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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Junior mess“ (Tisch für die jüngeren Mitglieder des Hauses) oder gingen nach dem nahegelegenen Klub, wo sie Freunde und Bekannte antrafen. Die einsamen Mahlzeiten Büchner’s wurden bald vielfach besprochen. „Er trinkt,“ so hieß es. – Man bedauerte seine arme Frau, die natürlich darunter zu leiden haben mußte, und im Verhältniß, wie die Sympathie der Gemeinde für diese wuchs, verminderte sich das Wohlwollen für Büchner. Dazu kam, daß dieser in schroffer Weise gegen die ersten Regeln der Höflichkeit, die in der kleinen Kolonie streng beobachtet wurden, verstoßen hatte. Die verheiratheten Frauen und Männer warteten noch immer vergeblich auf den Antrittsbesuch der Neuvermählten. Diese ließen sich nirgends blicken. Frau Onslow, die überall umher kam und sich angelegen sein ließ, freundliche Gesinnungen für das junge Paar zu erwecken, bemühte sich vergebens, den groben Etiquettefehler damit zu entschuldigen, daß Büchner noch nicht wohl genug sei, um in Gesellschaft gehen zu können. Man bezeichnete das als eine leere Ausrede. Ein Mann, der täglich seinen Geschäften obliegen könne, wäre auch in der Lage, seinen gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen. Er wäre das schon seiner Frau schuldig! Aber es sei klar, daß er sich nicht sonderlich um deren Wohlergehen kümmere. Früher wäre es eine Freude gewesen, sie anzutreffen, Alles an ihr hätte damals gelacht und gelebt, jetzt thäte es Einem weh, wenn man ihr vergrämtes Gesichtchen sähe.

Büchner bekam dies und manches Aehnliche durch Frau Onslow wieder zu hören, denn wenn seine Freundin ihn auch den anderen Mitgliedern der Kolonie gegenüber entschuldigte, so theilte sie in ihrem Herzen vollkommen die Ansicht von Büchner’s Anklägern und bemühte sich, diesen zu veranlassen, das Versäumte nachzuholen.

„Ich begreife nicht,“ sagte sie, „daß Sie den Leuten die kleine Genugthuung nicht geben wollen. Setzen Sie sich einen Nachmittag in meinen Wagen und machen Sie die Runde von Shanghai: in drei Stunden und mit einem oder zwei Dutzend Visitenkarten haben Sie Alles gethan, was man von Ihnen verlangt.“

„Später!“ antwortete Büchner kurz.

Frau Onslow besaß die Ausdaner großer Redner. Sie wurde nicht müde, wiederholt auf denselben Gegenstand zurückzukommen, bis Büchner eines Tages ungeduldig wurde.

„Ich weiß nicht, weßhalb Sie mich zwingen wollen, zu den Leuten zu gehen, die mich doch nur aus Gnade und Barmherzigkeit empfangen. Verwünscht sei ihr Mitleiden! Oder verlangt Edith etwa danach.“

Edith äußerte überhaupt nur noch selten einen Wunsch. Sie war eine zurückhaltende, stille Frau geworden, die über nichts klagte, die auf Frau Onslow’s Frage über die Ursachen ihrer Traurigkeit ausweichende Antworten gab, aber die schon bei verschiedenen Gelegenheiten von ihrer alten Freundin mit rothgeweinten Augen angetroffen worden war.

„Was fehlt Dir?“ fragte Frau Onslow. „Habe doch Vertrauen und sage mir, was vorgeht. Ich bin eine alte erfahrene Frau, vielleicht kann ich helfen.“

„Es fehlt mir nichts,“ antwortete Edith. „Ich bin nur traurig, weil ich glaube, daß Georg kränkelt. Der große Mann ißt nicht mehr als ein kleines Kind, und dann kann er des Abends nie zur Ruhe kommen, und des Morgens, wenn er aufsteht, ist er todtmüde und niedergeschlagen. Ich weiß nicht, wie das enden soll. Ich thue ihm zu Liebe, was ich ihm an den Augen absehen kann, und er ist so dankbar dafür, so dankbar, liebe Frau Onslow! Aber ich sehe wohl, daß ich ihn nicht glücklich mache. Ist das nicht Grund genug, um traurig zu sein?“

Die Kolonie von Shanghai lernte bald, sich ohne Herrn Büchner und seine Frau behelfen. Hier und da fiel noch ein unfreundliches Wort über ihn, ein Ausdruck des Bedauerns über sie, aber im Allgemeinen hörte man auf, sich um die Beiden zu kümmern. Langsam jedoch, einer schleichenden bösen Krankheit gleich, trat der alte Verdacht gegen Büchner wieder hervor. Die Gesellschaft suchte nach einem Grund, um den verschmähen zu können, der sich so wenig aus ihr machte, und so war es wohl zu erklären, daß manchmal eine entfernte Andeutung laut wurde: ob Büchner nicht vielleicht ein schlechtes Gewissen habe, da er sich in der Gesellschaft anständiger Leute nicht mehr wohl fühle. Es waren die Böswilligen allein, die so sprachen, aber es fand sich auch unter den Gutmüthigen Niemand, um den Abwesenden zu vertheidigen. Er hatte eben nach und nach die Sympathien seiner Mitbürger verloren.

Frau Onslow und Prati machten sich deßwegen große Sorge und unterhielten sich häufig und lange über das Los ihrer jungen Freunde. Als die Beiden eines Abends zusammensaßen und das für sie unerschöpfliche Thema wieder aufgenommen hatten, sagte Frau Onslow nach längerem Nachdenken:

„Wissen Sie, Herr Prati, was Büchner fehlt?“

Dieser blickte die Sprecherin etwas verwundert an, denn seit einer Stunde hatten sich Beide den Kopf über diese Frage zerbrochen.

„Ich will es Ihnen sagen,“ fuhr Frau Onslow mit großer Bestimmtheit fort, „es ist mir jetzt klar geworden: Büchner fühlt, daß er in den Augen Mancher doch noch nicht wieder so rein dasteht, wie vor dem unglücklichen Diebstahl. Er wird erst wieder ruhig und froh werden, wenn man den Uebelthäter entdeckt hat. Leider wird das mit jedem Tage unwahrscheinlicher. Die Polizei hat längst aufgehört, auf ihn zu fahnden; selbst melden wird sich der Elende natürlich nicht; daß ein Zufall die Wahrheit ans Licht bringen sollte, ist in hohem Grade unwahrscheinlich – und so fürchte ich denn, daß Büchner sich hier nie wohl fühlen wird. Wir sollten deßhalb darüber berathen, ob es nicht besser wäre, ihn aus einer Umgebung zu schaffen, wo jeder Stein ihn an die dunkle Sache erinnert, und wo er in jedem Gesichte eine stumme Anklage liest. Glauben Sie mir, er traut in dieser Beziehung Niemand: weder Ihnen, noch mir, noch meinem Mann; er traut nicht einmal seiner Frau. Erinnern Sie sich, daß er wiederholentlich Anspielungen auf deren Ohnmacht gemacht hat, als sie einen Augenblick fürchtete, er sei verurtheilt worden. Er hat einmal mit mir darüber gesprochen – nicht etwa ausführlich – das ist ja überhaupt nicht mehr seine Art. Er warf ein paar bittere Worte hin, die ich aber aufnahm, um sie ihm als eine grausame Ungerechtigkeit gegen seinen Engel von Frau vorzuhalten. Ich sagte ihm, Edith sei an jenem Tage ohnmächtig geworden, weil sie gefürchtet hätte, es sei eine Art Justizmord an ihm begangen worden. An seiner Unschuld hätte sie nie eine Sekunde gezweifelt, und sie würde ihren Glauben an ihn bewahrt haben, auch wenn die Richter ihn zehnmal verurtheilt hätten. Er antwortete nicht, aber in seinem Gesicht las ich deutlich die alten Zweifel. Er ist ein halsstarriger Mensch in Allem, was er thut und will, aber nirgends ist sein Trotz unglücklicher für ihn und für die arme Edith, als in seinem Unglauben an das Vertrauen der Menschen zu ihm. Das ist seine ganze Krankheit. Glauben Sie mir: an dem Tage, an dem der Dieb entdeckt sein wird – ein Tag, den wir aber wohl leider nicht erleben werden – erst an dem Tage wird Büchner wieder gesunden.“

Prati hatte still zugehört und schwieg. Der berühmte Onslow’sche Redefluß ergoß sich breit und ruhig. Der Italiener aber schien nicht mehr darauf zu achten. Er blickte sinnend vor sich hin. Nach einer Weile – Frau Onslow hatte den besondern Fall Büchner längst verlassen und sprach gerade von der Liebe im Allgemeinen, nachdem sie sich in einer Reihe sinnreicher Betrachtungen über den Trotz der Männer und die Milde edler Frauen ergangen hatte – nach einer langen Weile unterbrach Prati sie plötzlich.

„Sie irren sich!“

Frau Onslow hatte soeben mit vielem Gefühle ein schönes Gedicht hergesagt, in dem die Allgewalt der Liebe besungen wird, und der unerwartete Widerspruch des Italieners erfüllte sie mit Entrüstung. Sie hatte für eine gute Sache zu kämpfen und sie kämpfte mit Feuereifer. Ihre leidenschaftlichen Worte, die den kleinen Italiener niederschmettern sollten, erfüllten ihn aber nur mit großem Erstaunen, und diese Verwunderung war auf seinem beweglichen Gesicht so deutlich zu lesen, daß Frau Onslow plötzlich unaufgefordert innehielt.

„Verzeihung,“ sagte Prati, die Pause schnell benutzend, „wir verstehen uns nicht mehr. Ich dachte darüber nach, daß Sie gesagt hatten, die Entdeckung des Diebes würde Büchner retten, und da erlaubte ich mir die Bemerkung, Sie irrten sich vielleicht.“

Frau Onslow war schnell wieder besänftigt. „So,“ sagte sie, „das ist in der That etwas Anderes. Aber wie konnte ich glauben, daß Sie jetzt auf etwas antworteten, was ich vor einer halben Stunde gesagt hatte.“

„Ihre Worte hatten tiefen Eindruck auf mich gemacht und mich während der ganzen Zeit beschäftigt,“ erklärte Prati.

Das schmeichelte Frau Onslow. Sie war vollständig versöhnt, und Prati konnte auf geneigtes Gehör bei ihr rechnen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 488. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_488.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)