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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

No. 29.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der lange Holländer.

Novelle von Rudolph Lindau.
(Fortsetzung.)


3.

Während der nächsten Tage gingen allerhand Veränderungen im Rawlston’schen Hause vor, mit denen sich die öffentliche Meinung in Shanghai lebhaft beschäftigte: Edith war zu Frau Onslow gezogen. Sie machte und empfing keine Besuche. Man sah sie von Zeit zu Zeit neben ihrer Freundin im Wagen spazieren fahren. Die Männer grüßten sie ehrerbietig und sie dankte ruhig und vornehm.

Georg Büchner hatte sich im amerikanischen Viertel am äußersten Ende der fremden Niederlassung eine kleine Wohnung gemiethet, in der er zurückgezogen lebte. Die Meinung der Kolonie über ihn war getheilt. Die Mehrzahl seiner ehemaligen Genossen war der Ansicht, daß er ein ehrlicher Mann sei; aber hier und da wurden die Augenbrauen in die Höhe gezogen, die Köpfe geschüttelt und die Achseln gezuckt. Ob Büchner nun ein ehrlicher Mann oder ein Dieb war – seinen unangefochtenen guten Namen hatte er eingebüßt. Was er darunter litt, konnte Niemand sagen, denn er sprach nicht davon; aber wer ihn erblickte, der konnte in dem gramverstörten Gesichte deutlich lesen, daß er einen unglücklichen Menschen vor sich sah.

Büchner hatte sich nicht von der Welt abgeschlossen. Mehrere seiner Freunde pilgerten nach seiner Wohnung hinaus und besuchten ihn und sprachen zu ihm mit einer künstlichen Unbefangenheit, die bei den rauhen Männern etwas Rührendes hatte. „Wollen wir nicht eine Partie Kegel machen ? – oder einen gemüthlichen Rubber? – Reiten Sie heute nicht aus?“ Büchner schüttelte auf solche Anfragen stumm das Haupt. Er ging zu Niemand, er zeigte sich an keinem öffentlichen Orte. Wer ihn sehen wollte, der mußte ihn aufsuchen. Unter Denen, die dies thaten, erschien Keiner häufiger, als sein ehemaliger Kollege im Hause Rawlston, der Seideninspektor Prati. Büchner hatte gar nicht gewußt, daß er einen so guten Freund an dem kleinen Italiener habe, und empfand es dankbar, daß dieser sich in der Stunde der Noth treu zeigte.

Prati war der Einzige, der sich nicht Mühe gab, die Gedanken zu verhehlen, mit denen Alle zu der Zeit über Büchner’s Schwelle traten. Er sprach offen mit diesem von dem nahe bevorstehenden Processe, in dem Büchner der Unterschlagung verdächtig vor den Schranken des Gerichts erscheinen sollte.

„Nehmen Sie sich doch die Sache nicht so zu Herzen, Büchner! Sie sind unschuldig. Das wissen Sie, das weiß alle Welt. Niemand, um den Sie sich zu kümmern haben, zweifelt an Ihrer Unschuld.“

„Rawlston!“ warf Büchner dazwischen.

„Ach was, Rawlston! Der weiß ebenso gut wie ich, daß Sie ein Ehrenmann


Marlitt’s Arbeitszimmer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 469. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_469.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2023)