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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Königin Viktoria’s fünfzigjähriges Regierungsjubiläum.

„Mama,“ sagte die kleine Prinzessin Viktoria, als ihr im Alter von zwölf Jahren die Aufgabe gestellt wurde, eine genealogische Tafel des englischen Herrscherhauses zu entwerfen, „ich kann nicht sehen, wer nach Onkel Wilhelm kommt, es sei denn, daß ich selbst es wäre.“

Bis dahin geflissentlich in Unkenntniß darüber gehalten, was für eine hohe Stellung einmal zu bekleiden ihr beschieden war, sollte sie jetzt nach dem Tode Georg’s IV. und der Thronbesteigung ihres schon bejahrten Onkels Wilhelm IV. als nächste Thronerbin nicht länger im Unklaren über ihre Zukunft bleiben. Das war der Grund gewesen, warum man ihr die Aufgabe gestellt hatte.

„Ich will gut sein,“ waren die kindlichen Worte, mit welchen die Prinzessin, nachdem sie sich von ihrer ersten Ueberraschung erholt, diese Kunde entgegennahm, und wer wagte ihr nachzusagen, daß sie das Versprechen ihrer Kindheit nicht ihr ganzes, viel bewegtes Leben hindurch treulich gehalten hätte!

Vor der Hand machte indeß diese Eröffnung weiter keinen Unterschied in der ganzen Lebensweise der jungen Prinzessin. Sie blieb nach wie vor der Obhut ihrer Gouvernante anvertraut und genoß daneben unter der Leitung der Herzogin von Northumberland den Unterricht der besten Lehrkräfte des Landes. Ihr Vater, der Herzog von Kent, war bereits gestorben, als sie selbst erst acht Monate alt war. Doch wachte ihre Mutter, eine Koburg’sche Prinzessin, die in erster Ehe mit dem Fürsten von Leiningen vermählt gewesen, mit wahrhaft mütterlicher Fürsorge über das einzige Kind dieser Ehe, das unter bescheidenen Verhältnissen, aber geistig und körperlich auf das Gedeihlichste aufwuchs. Nach wie vor blieben Mutter und Kind im Kensington-Palast, dem unscheinbaren Rothsteingebäude in Kensington-Gardens, in dem die Prinzessin geboren war, wohnen, und hier war es auch, wo sie, eben zur Jungfrau herangewachsen, im Alter von achtzehn Jahren sich zuerst als Königin begrüßt sah.

Königin Viktoria von England bei ihrem Regierungsantritt.

Es war am 20. Juni 1837 in der Nacht um halb drei Uhr, daß Wilhelm IV. zu Windsor das zeitliche segnete. Der Erzbischof von Canterbury und der Lord Chamberlain, die am Todtenbette des Königs gestanden, brachen unverzüglich nach London auf und fanden um fünf Uhr Morgens im Kensington-Palast noch Alles in tiefem Schlafe. Nur mit Mühe konnten sie die Dienerschaft veranlassen, die nunmehrige Königin zu wecken, die sie schließlich empfing, nachdem sie nur einen Shawl über ihr Nachtgewand geworfen, ein paar Pantöffelchen an die Füße gezogen, während ihr Haar noch aufgelöst über ihre Schultern wallte. So empfing sie ihre erste Huldigung als Königin. Bei den ersten Worten der Ansprache „Your Majesty“ rannen ihr die hellen Thränen über ihre jungfräulichen Wangen, doch mit Würde und Fassung bot sie ihre Rechte zum Handkuß dar. Diese liebliche Bescheidenheit der Jungfrau, gepaart mit der Würde der Königin, kennzeichneten bald das ganze Auftreten ihrer Majestät, sie eroberten ihr schnell die Herzen ihrer Unterthanen, die Herzen der ganzen Welt. Einer solchen Jungfrau als Königin zu huldigen, die ja „in England herrscht, ohne zu regieren“, mußte allerdings einen ganz besonderen Reiz haben, einer Jungfrau, die überdies mit den gewinnendsten Charaktereigenschaften noch ein überaus anmuthiges Aeußere verband, wie unser Bild, das die Königin darstellt, wie sie vor 50 Jahren aussah, leicht erkennen läßt.

Am 28. Juni fand die officielle Krönung in der Westminsterabtei unter großem Pomp und Gepränge statt: ein langwieriges Ceremoniell, wie es mit geringfügigen Aenderungen seit 979 bei allen englischen Krönungsfeierlichkeiten in Brauch gewesen. Die nächste große öffentliche Ceremonie, welche die junge Königin abzuhalten hatte, war die Eröffnung des Parlaments in eigener Person. Englische Souveräne lassen zu diesem Behuf die Abgeordneten nicht zu sich in den Palast kommen, sondern begeben sich ihrerseits in Begleitung ihres ganzen Hofstaats und mit Aufwendung allen erdenklichen Pomps in das Abgeordnetenhaus von Westminster. Bei dieser Gelegenheit wird der Wagen des Souveräns allemal auch von acht der krémefarbenen Staatspferde der „Hanoverian horses“ gezogen, die das Haus Hannover mit nach England gebracht hat und die in echter Rasse jetzt nur noch in den Gestüten von Windsor und von Herrenhausen bei Hannover anzutreffen sind.

Diese erste Procession der Königin Viktoria nach dem Westminsterpalast war ein außerordentlicher Triumphzug, und Napoleon III., der damals als eine völlig unbekannte Persönlichkeit in London sich aufhielt, äußerte sich noch lange Jahre nachher mit Enthusiasmus dahin, daß keine Ceremonie jemals einen solchen Eindruck auf ihn gemacht habe, als der Anblick „dieses jungen Mädchens auf dem Thron, das die Rede mit lieblicher, silberreiner Stimme las – so einfach und doch so majestätisch.“

Wenige Jahre später fand ihre Verlobung mit dem Prinzen Albert statt, dem jüngeren Bruder des heutigen Herzogs von Koburg-Gotha. Bei weiblichen Souveränen ist es nicht statthaft, daß der Herr sich herausnimmt, den Antrag zu machen. Das muß von Seiten der Herrscherin selbst ausgehen, und wohl glauben wir es ihrer Majestät, daß es, wie sie in ihrem Tagebuch anführt, das heikelste Unterfangen ihres ganzen Lebens gewesen, ihrerseits dem Prinzen Herz und Hand anzutragen. Von nun ab aber ordnete sie sich auch, wo sie nur konnte, wo es ihre Stellung als Königin nur irgend zuließ, in jeder Hinsicht dem Manne unter, der ihr ganzes Vertrauen, ihr ganzes Herz besaß – und verdiente, den sie, als ihn ein frühzeitiger Tod ihr jählings entrissen, noch auf einem seiner Denkmale als „Albert den Großen und Guten“ bezeichnete. Er war in der That ein außerordentlicher Charakter, der in seiner schwierigen Stellung als ausländischer Prinz und zugleich nächststehender Rathgeber der Königin und auch selbständiger, bahnbrechender Reformator viel Gutes schaffte, aber selbstverständlich auch viele Neider und Widersacher hervorrief. Ja, es läßt sich nicht leugnen, sein Adoptiv-Vaterland hat eigentlich erst nach seinem Tode diesen hervorragenden Mann zu schätzen gelernt. Prinz Albert starb im Jahre 1861, aber bis auf diesen Tag hat sich seine Wittwe von dem Schlage, der ihr dadurch zugefügt worden, nicht wieder erholt. „Keine Freude mehr in dieser Welt – Alles todt,“ schrieb sie damals in ihr Tagebuch. Diese Anschauung vom Leben hat sie seitdem nicht wieder verlassen. Neben mancherlei anderen Trübsalen hat es seit jener Stunde auch an freudigen, an erhebenden Ereignissen im Leben der Königin nicht gefehlt, aber nichts vermochte sie aus der Zurückgezogenheit ihres Wittwenstandes wieder hervorzuziehen. Nur wo die Pflicht als Herrscherin es ihr unabweisbar gebietet, tritt sie an die Öffentlichkeit; sonst überläßt sie die Abhaltung aller Festlichkeiten irgend welcher Art freudigen Charakters ihrem Erstgebornen, dem jetzt höchst populären Prinzen von Wales, und seiner vielleicht noch beliebteren Gemahlin, einer dänischen Prinzessin, und den übrigen Mitgliedern ihrer zahlreichen Familie. Sie selbst kommt nur zwei oder drei Mal im Jahre in die ihr so verleidete Reichshauptstadt, und es giebt selbst viele, viele Londoner, wenn sie nicht gar die Mehrzahl ausmachen, die ihre Königin nie von Angesicht zu Angesicht gesehen haben.

Viele ihrer Unterthanen sind über diese andauernde Abgeschiedenheit, in der das Staatsoberhaupt sich hält, auch geradezu ungehalten. Daß aber die Loyalität der Engländer im Allgemeinen außer allem Zweifel steht, davon zeugten schon die vielfachen Vorbereitungen, die seit Monden gemacht worden, das seltene Fest des fünfzigjährigen Herrscherjubiläums, das am 20. Juni stattfindet, in angemessener Weise zu feiern. An diesem Tage wird sich die hohe Frau kaum ihrer Hauptstadt entziehen können. Und so wird sie sich in festlicher Procession durch die Straßen von London abermals nach der Westminsterabtei begeben, wo ein feierlicher Gottesdienst stattfindet, der mit dem sich daran schließenden festlichen Empfang im Buckinghampalast den Hauptpunkt der ganzen Feier bilden wird. Aber die Unterthanen ihrer Majestät wollen des Tages auch in mehr dauernder Form gedenken. Zur Erinnerung an den Tag werden mancherlei mildthätige sowie gemeinnützige Stiftungen ins Leben gerufen. Das vornehmlichste Denkmal aber soll das Kolonialinstitut ausmachen, eine Anstalt, die mehr oder weniger eine dauernde Ausstellung aller möglichen Erzeugnisse aller britischen Besitzungen enthalten und eine engere Verbrüderung der vielen Millionen Unterthanen der Königin zum Zweck haben soll. Aber auch in Deutschland wird die Freude dieses Tages lebhaften Wiederhall finden, ist doch die älteste Tochter der hohen Jubilarin die Gemahlin des Kronprinzen des Deutschen Reiches, die, was echten Familiensinn und Herrschertugend anbelangt, ihrer Mutter gleicht. Wilh. F. Brand.     




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