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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

für unsere Pflicht, ihn ganz besonders zu betonen. Nur von ihm aus läßt sich das treue langjährige Zusammenwirken der Marlitt mit der „Gartenlaube“ richtig beurtheilen. Mag Vielen der Titel eines „Volksblattes“ nicht hoch genug erscheinen; wir sind stolz auf ihn und dankbar einem Jeden, welcher uns hilfreiche Hand bietet, diesen Titel wirklich zu verdienen.

Dankbar sind auch der Marlitt Millionen unserer Leser und Leserinnen für die Stunden der edlen, das Herz erwärmenden und die Seele erfreuenden Unterhaltung, die sie ihnen seit mehr als zwanzig Jahren bereitet, und sie werden gewiß mit warmer Theilnahme die Lebensschicksale derjenigen verfolgen, die jahraus jahrein als trauter, herzlich willkommener Gast in ihrem Hause erschienen war.




Das Schicksal war offenbar in freundlichster Stimmung, als es Eugenie Marlitt ins Leben rief; denn sie wurde mit fürstlichen Ehren empfangen. An jenem 6. December 1825 feierte das Regentenhaus Schwarzburg-Sondershausen das jährlich freudig begrüßte Geburtsfest des damals regierenden Fürsten, Großvaters des jetzt regierenden, und die Festfanfaren schmetterten vom Rathhausbalkon hinüber zu dem Hause Nr. 7 am Markte, wo in demselben Augenblick Frau John ihr jüngstes Töchterchen der Welt gab.

Diese Welt weiß nunmehr, daß das Kind sich solcher Ehre allezeit würdig gehalten hat. Stammte es doch aus einer Familie, in welcher Kunstbegabung zu den persönlichen Erbschaften gehörte. Der Vater, Ernst John, von Haus aus Kaufmann, widmete sich mit Vorliebe der Malerei. Kunstbegabt war auch sein Sohn Hermann; davon zeugt schon das schöne Gipsrelief, dessen Holzschnittreproduktion unsere heutige Nummer schmückt (vergl. S. 476), und welches uns die jugendlichen Züge der Marlitt zeigt. Sie war in der That eine reizende Erscheinung, die kleine Eugenie mit dem schwarzumlockten Gesichtchen und den Schelmengrübchen in den Wangen. Höhere Beachtung erregte jedoch ihr geistiges Aufblühen. Im achten Jahre hatte sie die erste Klasse der Mädchenschule erreicht. Sie war der Stolz des alten Herrn Rektor Wagner, seine beste Schülerin, deren deutsche Aufsätze ihn eben so erfreuten, wie die formvollendeten Gedichte, mit welchen sie damals besondere Vorkommnisse, wie z. B den Tod ihres Kanarienvogels, auszeichnete. Noch einflußreicher, als Rektor Wagner, wurde Kantor Stade auf das Schicksal des jungen Mädchens. Er konnte seiner Entzückung über die wundervolle Stimme Eugeniens keinen besseren Ausdruck verleihen, als daß er ihr Gelegenheit gab, schon vom achten Jahre an in Koncerten und bei anderen Musikfestlichkeiten öffentlich zu singen. Auch der Charakter des Kindes zeigte in frühester Zeit besondere schärfer ausgeprägte Eigenschaften, und zu diesen ist vor Allem die Begierde nach dem Aufsuchen und Ergründen von Geheimnißvollem und Unheimlichem zu rechnen. Da gab es bei Arnstadt einen damals wüstliegenden Garten – die „Wuchelei“ genannt; alle Kinder gingen scheu daran vorüber, Eugenie bahnte sich einen Eingang durch die Hecke und weilte am liebsten bis in die Dämmerung in der verrufenen Einsamkeit; eben so suchte sie um solche Zeit oft ganz allein den Friedhof auf, als kämpfte sie besonders gern gegen das Gruseln der Furcht. Und wo ein Geheimniß winkte, das mußte erforscht werden, wie jenes runde Fensterloch an dem sogenannten steinernen Hause in der Kohlgasse. Dort, auf dem großen Hausplatz ihrer damaligen Elternwohnung, war in einer Ecke ein Bretterverschlag angebracht, dessen Zweck Niemand kannte. Eugenie entdeckte ein rundes Loch in der Mauer, und nun gab’s kein Halten mehr, Vater John mußte so viel Bretter von dem Verschlag abreißen, daß sein Töchterlein durch die Oeffnung in den dunkeln Raum hinabgelassen werden konnte. Dort fand sie ein Beil, einen Strick und ein Häufchen Papiere. Es war ein werthloser Fund; aber sie hatte ihre Forschung durchgesetzt. Finden wir nicht dichterische Ausschmückungen solcher Situationen in ihren Werken wieder?

Eugenie war Nahe daran, aus den kurzen Kleidern in die langen hineinzuwachsen, als Vater John es nicht länger ertragen konnte, das Talent seiner Tochter der schulgerechten Ausbildung entzogen zu sehen. Es war 1841, wo, wie damals fast jedes Jahr, der fürstliche Hof von Sondershausen einige Sommermonate im Schlosse zu Arnstadt zubrachte. Auch das Theaterpersonal folgte dem Hof. Diese Gelegenheit benutzte Vater John, um der jugendfreudigen und kunstverständigen Frau Fürstin Mathilde sein Kind zu empfehlen. Noch an demselben Tage erschien im Aufträge der Fürstin der Bassist Krieg von der fürstlichen Oper bei Johns, um Eugeniens Stimme zu prüfen. Das einzige Instrument im Hause war ein Spinett, dessen dünne Tönchen Krieg zum Nachsingen anschlug, – aber schier erstaunt fuhr er zurück, als aus dem zierlichen Körper Eugeniens eine Tonfülle hervorquoll, die in allen Höhen und Tiefen ihre Glockenreinheit bewahrte. Krieg’s Bericht und das persönliche Erscheinen des Mädchens vor der Fürstin machten diesen Tag zu einem Tag der Freude für das ganze John’sche Haus. Eugenie kam zunächst auf die höhere Mädchenschule von Sondershausen; hier gab sie sich neben Klavier- und Gesangunterricht auch geschichtlichen und Sprachstudien mit stürmischem und erfolgreichem Eifer hin. Vollendet hat sie ihre Kunststudien in Wien, wo sie in der Fr. von Huber’schen Familie freundliche Aufnahme gefunden hatte.

Wenn die rastlosen Anstrengungen Eugeniens und die Bemühungen ihrer Lehrer das Ziel erreicht hätten, welches offenbar dem Geiste der Sängerin vorschwebte, so würde es ein Genuß sein, nach den sorgsam geführten und erhaltenen Tagebüchern derselben den schweren Weg zu ihren Triumphen zu schildern. Das Schicksal hatte es anders verhängt. Es stellte sich ein Gehörleiden ein, das zwar nicht, wie vielfach behauptet wurde, in Taubheit ausartete, aber doch störend genug wirkte, um der Künstlerin jede fernere Bühnenleistung unmöglich zu machen. Sie war in ihrer kurzen Strebezeit in Sondershausen, Leipzig, Wien, Graz und Lemberg aufgetreten; sie kämpfte rastlos gegen ihren ärgsten Feind, das Lampenfieber, und sie wäre sicher seiner Herr geworden – ohne den tief niederschmetternden Schlag.

Als der Kunsttempel sich für die Sängerin geschlossen hatte, rief die edle Fürstin Mathilde ihren niedergebeugten Schützling in ihre Nähe: Eugenie wurde Vorleserin und als solche auch Reisebegleiterin der Fürstin. Ihr scharfes Auge, das schon während ihrer Kunstreisen ein schönes Stück Welt und Menschheit gesehen, fand nun erst recht Gelegenheit, Menschenkenntnis und Lebenserfahrung zu sammeln. Sie begleitete die Fürstin ins Hohenlohesche, nach Oehringen und Friedrichsruhe, nach München, in die oberbayerischen Berge, zum Schliersee etc., und Alles, was sie an Eindrücken sammelte, half ihr, die innere Verbitterung niederzukämpfen, – aber nicht ganz. Das Herz bedurfte einer Ableitung für das, wovon es voll war, und da kam ihr die lyrische Dichtkunst zu Hilfe. In den Jahren 1854 bis 1856 legte sie in einem starken Goldschnittband, der die Inschrift „Herbarium“ trug, Vieles von dem nieder, was ihr Herz bedrängte. Aus dieser Zeit stammt auch das folgende Gedicht:

Beim Wiederfinden meiner Gedichte aus der Kinderzeit.

Ich fand ein altes Buch als Ruhestatt,
Drin haben meine Lieder lang gelegen;
Es quoll aus dem vergilbten, alten Blatt
Mir wahrer Maienblüthenhauch entgegen.
Mein krankes Herz, vom steten Ringen matt,
Durchbebte da ein längstvergess’nes Regen.
Es taucht’ empor mein einstig Hoffen, Träumen
Aus der Erinn’rung dunkelgrünen Räumen.

Die Geister wallten durch die Dämmernacht
Von längst dahingeschied’nen Lebensplänen.
O junges Herz, in deiner Blüthenpracht,
Du nahmst für echtes Gold dies falsche Wähnen!
Es wandelt stets des Schicksals finstre Macht
Heimtückisch jeden Wunsch zu bittern Thränen.
Die Jugendträume, lieblich und erhaben, –
Ich hab’ sie alle still und leis begraben.

So ist, was kühn das Herz gewollt, zerschellt,
Der Hoffnung Grün umhüllt mit Trauerflören;
Es glimmen unter jener Trümmerwelt
Nur Wünsche noch, die nicht der Welt gehören,
Nicht jener Macht, die grausam sich gefällt
Im ewigen Vernichten und Zerstören.
Ruh’ aus, empörtes Herz, in dem Gedanken,
Daß sich der Hoffnung Zweig’ ins Jenseits ranken.

Trotz dieser Seelenkämpfe bildet der Aufenthalt Eugeniens am Hofe der Fürstin die schönste Zeit ihres Lebens. Der Glanz dieser farbenprächtigen Erinnerungen verschönte noch die letzten Tage ihres Lebens, und sie erzählte gern von ihrer hohen Gönnerin, mit welcher sie noch im Briefwechsel stand, als sie den Hof längst verlassen und in Arnstadt eine neue Wirkungsstätte gesunden hatte.

Hier im Kreise ihrer Familie, im Hause ihres bereits verheiratheten Bruders Alfred John, wo sie die liebevollste Aufnahme

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