieder auf seine Feder allein angewiesen; der Erfolg der „Bluthochzeit“ war von kurzer Dauer und blieb der letzte seines Lebens. Selbst ein so hervorragendes Werk wie „Marino Falieri“ (1875) blieb unbeachtet, und fortan wollte dem Dichter nichts Rechtes mehr glücken. Die Nothwendigkeit verurtheilte ihn dazu, sich der Lohnschreiberei in die Arme zu werfen; er wurde Novellist und Journalist und versank allmählich in dem rauschenden Strome des Tages. Der Kampf, den er in diesen letzten Jahren durchmachen mußte, spottet beinahe der Beschreibung: drückendste Noth im Hause, wo es oft an der kärglichsten Speise mangelte; das Wesen des Unglücklichen wurde scheuer und unheimlicher; die Bekannten zogen sich mehr und mehr von ihm zurück; wenn er zuweilen ein Wirthshaus im Südwesten der Stadt besuchte und hier, seine Pfeife rauchend, vor einer „großen Weißen“ in sich versunken saß, dann wichen die andern Gäste seinem Tische weit aus. Und wie die Welt ihm kalt gegenüber stand, so stand er schließlich den Seinen gegenüber; nur an dem jüngsten Sohne hing sein Herz mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit, und oft sah man ihn über die Straße schwanken, die Hand auf das Haupt des Knaben gelegt.

Grillparzer sagt einmal: „Das ist des Unglücks eigentlichstes Unglück, daß selten sich der Mensch drin rein bewahrt“ – Lindner stand zu hoch, als daß er in die Zunft der unehrlichen Biedermänner hätte treten können; aber die Noth mochte ihm gelegentlich das Gewissen trüben – und so führte vor einigen Jahren eine Winkelbühne Berlins die Uebersetzung eines Lustspiels von Gogol auf, die sich in hohem Grade von einer früheren Uebersetzung abhängig zeigte. Daraus entwickelte sich ein Proceß, der den Dichter nicht nur um eine, wenn auch kümmerliche, amtliche Stellung brachte, die ihm so zu sagen aus Barmherzigkeit verliehen worden war, sondern auch des Allernothwendigsten beraubte – kaum daß ihm die unentbehrlichsten Möbel und Kleidungsstücke verblieben. Sein Schicksal war jetzt für immer besiegelt.

Schon damals zeigten sich die ersten Spuren der Krankheit: Unruhe und Gleichgültigkeit gegen Alles. Nur zuweilen wachte die Sorge für seinen Dichterruhm in ihm auf; dann verlangte er Geld von der Frau, damit er an Redaktionen und einflußreiche Personen Postkarten senden könne, um sich ihnen wieder in Erinnerung zu bringen. Was noch zu versetzen war, mußte dann von der hungrigen Frau versetzt werden. Des Nachts fand er keinen Schlaf; er stand des Oefteren auf, schritt durch die Zimmer, zündete die Lampe an, schrieb eine Weile, weckte die Frau oder die Töchter auf und verlangte Kaffee von ihnen. So ging es eine geraume Zeit, ohne daß die Familie aufmerksam wurde. Da geschah es, daß der Herzog von Meiningen im Januar 1886 nach Berlin kam und den Dichter zu sich befahl. Große Aufregung. Der arme Dichter besaß weder Geld, noch die für diesen Besuch nöthigen Kleider; die Frau mußte zu den wenigen Bekannten eilen, welche der Familie treu geblieben waren, und um ihre Hilfe bitten; ein halbwegs passender Frack und Mantel wurden gefunden; das Geld für eine Droschke zweiter Klasse kam auch zusammen – und hoffnungsfreudig wie damals, als er von Rudolstadt nach Berlin reiste, fuhr er nach dem „Kaiserhof“, in welchem der Herzog abgestiegen war. Ungefähr nach einer Stunde sah die Frau ihn vom Fenster aus heim kommen, aber zu Fuß und ganz niedergebeugt; sie eilte hinunter und fragte, ob er etwas beim Herzog erreicht habe.

„Alles, Alles!“ rief er. „Ich bin so froh, so glücklich; ich möchte Dich in meinem Mantel die drei Treppen hinauftragen!“

Zu Hause angelangt, erzählte er nun, daß der Herzog ihm eine Villa bei Meiningen bauen wolle, daß er fortan sorgenlos und nur seiner Kunst leben solle. Er schwärmte in den überschwänglichsten Worten von dem edlen Mäcen und forderte die Seinen auf, mit ihm in ein gutes Gasthaus zu gehen und sich einmal recht satt zu essen.

Jetzt endlich schien der Familie das Verhalten des Vaters und Gatten doch bedenklich; ein dem Hause befreundet gebliebener Arzt wurde ins Vertrauen gezogen – und dieser konnte nur feststellen, daß Lindner in hohem Grade gestört sei; wenige Tage später fand dann die Ueberführung des Kranken nach Dalldorf statt, wo er sich auch jetzt noch befindet und wo er voraussichtlich sein Leben beschließen wird. Er ist ein ruhiger und bei Allen beliebter Kranker, hält sich für einen Millionär, der mit Gold und Juwelen um sich werfen kann, bettelt sich aber von den Wärtern Geld und Briefmarken zusammen. An seine Krankheit glaubt er nicht, obschon er auch körperlich sehr heruntergekommen ist. Am glücklichsten fühlt er sich, wenn er, seine Pfeife rauchend, in einem gepolsterten Lehnstuhl sitzen darf, den seine Frau ihm geschenkt hat; dann streichelt er wohl die Lehne zärtlich und denkt weder an Essen noch an Trinken. Der Schriftstellertrieb ist in ihm sehr lebendig, er füllt jeden Tag einige Blätter mit unzusammenhängenden, aber stellenweise an ganz reale Verhältnisse anknüpfenden Aufzeichnungen.

Am Tage nach der ersten Neu-Aufführung der „Bluthochzeit“ (22. Januar d. J.), mit welcher das „Deutsche Theater“ sich ein unleugbares Verdienst erworben hat, besuchte Frau Lindner den Kranken, erzählte ihm von dem großen Erfolg und gab ihm den Theaterzettel zu lesen – aber der Theaterzettel selbst ließ ihn gleichgültig; nur die Rückseite mit den geschäftlichen Anzeigen fesselte ihn lebhaft, und überall, wo er das Wort „Kaviar“ las, machte er ein Bleistiftzeichen. Er war übrigens fest davon überzeugt, daß ihn die Frau nach Berlin mitnehmen und ins „Deutsche Theater“ führen werde; als sie sich dann von ihm trennen mußte und die Thür zu seiner Zelle geschlossen hatte, drang ein entsetzlicher, aus Wuth und Schmerz gemischter Schrei an ihr Ohr, der sich, wie sie mir sagte, nicht beschreiben, aber auch nie vergessen läßt.

Das Unglück, welches über den Dichter hereingebrochen, hatte ihn der Welt für kurze Zeit wieder in unliebsame Erinnerung gebracht; aber selbst jetzt waren die Theaterdirektoren nicht zu bewegen, seine Dramen aufzuführen. Erst eine außergewöhnliche Veranlassung hatte das „Deutsche Theater“ in Berlin dazu gereizt, wenigstens die einst so erfolgreiche „Bluthochzeit“ wieder aufleben zu lassen – und der wieder eintretende Erfolg, so vorübergehend er auch wahrscheinlich sein wird, dürfte vielleicht auch der einen oder andern Bühne den Muth verleihen, noch in letzter Stunde nachzuholen, was die herzlose Lässigkeit versäumt hat.

Wie man den Preisrichtern der Schiller-Kommission 1866 einen Vorwurf daraus machte, daß man ein so unvollkommenes Werk wie „Brutus und Collatinus“ habe krönen können, so machte man es ihnen jetzt zum Vorwurf, daß sie den Dichter aus der Enge seines Berufslebens herausgelockt und so den Grund gelegt hätten zu der Tragik dieses Dichterschicksals. Es ist so bequem, Andere für etwas verantwortlich zu machen, was wir bis zu einem gewissen Grade selbst verschuldet haben. Kein Zweifel, daß es eine Uebereilung des Dichters war, den festen Boden, auf dem er stand, zu verlassen – aber wer darf es dem Unglücklichen verübeln, daß er die scheinbar so günstige Gelegenheit benutzte, um in größere und, wie er glaubte, sein Schaffen mehr begünstigende Verhältnisse zu kommen? Hatte dieser Mann, dieses Talent nicht auch höhere Ansprüche an das Leben? Sollte er es nicht versuchen, sich in der Welt, die für so viel Unwürdige Gold und Lorbeeren bereit hat, ein höheres Dasein zu erkämpfen? Und hätte man für einen Dichter, der von gebildeten Männern seines Volkes für würdig erachtet wurde, vor vielen Berufenen ausgezeichnet zu werden, der dann nicht selbstgefällig auf seinen Lorbeeren ausruhte, sondern unausgesetzt danach rang, sich dieser Auszeichnung immer würdiger zu machen – hätte man für einen solchen Dichter nicht ein Herz haben müssen? Jeder Arbeiter ist seines Lohnes werth, und Lindner hat gearbeitet, sehr ernstlich gearbeitet, wie seine Dramen beweisen, die zwar keine fehlerlosen Meisterwerke, aber doch immerhin Schöpfungen sind, wie wir deren nicht viele aufzuweisen haben. Sein „Brutus und Collatinus“ krankt an einer Zwiespältigkeit der Handlungsführung; seine „Bluthochzeit“ leidet stellenweise an Unklarheit und entbehrt eines greifbaren dramatischen Mittelpunktes; und selbst sein „Marino Falieri“[1] läßt dort und hier Manches vermissen – aber in allen diesen Stücken lebt so viel wirkliche Kraft, so viel theatralische Sicherheit und künstlerisches Feingefühl, daß sie, wenn man die geschichtliche Gattung des Trauerspiels überhaupt gelten läßt, verdienten, von allen bedeutenderen Bühnen wieder und wieder gespielt zu werden. Wohl ist auch Lindner ein Epigone und steht zuweilen mehr als ihm

  1. Diese drei Stücke sind bei J. J. Weber in Leipzig erschienen und mögen Lesevereinen ganz besonders empfohlen sein.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_330.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2023)