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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Sie können ganz ruhig sein. Alles ist in Ordnung!“ Sie athmete tief auf und seufzte leise.

„Aber erschrecken Sie nicht …“

„Sie täuschen mich!“ rief sie, plötzlich wieder auf das Aeußerste geängstigt. – „Was ist vorgefallen? Ich beschwöre Sie, sagen Sie mir das Schlimmste.“

„Es ist nichts Schlimmes vorgefallen, Frau Büchner. Hören Sied“ – Sie war zurückgetaumelt, einer Ohnmacht nahe. – „Frau Büchner, ich gebe Ihnen mein Wort, Ihr Mann lebt, er wird in wenigen Minuten hier sein, und morgen so gesund, wie er Sie heute verlassen hat. Es ist ihm ein kleiner Unfall zugestoßen, aber ohne jede bedenkliche Folgen. Ohne jede! Hören Sie? Aber nun seien Sie ruhig, bitte, seien Sie ruhig.“ Er nahm sie am Arm und führte sie in den Salon, wo sie leise weinend auf einen Sessel zusammenbrach.

„Was ist denn geschehen?“ fragte Edith nach einer kleinen Weile, noch immer weinend, aber durch die Versicherung, die Morrisson ihr gegeben hatte, augenscheinlich beruhigt.

„Nichts Erschreckliches, liebe Frau Büchner“ … Er lächelte gezwungen und verlegen „Ich fürchte … ich fürchte …“ fuhr er fort … „nun, Sie werden es ja selbst sehen, und es wäre unnütz, es Ihnen verheimlichen zu wollen … Ich fürchte, Büchner … Büchner hat sich betrunken.“

Sie nickte langsam mit dem Haupte. „Ich will lieber allein sein, wenn er ankommt,“ sagte sie nach einer kleinen Pause mit sanfter Stimme. „Ich danke Ihnen, Herr Morrisson.“

Dieser entfernte sich darauf schnell.

Nach einigen Minuten lag Büchner sinnlos betrunken auf dem Bette, wo ihn ein paar grinsende Kulis niedergelegt hatten: die Kleider besudelt, zerrissen, vom Regen durchnäßt, hilflos, die Haare wüst auf der bleichen Stirn, – ein Bild des Ekels noch mehr als des Jammers. Seine Augen waren halb geschlossen und er sah und vernahm nichts von dem, was um ihn her vorging.

Frau Edith schien kein Auge zu haben für das Abschreckende des Anblicks vor ihr, sondern nur zu sehen, wie jammervoll derselbe war: in ihrem stillen Antlitz war kein Zug von Verachtung oder Abscheu, nur Erbarmen und Traurigkeit waren darin zu lesen und diese Traurigkeit hatte etwas eigenthümlich Ruhiges, Entschlossenes. Wie sie in dem matt erleuchteten Zimmer geräuschlos hin- und herging, in sachverständiger Weise für den bewußtlosen Mann sorgend, zu dessen Pflege sie keine fremde Hilfe hatte zulassen wollen, da glich sie einer jener frommen Dulderinnen, die sich in selbstloser Barmherzigkeit für die Leiden der kranken Menschheit aufopfern. Nach einer halben Stunde mühevollen Schaffens der armen kleinen Frau war Büchner’s Anblick ein ganz anderer geworden. Sein bleiches Haupt ruhte auf weichen, weißen Kissen und glich in seiner kalten Unbeweglichkeit dem eines Mannes, der nach schweren Leiden endlich Ruhe gefunden hat. Edith schien sich in seinen Anblick ganz zu vertiefen. Ihre Züge, die in Schmerz erstarrt gewesen waren, wurden weicher, bis sich zuletzt ein Ausdruck kindlicher, herzzerreißender, hilfloser Traurigkeit darüber lagerte und sie leise weinend neben dem Bette niedersank. Sie hörte nicht, wie die Thür geöffnet wurde und Prati in das Gemach trat. Er blieb eine kleine Weile am Eingang stehen, näherte sich dann vorsichtig der weinenden Frau, die, als sie seine Nähe fühlte, zunächst erschrocken auffuhr, aber dann mit einer stummen Gebärde der Verzweiflung, die zitternde Handfläche nach oben, auf den Unglücklichen deutete und nun in ein lautes, bitteres Weinen ausbrach.

„Was ist geschehen?“ fragte Prati. Sie antwortete nicht. „Soll ich einen Arzt rufen?“ Sie schüttelte verneinend den Kopf.

Eine lange Pause trat ein. Dann trocknete Edith sich die Augen, und Prati die Hand reichend, sagte sie milde: „Ich danke Ihnen, Sie lieber, treuer Freund.“

Etwas Kläglicheres als der Gesichtsausdruck des Italieners bei diesen herzlichen Worten läßt sich kaum denken.

Am nächsten Tage war der Unfall, der Büchner betroffen hatte, Stadtgespräch. Die von Morrisson ausgesandten Konstabler hatten ihn im Matrosenviertel, in der Nähe einer elenden Schenke, wo Schwefelsäure mit Wasser als Branntwein verkauft wurde, auf der Straße liegend gefunden und ihn von dort nach seiner Wohnung geschafft. Die Entrüstung in der Kolonie war allgemein. Wenn ein Junggeselle sich betrank, so war das schon schlimm genug – man konnte es jedoch zur Noth noch hingehen lassen; aber daß ein verheiratheter Mann, mit einer Frau wie Edith Rawlston, sich zum Thier herabwürdigte, das war unverzeihlich. Kein Wort schien zu stark, um die sittliche Empörung der Kolonie und Büchner’s Benehmen zu kennzeichnen. Nur vier Personen stimmten nicht ein in den Entrüstungschorus, eigentlich sogar nur drei. Prati, Morrisson und Frau Onslow. Herr Onslow sagte zwar auch nichts gegen Büchner, aber dies geschah ausschließlich aus Furcht vor seiner Frau. Hätte er den Muth gehabt, seine Meinung zu äußern, so würde er auf Seiten der Ankläger Büchner’s gestanden haben. Ein sonderbarer Heiliger der Gemeinde kam auf den Gedanken, es sei die Pflicht der anständigen Amerikaner von Shanghai, für Frau Büchner zu sorgen, und da er bei einigen seiner Landsleute Zustimmung fand, so redete er sich ein, er habe eine Mission zu erfüllen, und begab sich mit einer nicht geschriebenen Vollmacht, die er sich selbst ausgestellt hatte, zu Frau Büchner, um ihr zu verkünden, daß, falls sie sich von ihrem Gatten trennen wollte, sie die Sympathien der ganzen Kolonie zu einem solchen Schritt für sich habe, und daß diese sie sicherlich auch thatsächlich unterstützen werde. – Der Empfang, der ihm zu Theil wurde, übertraf die kühnsten Erwartungen derjenigen, die vorsichtig genug gewesen waren, von einem Einmischen in die häuslichen Angelegenheiten des Büchner’schen Ehepaares abzurathen. Frau Edith wies dem unberufenen Beschützer, sobald sie dessen Absichten erkannt hatte, in so energischer Weise die Thür, daß jener, ein eitler und würdevoller Mann, der Dank und Ehre zu ernten gehofft hatte, mehrere Tage lang ganz verwirrt blieb und – wenn man von seinem Abenteuer sprach – nur die Hände zusammenschlagen und verzweifelnd gen Himmel blicken konnte. Die erste Aeußerung über Frau Büchner, die man von ihm vernahm, war: „Eine furchtbare Frau – schlimmer als ihr Mann!“ Aber er hatte damit keinen Erfolg und wurde nur hinter seinem Rücken ausgelacht. Die verheiratheten Männer sagten von Frau Edith mit aufrichtiger Bewunderung: „Eine muthige kleine Frau, die das Herz auf dem rechten Flecke hat.“

Büchner erwachte erst nach vierundzwanzig Stunden aus der schweren Betäubung, in der er gelegen hatte, und war noch mehrere Tage lang krank. Nicht ein Wort wurde zwischen ihm und seiner Frau über das, was vorgefallen war, gewechselt. Aber er würdigte diese Schonung in seiner Weise. Er nahm ihre kleine Hand und streichelte sie leise, wie es seine Art war, und blickte sie dabei stumm mit dankbaren Augen an. – Und Edith? – Sie sagte: „Mein armer guter Georg!“ – Das war seine ganze Strafe. Aber die Geschichte war ihm doch sehr nahe gegangen. – Er zog sich von jedem Umgang zurück. Selbst vor Frau Onslow versteckte er sich, wenn diese in das Haus kam. Nur mit Edith verkehrte er noch und mit Prati, der, so oft seine Geschäfte es erlaubten, mit Büchner zusammen war und diesem wie ein treuer Hund folgte, der schon dafür dankbar ist, wenn er nur in der Nähe seines geliebten Herrn geduldet wird. Edith und Büchner fanden dies ganz natürlich – Prati gehörte zum Hause.

Acht Tage etwa nach seiner Genesung empfing Büchner einen Brief von Herrn Morrisson mit einem Check für das Gehalt, das Büchner noch für die nächsten drei Monate zu empfangen hatte. Der Brief schloß mit den Worten: „Ich hoffe, daß Ihr Gesundheitszustand Ihnen bald gestatten wird, Ihre Dienste meinem Hause wieder zu widmen, in dem ich Ihre alte Stellung bis auf Weiteres für Sie offen halte.“

Büchner zeigte diesen Brief zuerst Edith und sagte dazu: „Morrisson ist ein guter Mensch.“

„Ja, in der That,“ antwortete Edith darauf.

Am Abend sprach Büchner sodann mit Prati über Morrisson’s Anerbieten. Auch der Italiener erkannte die wohlwollende Gesinnung des Engländers bereitwillig an. Aber er hatte seinem Freunde ein anderes Anerbieten zu machen. Das Geschäft ging sehr gut. Prati hatte während des letzten Jahres sein Kapital mehr als verdoppelt, er wollte seine Beziehungen jetzt noch mehr ausdehnen und schlug Büchner vor, sich zu dem Zweck mit ihm zu verbinden.

„Rawlston, dem ich geschrieben habe,“ sagte er, „ist damit einverstanden, daß ich, unbeschadet meiner Stellung in seinem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_502.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2023)