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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

angewiesen war, so hatte sie es dennoch möglich gemacht, dem Mädchen eine gute Erziehung geben zu lassen. Mit unermüdlichem Fleiß arbeitete Frau von Velsen für Tapisseriegeschäfte, dann, als ihre Augen langsam, aber rettungslos ihre Sehkraft einbüßten, strickte sie für den Verkauf, Tag für Tag, und so gelang es ihr, die wenigen hundert Thaler, welche der Nichte als Erbe geblieben waren, unangegriffen zu erhalten.

Derartige Existenzen finden sich häufiger, als man für gewöhnlich glaubt, doch bleiben sie meistens in ihrer ganzen Dürftigkeit unerkannt, denn es ist der Frauennatur gegeben, immer noch einen Schein von Behaglichkeit und Wohlhabenheit zur Schau zu tragen, welcher den flüchtigen Beobachter leicht täuscht. Frau von Velsen jedoch wies jede Verschleierung ihrer Verhältnisse weit von sich – und warum sollte sie sich auch irgend welchen Zwang auferlegen? Betrat doch außer der alten Aufwärterin, welche neben ihr wohnte, kein Mensch die kleine Wohnung, welche aus dem mäßig großen, zweifenstrigen Wohnzimmer, der kleinen Küche und einer Schlafkammer bestand.

Seit fünfundzwanzig Jahren hatte die Blinde diese Wohnung inne und kannte begreiflicherweise jeden Winkel so genau, daß sie sich völlig selbständig in den Räumen bewegen konnte. Ueber die Schwelle war sie seit ihrer Erblindung nicht mehr geschritten. Die Frühlings- und Sommerluft genoß sie an dem geöffneten Fenster, welches auf ein kleines Hofgärtchen blicken ließ, mit einer alten Linde darin. Fast alljährlich starb einer der starken Aeste des mächtigen Baumes ab, denn immer höher stiegen die Häuser rundum auf, Licht und Luft absperrend, aber das frische Leben in dem markigen Stamm ließ immer neue Zweige sprossen, und so sandte die Linde auch alljährlich, trotz Allem, süßen Blüthenduft bis zu der alten Frau hin. Hoch oben im Gipfel summten dann Tausende von Bienen, und die Blinde lauschte fast andächtig auf den Glockenklang des Sommers, wie sie den Ton nannte. Dann kam auch ein Tag, wo sie zur Nichte sagte: „Es wird Herbst, Kordula,“ und auf das leise Fallen der dürren Blätter horchte. „Ob ich sie im Frühling noch einmal werde rauschen hören, die alte Linde?“

Aber ein lebendes Wesen trat doch noch als Lichtgestalt in die dunkle Behausung, ein Sonnenkind von Freude und Lebenslust, Melanie von Wolfersdorff, Kordula’s einzige Freundin. In einem reichen Hause aufgewachsen, zwischen zärtlichen Eltern und blühenden Geschwistern lernte sie den Geliebten kennen, um ohne Hinderniß nach Jahr und Tag seine Gattin zu werden. Das junge Paar lebte in sorglosem Glück, von einem schönen Knaben umspielt, und war mit sich und der ganzen Welt zufrieden.

Melanie oder Melly, wie man sie nannte, die ihre ganze Schulzeit neben Kordula durchgemacht, hing noch heute mit unveränderter Freundschaft an dem eigenartigen ernsten Mädchen. Von der Kinderzeit her an Kordula’s Heim gewöhnt, empfand sie nicht mehr dessen Dürftigkeit, sie freute sich nur immer an der musterhaften Ordnung und Sauberkeit, welche darin herrschte, und sprach das oft genug in herzlichen Worten aus. Kordula hingegen bewunderte wieder mit ungekünsteltem Enthusiasmus alles Schöne, das ein gütiger Gott ihrer Freundin so reichlich in den Schoß streute, und – Melly ließ sich und ihr Eigenthum so gern bewundern! Sie schwor auch dafür auf die Freundin und schwärmte jedem Bekannten gegenüber von ihrer Kora.

„Ein Charakter, sage ich Ihnen – ein Charakter,“ versicherte sie immer von Neuem, und wenn und wo es sich irgend einrichten ließ, erschien die Freundin in ihrer Begleitung. Melly war auch in heftigem Unwillen erglüht, als sie eines Tages erfuhr, man nenne Kordula Adrian „ihre Folie“. Mein Himmel, wie konnte man sie dafür verantwortlich machen, daß die blasse müde Kora ihr rosiges blondes Köpfchen doppelt hübsch erscheinen ließ, daß deren gedrücktes einsilbiges Wesen ihren sprühenden Uebermuth nur um so reizvoller hervorhob! Sie folgte bei diesem Freundschaftsbündniß ganz allein ihrem guten Herzen und nur ein ganz klein wenig – ihrer Bequemlichkeit, und sie eiferte im hellen Zorn gegen den abscheulichen Spitznamen; dieser Zorn aber stand ihr wieder gar zu reizend! Es war nur natürlich, daß man das auch fand und ihr versicherte.

Die „Folie“ war endlich auch bis zu Kordula’s Ohr gedrungen und zwar durch einen Zufall diesen Abend. In einer Pause, die zwischen dem Tanzen eingetreten war, zu dem natürlich ihre „Goldkora“ aufgespielt, schlüpfte die zierliche Melly mit Wangen, die von der Lust des Abends geröthet waren, an das Piano, die dunkle schlichte Freundin stürmisch zu umschlingen. „Herzensschatz,“ bettelte sie dann heimlich, „sieh doch einmal nach dem Buben. Ich als Wirthin kann mich so schwer losmachen!“ Und dienstfertig, wie immer, erhob sich Kordula, der Bitte sofort nachzukommen. Der Knabe schlief fest und ruhig, und sie durfte sogleich zurückkehren. Als sie das kleine duftende Boudoir der Freundin betrat und ausruhend einen Moment in seinem Dämmerlicht verweilte, hörte sie erst einzelne Worte einer Unterhaltung aus dem Spielzimmer nebenan, dann zusammenhängende Reden, und deutlich unterschied sie die etwas lärmende Stimme eines Rittmeisters, der soeben fragte, warum denn in aller Welt das Tanzen aufgehört habe?

„Ich danke immer Gott, wenn die Weiber auf diese Weise untergebracht sind, da darf man doch in aller Ruhe seine Partie machen! Ich finde, die ‚Folie‘ ist ein ganz vorzügliches Mädchen,“ Kordula hörte zwischen hindurch die Karten fallen, „immer bereit, den Leierkasten zu machen, ich werde meine Frau veranlassen, sie auch in unsere Gesellschaften einzuladen, dann giebt es niemals mehr ein Hinderniß für das Drehvergnügen. Wo wohnt sie denn eigentlich, Wolfersdorff?“

„Auf der Domstraße bei ihrer Tante, Frau von Velsen,“ antwortete sogleich die Stimme des Wirthes. „Sie ist in der That ein nettes gefälliges Ding, die Kleine, ich freue mich aufrichtig dieser Jugendfreundschaft!“

„Das glaube ich,“ rief mit schallendem Lachen der Rittmeister. „Ihr allein danken Sie auch den ewigen Sonnenschein Ihres Hauses. Kriecht der Störenfried jedes ehelichen Glückes, Langeweile genannt, an Ihre kleine Frau heran, flugs wird die Folie geholt und erweist sich als wahrer Schatz von Geduld und Bewunderungsfähigkeit. Welches weibliche Wesen würde da nicht sofort guter Laune!“

„Der Name ‚Folie‘ ist aber ein durchaus unzutreffender!“ mischte sich jetzt ins Gespräch die Stimme des Doktor Kersten, eines angesehenen jungen Arztes. „Lassen Sie die junge Dame einmal gute Toilette machen, und Sie würden sofort die Wahrheit meines Ausspruches empfinden!“

„Der Doktor hat ganz Recht!“ stimmte sofort Wolfersdorff eifrig bei. „Nur ihrem ewigen schwarzseidenen Fähnchen hat sie diesen Namen zu verdanken! Meine Frau versuchte auch schon ihr in Betreff der Kleidersorgen ein wenig unter die Arme zu greifen, aber sie hat einen verteufelten Stolz, an dem jede Andeutung wirkungslos abprallt!“

„Schellen ist Trumpf!“ unterbrach jetzt die ungeduldige Stimme Kersten’s die Unterredung. „Ich denke, wir setzen jetzt endlich unseren Skat fort. Der Rittmeister reizt!“

Athemlos horchte das junge Mädchen. Sie war einen Schein tiefer erblaßt, und ihre Zähne knirschten leise auf einander. Als die Herren verstummten, lachte sie kurz auf.

„Sehr gut – Folie!“ murmelte sie mit zuckenden Lippen. Dann, obwohl ihre Kniee wankten, erhob sie sich und betrat, als sei nichts vorgefallen, den großen Salon, wo man sie stürmisch willkommen hieß.

Sie lächelte ganz eigen vor sich hin, dann ließ sie sich sogleich vor dem Instrument nieder.

„Eine lange Pause, nicht wahr, doch ohne meine Schuld!“ nickte sie einem eleganten Herrn zu, der ihr im Lauf der Zeit etwas nähergetreten war, da er als Vortänzer so mancherlei Anliegen an sie hatte.

„In der That, Fraulein Adrian, Sie haben sich ganz unentbehrlich zu machen verstanden, Sie tyrannisiren uns sogar in gewissem Sinn!“ plauderte er im Ton mitleidiger Freundlichkeit, während die zerstreuten Augen im ganzen Raum umherwanderten. „Jetzt wieder lege ich die Bitte der ganzen Gesellschaft zu Ihren Füßen nieder, uns eine Quadrille à la cour aus Ihrem fast unerschöpflichen Melodienfüllhorn zu spenden.“

„Vortrefflich gesagt, Herr von Stangen!“ Dann schlug sie schnell die einleitenden Takte an, welche das Engagement der Tanzlustigen zur Folge hatten. Ein kurzer düsterer Blick folgte dem eleganten Kavalier, der, sorglos über das spiegelblanke Parquet gleitend, schon im nächsten Augenblick Melly seinen Arm bot, um sie in das ihr zunächst stehende Karré zu führen. Dann musterte sie das duftige weiße Spitzenkleid der Freundin.

Hatte der Doktor wirklich Recht mit seiner Behauptung, daß ihr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_350.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2023)