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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

schuldig bin und Ihnen bereitwillig zolle, gestatte ich mir die Bemerkung, daß ich ganz entschieden den Wunsch hege, es möge ausschließlich meinem Ermessen überlassen bleiben, ob und worüber ich mich zu schämen habe. Bestehen Sie darauf, darüber Betrachtungen anzustellen, so bitte ich um die Erlaubniß, mich entfernen zu dürfen. Mein Haus ist das Ihrige, aber ich mag mich auch bei Ihnen nicht schlecht behandeln lassen. Sie entschuldigen gütigst …"

Er erhob sich, aber er hatte nicht die Absicht, zu gehen; denn es lag ihm am Herzen, von seiner Schwester zu hören; und um die Unterredung nicht abzubrechen, beging er den Fehler, dieselbe durch eine Frage fortzusetzen:

„Worüber sollte ich mich denn schämen?“

Dies öffnete endlich die verschlossenen, zum Ueberfluthen gefüllten Schleusen der verheerenden Onslow’schen Beredtsamkeit. Rawlston verstand zunächst kaum, was ihm gesagt wurde: so überwältigend drang der Wortschwall auf ihn ein. Er blickte hilflos von rechts nach links und vom Fußboden nach der Zimmerdecke; dann sank er in den Sessel zurück, legte beide Hände auf der Brust zusammen, stützte das Kinn darauf und versuchte, den Inhalt des ihn umwogenden Wortgetöses zu erfassen. Es gelang ihm endlich, den Faden zu finden, und nun kam Klarheit in seine verwirrten Sinne. „Worüber er sich schämen sollte?“ Frau Onslow nahm nicht Anstand, es ihm klar und deutlich zu sagen. War nicht Edith ein edles Wesen von vollkommener Herzensgüte, hellem Verstande, makelloser Reinheit? War sie nicht jung, schön, reich, klug, gut – Alles in sich vereinigend, was ein Mädchen liebenswürdig machen kann? War sie nicht seine, James Rawlston’s, leibliche Schwester? Hatte sie je in ihren Pflichten dem Bruder gegenüber gefehlt? War sie nicht ganz auf ihn angewiesen, und hatte er dies nicht böswillig verkannt, indem er sie, die alleinstehende Jungfrau, in rauher Weise aus ihrem Heim, seinem Hause verstoßen hatte?

Rawlston schlug laut die Hände zusammen und blickte gen Himmel, als erwarte er eine höhere Einmischung, die ihn gegen diese böse und falsche Anklage schützen sollte.

„Ich Edith verstoßen! – Aber Frau Onslow, FrauOnslow! Edith war es ja, die gegen meinen Willen davonlief, die mir drohte, aus dem Fenster zu springen, wenn ich sie daran verhindern wollte.“

„Sehr richtig, ganz richtig!“

Frau Onslow wäre nicht die stets siegreiche Wortkämpferin gewesen, wenn ein Bischen erbärmlicher Logik sie erschüttert hätte.

„Sie erwarteten wahrscheinlich, daß Edith ruhig mit anhören sollte, wie Sie ihren künftigen Gemahl beschimpften.“

Rawlston war Frau Onslow nicht gewachsen; er folgte gehorsam, wohin sie ihn führte.

„Frau Onslow, gestatten Sie mir zwei Worte.“

„Ich höre Sie seit einer Stunde an, ohne Sie zu unterbrechen.“

„Liebe Frau Onslow, es ist unmöglich. daß meine Schwester sich mit einem Manne verlobe, der unter dem Verdacht steht, eine Veruntreuung begangen zu haben.“

„Wer verdächtigt ihn? – Sie! Das ist ja eben das Schändliche!“

„Sie irren sich. der Polizei-Inspektor hat den Verdacht ausgesprochen.“

„Und Sie haben sich diesen Verdacht sofort angeeignet. Es ist empörend!“

„Aber, gnädige Frau!“

„Wie lange kennen Sie Herrn Büchner?“

„Seit sechs Jahren.“

„Haben Sie jemals Ursache gehabt, an seiner Ehrlichkeit zu zweifel?“

„Nein.“

„Und ein Polizeimensch, der die Welt nur von der schwärzesten Seite kennt, der überall Diebe und Mörder wittert, der Herrn Büchner nie gekannt hat und der plötzlich, Gott weiß weßhalb! Ihr Vertrauensmann geworden ist, Ihr intimer Freund so zu sagen – der verdient mehr Glauben als Ihre eigene, durch lange Jahre befestigte, persönliche Erfahrung von der Ehrenhaftigkeit eines unbescholtenen Mannes? O Herr Rawlston! Ist das edel? Ist das gerecht? Ist das nicht im Gegentheil abscheulich ungerecht? Einen Menschen des Diebstahls zu zeihen, einfach weil keine materielle Möglichkeit vorliegt, daß er den Diebstahl begangen habe! Was spricht denn gegen Herrn Büchner? Daß er in Ihrem Hause wohnt, daß er den Kassenschlüssel besitzt. Wohnen Sie nicht auch hier, besitzen Sie nicht ebenfalls einen Schlüssel zur Kasse? Weßhalb richtet des Polizisten Verdacht sich nicht auf Sie?“

„Das wäre Unsinn!“

„Ja, das wäre Unsinn, in der That! Das Andere aber, die Verdächtigung eines unbescholtenen Mannes, wissen Sie, was das ist? – Eine Schlechtigkeit!“

„Gnädige Frau, ich fürchte, wir werden uns auf diese Weise nicht verständigen.“

„Daran habe ich vom ersten Augenblick an verzweifelt. Auch bin ich deßwegen nicht gekommen, sondern nur, um einen Auftrag meiner jungen Freundin auszuführen.“

„Und der wäre?“

„Ihre Schwester wünscht, daß unter meiner Leitung gewisse Sachen zusammengepackt werden, deren sie bedarf, um sich bei mir häuslich einrichten zu können.“

Rawlston dachte einen Augenblick nach. An eine sofortige Versöhnung mit seiner Schwester war nicht zu denken; ihr Charakter und seine Gefühle für sie schlossen den Gedanken aus, sie zwingen zu wollen, gegen ihren Willen in seinem Hause zu bleiben. Edith würde bei Frau Onslow, in der sie eine mütterliche Freundin erblickte, wohl aufgehoben sein. Die Sache würde zu mancherlei Gerede Veranlassung geben; aber daran war nun einmal nichts zu ändern.

„Wie meine Schwester wünscht und Sie befehlen,“ sagte Rawlston ruhig. „Aber eine Bedingung muß ich stellen. Edith darf mit Herrn Büchner nicht zusammentreffen. Ich verbiete es ausdrücklich!“

„Das verbieten Sie, Herr Rawlston? Und mit welchem Rechte, wenn ich fragen darf? – Sind Sie Edith’s Vormund? Sie ist einundzwanzig Jahre alt, soviel ich weiß, und ihre eigene Herrin. Sie haben jedes Recht über das arme Kind verloren, ich aber lasse mir keine Vorschriften von Ihnen machen und übernehme allein die Verantwortlichkeit für das, was Edith in meinem Hause thun und lassen wird.“

„Sie wollen also einen Bruch zwischen zwei Geschwistern herbeiführen, die stets in Frieden und Eintracht zusammen gelebt hatten. Es ist nicht christlich, was Sie da thun.“

„Ueber meine Christenpflichten brauche ich mich von Ihnen, Herr Rawlston, nicht belehren zu lassen; darüber werde ich mich mit meinem Gewissen verständigen!“

Die Erbitterung auf beiden Seiten hatte nun ihren Höhepunkt erreicht.

„Ihr gehorsamster Diener!“ sagte Rawlston und verließ das Zimmer mit einer Verbeugung. Er war Amerikaner, und seine Erziehung machte es ihm verhältnißmäßig leicht, der älteren Dame gegenüber die gesellschaftlichen Formen unter allen Umständen zu wahren. – Frau Onslow fand dies ganz in Ordnung und wußte dem höflichen Mann keinen Dank für seine Mäßigung. Bitterböse entfernte sie sich, um Ediths Auszug aus dem „ungastlichen“ Hause so schnell wie möglich zu bewerkstelligen.

Während sie damit beschäftigt war, setzte Rawlston, in einem Zustande großer Aufregung, ein kurzes Schreiben an Herrn Büchner auf. Dem unglücklichen Kassirer wurde darin in dürren Worten gesagt, die Herren Rawlston & Co. verzichteten für die Zukunft auf seine Dienste. Er werde deßhalb ersucht, die von ihm geführten Bücher und den Kassenbestand im Laufe des Tages an Herrn Waltice abzugeben.

Nachdem Rawlston diesen Brief geschrieben hatte, schloß er ihn in sein Pult ein. Er wußte, daß damit die Aechtung Büchner’s unterzeichnet war, und er zauderte, das Schriftstück abzusenden. Er saß eine Weile grübelnd da. Büchner war ihm sechs Jahre lang als ein treuer, zuverlässiger Diener seines Hauses erschienen. Vor einer Woche noch hatte er ihn, wenn auch nicht mit Freuden, denn er wollte für seine Schwester höher hinaus, so doch artig und höflich als seinen zukünftigen Schwager begrüßen wollen; und nun wies er ihm die Thür wie einem Unwürdigen. – Frau Onslow’s Worte fielen ihm ein: sollten die sechs Jahre persönlicher Erfahrung von Büchner’s Charakter nicht schwerer wiegen als das Urtheil des Polizeibeamten? – Er wurde immer nachdenklicher. Alles, was in seiner Natur vornehm war, sträubte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_455.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)