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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

dieselbe weit besser wegkam, als der ganz unter der Botmäßigkeit ihres Willens stehende Knecht. Die Frau Peter hatte bei der Verhandlung einen höchst ungünstigen Eindruck gemacht. Auf einen solchen Eindruck giebt man im Volk immer viel.

Die Todesstrafe wurde an Loth nicht vollstreckt. Der Großherzog von Weimar, der Landesherr Loth’s, machte von dem ihm zustehenden Rechte der Begnadigung Gebrauch, und Loth wanderte statt aufs Schaffot ins Zuchthaus.

Aber nun brachte das oft im Dienste einer höheren Gerechtigkeit stehende Walten des Zufalls die Wendung.

Zufällig war in der Schwurgerichtsverhandlung ein Geraer Arzt als Zuhörer anwesend, der Dr. med. Erwin Koch. Er hatte die gutachtliche Vernehmung der Physikatspersonen angehört und dabei die Ueberzeugung gewonnen, daß die von ihnen gezogenen Schlüsse wissenschaftlich nicht haltbar und mit dem Sachbefund nicht wohl vereinbar waren. Vielmehr deutete seiner Ueberzeugung nach der letztere darauf hin, daß wenigstens die beiden ersten der abgegebenen Schüsse Selbstmordschüsse waren und nicht von dritter Hand herrühren konnten. Diese Ansicht befestigte sich bei ihm immer mehr, und er suchte dieselbe auch in juristischen Kreisen und vor Allem bei dem Vertheidiger des Verurtheilten in Geltung zu bringen, um eine Wiederaufnahme des Processes herbeizuführen. Nach der Vorschrift des Gesetzes konnte aber eine solche nur eintreten, wenn neue Thatsachen oder Beweismittel beigebracht wurden, welche allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder eine geringere Bestrafung zu begründen geeignet sind. Die bloße gegentheilige Ansicht eines Sachverständigen konnte füglich weder als neue Thatsache, noch als neues Beweismittel gelten. Aber dem Dr. Koch ließ der Gedanke, daß hier ein schwerer Irrthum begangen worden sei, keine Ruhe. Er reiste auf eigene Faust an den Ort der That, um dort vielleicht neues Beweismaterial zu entdecken. Auch hier wurde der Zufall sein Gehilfe.

Schon auf der Fahrt von der Eisenbahnstation nach dem abgelegenen Dorfe erfuhr er von dem Geschirrführer, daß früher an der Decke des Mordgemachs sich ein bei der Untersuchung nicht beachteter, ziemlich großer Blutfleck abseits vom Bette befunden habe, bei welchem Sehnen und Flechsen fest angeklebt waren. Der Fleck war beim Weißen der Decke übertüncht, aber von den Tünchern bemerkt worden. Trotzdem waren die Spuren der Fleischtheile noch zu ermitteln. Es waren offenbar Theile der abgeschossenen Hand. Sie konnten nur durch die Gewalt eines nach der Decke zu gerichteten Schusses so fest an dieser ankleben. Jedenfalls war damit die Annahme zerstört, daß der Schuß gegen den im Bette liegenden Zorn gerichtet gewesen war. Von da aus konnten die Handtheile nicht an die Decke kommen. Dann gelang es auch noch, das blutige Hemd, das Zorn in der Nacht an hatte und das auf eigenthümliche Weise erhalten gebieben war, in Besitz zu bekommen. Man hatte unterlassen, es seiner Zeit mit in Beschlag zu nehmen, und nun ergab sich, daß auch die Schußlöcher im Hemde nicht mit den Annahmen der Sachverständigen stimmten.

Somit waren neue Thatsachen und Beweismittel gewonnen, und der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens konnte begründet werden. Die zuständige Strafkammer des Geraer Landgerichts veranlaßte eine weitere Prüfung des Koch’schen Gutachtens durch den Professor der Medicin und Physikatsarzt Dr. Gärtner in Jena, und diese fiel in der Hauptsache zu Gunsten des erstern aus. Auch der von Professor Gärtner weiter zugezogene Professor der Chirurgie Dr. Braun schloß sich der Ansicht im Wesentlichen an. Nunmehr wurde der ganze Proceß in der dreitägigen Verhandlung vor dem Schwurgerichte zu Gera, die unter dem Vorsitze des Landgerichtsdirektors Dr. Hagen am 31. März, 1. und 2. April stattfand, von Neuem verhandelt. Den Schwerpunkt der Verhandlung bildeten die Ausführungen der drei neuen Sachverständigen Koch, Gärtner und Braun, welche allein einen ganzen Vormittag ausfüllten. Die Untersuchungen in Jena waren mit jener Subtilität und gewissenhaften Vertiefung in das kleinste Detail gemacht worden, wie sie das gewohnte Kennzeichen des deutschen Gelehrtenthums sind. Leichen und Leichentheile waren als Versuchsobjekte benutzt worden, um die Richtungen der einzelnen Schüsse und ihre Wirkungen unter Berücksichtigung eines an Ort und Stelle neu aufgenommenen Befundes festzustellen. Auch lebende Objekte wurden, so weit es anging, zur Verdeutlichung der einzelnen Positionen benutzt.

Wir müssen es uns freilich versagen, näher auf die specielle Beweisführung in dieser Richtung einzugehen, müssen uns vielmehr auf die Wiedergabe der gezogenen Schlüsse beschränken. Danach wurde festgestellt, daß Zorn nicht von einer vor ihm stehenden Person im Bett erschossen worden sein konnte. Als der erste Schuß fiel, mußte er sich bereits in sitzender Stellung außerhalb des Bettes befunden haben. Er erhielt hier zunächst den Schuß in die Seite, der seiner Richtung nach auch nicht von einer fremden Person herrühren konnte, da der Mörder dabei eine geradezu undenkbare Lage hätte einnehmen müssen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dieser Schuß ein Selbstmordschuß, welchen Zorn durch Anstemmen des Gewehres auf den Boden und Abdrücken des Hahnes mit dem bloßen Fuße gegen seine Brust gerichtet hatte, der aber beim Abdrücken eine mehr seitliche Richtung nahm. Der Schuß in die Hand war dann unmittelbar darauf, gefolgt als ein Produkt des Zufalls, wobei der Selbstmörder die Hand auf die Mündung des Gewehres gehalten haben mochte. Von ihm rührten die Blutspuren an der Wand und Decke her. Dagegen war der etwa acht bis zehn Minuten darauf abgegebene gerade ins Herz gerichtete Schuß ein von fremder Hand abgegebener Mordschuß. Hier stimmte das neue Gutachten mit dem alten überein. Mit der gänzlich zerschossenen rechten Hand konnte Zorn das Gewehr weder neu laden, noch sich erschießen. Der Schuß war auch auf eine stehende Person abgegeben in der Richtung von unten nach oben. Der erste selbstmörderische Schuß war nicht, wie man früher annahm, sofort tödlich. Der Verletzte konnte noch schreien, also auch noch um Hilfe rufen. Ein solcher Hilferuf war nicht vernommen worden. Der alte Peter, der in der neuen Verhandlung sein Zeugniß nicht mehr ablehnen konnte und dasselbe auch beschwor, hatte zwar die Schüsse, aber sonst nicht einen „Muks“ gehört. Der dritte Schuß war ein sorgfältig gezielter Herzschuß und als solcher sofort und unbedingt tödlich.

Der Selbstmordversuch Zorn’s erhielt auch seine psychologische Motivirung. Zorn hatte sich in der letzten Zeit schon immer mit Selbstmordgedanken getragen und denselben wiederholt anderen Personen gegenüber Ausdruck gegeben. Er hatte unter Anderem gesagt: es sei nicht gut, wenn man sich durch den Kopf schieße, das sähe nicht gut aus. Ein Schuß in die Brust thät’s auch. Noch an dem Abende vor seinem Tode hatte er zu einem Zeugen, mit dem er im Wirthshause saß, geäußert: „Komm, wir wollen eins trinken; wenn’s einmal alle wird, mach’ ich’s wie die Engländer, da erschieß’ ich mich.“ Als der Zeuge darauf entgegnete: das solle doch nicht sein, hatte er erwiedert: „Nun, was ist’s da weiter!“ Er hatte nicht unbedeutende Wirthshausschulden, die ihn drückten, und als er am Nachmittage von seiner Frau Geld verlangte und sie ihm dieses verweigerte, hatte er geäußert: „Erst erschieße ich Dich, dann mich.“ Und nun der Vorfall mit dem Knecht, der ihm die ganze Ohnmacht seiner Stellung im Hause vorspiegelte und ihn moralisch wohl tief niedergedrückt haben mochte.

Mit den neuen Gutachten der Sachverständigen verlor das frühere Urtheil seine Unterlage. Von einem vorher geplanten Morde konnte jetzt nicht mehr die Rede sein. Immerhin aber blieb noch der dritte Schuß, der einen verbrecherischen Charakter in jedem Falle in sich trug. Rührte er von Loth her? Dafür ergaben sich jetzt noch weniger Anhaltspunkte als sonst.

Die belastenden Momente der ersten Verhandlung schwächten sich immer mehr ab. Auch das angenommene, aber von den Betheiligten durchaus bestrittene Verhältniß zwischen Knecht und Dienstherrin verlor den Boden des Thatsächlichen. Selbst der angebliche Kuß im Kuhstalle nahm den Charakter einer bloßen Illusion an. So verdächtig auch der Ruf der Frau Peter: „Karl! komm!“ im Hofe war, der Beweis, daß Loth wirklich im Hause war, wurde auch jetzt nicht erbracht. Dagegen ließen auch nach Annahme der Sachverständigen alle Umstände darauf schließen, daß die Frau Peter den dritten Schuß abgab und zwar jedenfalls mit Zustimmung und auf nähere Anweisung des bereits tödlich verwundeten, aber noch zum Sprechen fähigen Zorn. Sie war jedenfalls nach den beiden ersten Schüssen aus dem Bette gesprungen und in Unterrock und Strümpfen in das obere Stock hinauf geeilt. Daß ihr der Tod Zorn’s ganz willkommen war, ging aus verschiedenen Aeußerungen hervor, welche sie in den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_347.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2023)