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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Willst Du nicht zu Frau Onslow gehen?“ fragte Büchner.

„Was willst Du ganz allein anfangen, mein armer Georg?“ antwortete Edith.

„Ich habe noch zu thun unten im Komptoir – geh nur, mein Kind.“

„Wenn Du es erlaubst.“

Er hing ihr den Mantel um und half ihr in die Sänfte, die sie zu Frau Onslow tragen sollte. Dann kehrte er in das stille Zimmer zurück, in dem er nachdenklich lange Zeit auf- und abging. Endlich öffnete er die Thür zur Veranda. Der rauhe Wind blies in das Zimmer, das Lampenlicht flackerte in die Höhe. Er schloß die Thür hinter sich und trat auf die offene nasse Terrasse. Er blickte in die Höhe, er suchte seinen Stern, aber dunkles dichtes Gewölk lagerte niedrig und schwer über ihm. Aus der Ferne vernahm er das Rauschen des Wussong. „Es muß Hochwasser sein,“ sagte er im Selbstgespräch.

Er trat in das Zimmer zurück. Der Tisch war mit Büchern bedeckt. Er nahm eines davon, einen neuen Roman, und begann darin zu lesen. Aber seine Aufmerksamkeit erschlaffte bald. Er gab es auf, dieselbe anzustrengen, warf sich in den Sessel zurück, bedeckte das Gesicht mit der Rechten und blieb unbeweglich, wie ein in Schlaf Versunkener. Endlich vernahm er im Garten das helle Rufen der „Chair-Kulis“. Er erhob sich, strich sich mit der Hand über die Stirn, athmete tief auf und ging seiner Frau entgegen.

Diese trat elastischen Schritts mit leicht gerötheten Wangen in das Zimmer. „Frau Onslow läßt Dich herzlich grüßen. Nun, was hast Du ohne mich angefangen?“

„Ich hatte noch zu arbeiten und ich habe gelesen. Woher kommen all’ die neuen Bücher, die auf dem Tische liegen?“

„Kleine Aufmerksamkeiten des Herrn Morrisson.“

Die Besuche bei Frau Onslow wiederholten sich noch zweimal in derselben Woche, jedesmal auf Büchner’s Anregung; dann kam Prati zurück und leistete seinem Freunde des Abends Gesellschaft. Es war Vollmondszeit. Das Wetter hatte sich gebessert. Die beiden Freunde machten nach dem Essen lange Spaziergänge, so daß Edith gewöhnlich schon von Frau Onslow heimgekehrt war, wenn Büchner von seiner Promenade wieder nach Hause kam. Aber bald verschwand Prati von Neuem auf mehrere Tage.

„Darf ich zu Frau Onslow gehen?“ fragte Edith am Abend nach der Abreise des Italieners.

„Welche Frage! Natürlich, mein Kind. Viel Vergnügen!“

Dann drei Stunden später: „Frau Onslow läßt Dich herzlich grüßen. Wie hast Du den Abend verbracht?“

Und immer dieselbe Antwort: „Ich hatte noch zu arbeiten. Ich habe etwas gelesen. Die Zeit ist mir ganz schnell vergangen.“ Und eines Abends der Zusatz: „Welch’ schöne Blumen Du mitgebracht hast!“

„Herr Morrisson war so liebenswürdig, mir den Strauß zu schenken.“

Das ging noch ein halbes Dutzend Male so, und dann fing die gewsssenhafte kleine Frau an, sich Vorwürfe zu machen. Sie durfte ihren Georg nicht jeden Abend allein lassen; es war nicht denkbar, daß er immer arbeitete und las. Der Aermste langweilte sich wahrscheinlich tödlich.

„Gehst Du heut Abend nicht zu Frau Onslow?“

„Nein, ich bleibe bei Dir.“

Büchner’s Gesicht verklärte sich. „Meine gute Edith!“

„Siehst Du, daß Du Dich freust, mich hier zu haben. Weßhalb schicktest Du mich jeden Abend fort?“

„Ich schicke Dich nicht fort.“

„Nun gehe ich auch nicht wieder.“

Der Abend verging schnell und angenehm. Aber es giebt in einer einzigen Woche sieben – lange sieben Abende. Sie erschienen Edith mit jedem Tage länger. Ein unbeschäftigter Mann ist etwas Schreckliches!

„Willst Du nicht rauchen? Prati hat mir gesagt, es sei jetzt kein Thee zu kaufen, Du dürftest wieder rauchen.“

„Nein, Kind, es hat mir Mühe genug gekostet, es mir abzugewöhnen. Jetzt entbehre ich es nicht, und ich mag es mir nicht noch einmal angewöhnen, um es später wieder aufgeben zu müssen.“

Nach zehn oder zwölf Tagen war es Büchner wieder, der Edith bat, zu Frau Onslow zu gehen, und an demselben Abend, nachdem Edith gegangen war, ohne sich mehr als nöthig bitten zu lassen, erschien Prati. Er fand Büchner allein, noch nachdenklicher als gewöhnlich und erfuhr im Laufe des Abends die Ursache der besonderen Traurigkeit seines Freundes.

Das Gespräch zwischen Beiden lenkte sich in natürlicher Weise auf die abwesende Hausfrau. Prati hatte sich nach ihr erkundigt, und Büchner ihm geantwortet, sie befinde sich ganz wohl, sie sei zum Besuch bei Frau Onslow.

Darauf gerieth das Gespräch ins Stocken.

„Woran denken Sie eigentlich?“ fragte der Italiener.

Büchner begann langsam und leise zu sprechen; es war, als denke er laut: „Edith ist bei Frau Onslow. Ich habe sie gebeten, sich zu zerstreuen. Hier ist es einsam. Dies ist nicht das Haus, in dem sich eine junge Frau wohlbefinden kann. Ich bin traurig und Edith hat in meiner Gesellschaft keine Freude. Ihre Jugend sehnt sich nach Glück. Sie hat redlich versucht, es zu finden in dem freudlosen Kreise, in den mein Dasein gebannt ist. Vergeblich! Ich sehe wohl, wie sie nach Sonne und Wärme dürstet und sie in dem kalten Schatten, in dem ich lebe, dahin welkt. Ich selbst habe ihr die Thür des Gefängnisses geöffnet und sie ins Freie geführt. Aber sie fühlt sich dort ohne mich nicht sicher und flattert ängstlich nach ihrem Käfig zurück. Die treue Seele mag sich nicht freuen, weil ich traurig bin. Neulich kehrte sie heim mit Blumen, einem Zeichen, wie schön Gottes Welt da draußen ist. Und hier ist es öde und kalt, und ich allein halte sie zurück! …“ Er blickte starr vor sich hin. „Graue Dämmerung rings umher! – Ich möchte, es wäre dunkle Nacht!“

Prati fand kein Wort des Trostes. „Wollen wir einen Spaziergang machen?“ fragte er leise.

Keine Antwort.

„Raffen Sie sich auf, Büchner!“

„Wozu.“

Prati sah wohl, daß er an diesem Abend nicht helfen konnte. Er drückte Büchner die Hand und begab sich zu Frau Onslow. Als er die Treppe hinaufging, vernahm er freundliches Lachen, und deutlich unterschied er den hellen Klang von Edith’s frischer Stimme. Während er die Anwesenden begrüßte, sagte Frau Edith: „Herr Morrisson, erzählen Sie auch Herrn Prati die reizende Geschichte, sie wird ihm gefallen und wir hören sie gern noch einmal.“ Herr Morrisson ließ sich nicht lange bitten. Edith lauschte seinem Vortrag mit glänzenden Augen und stimmte wieder ihr fröhliches Lachen an, als er geendet hatte. Prati konnte an der Geschichte nichts Komisches finden, aber er sagte mit seinem verbindlichen Lächeln: „Sehr hübsch.“

Bald darauf entfernten sich die Anderen, und Prati blieb mit Frau Onslow allein. Er erzählte von seinem Besuche bei Büchner. Frau Onslow hörte aufmerksam zu.

„Was Büchner von den Blumen sagte, macht mich nachdenklich,“ bemerkte sie, als Prati geendet hatte. „Morrisson hatte sie Edith geschenkt.“

„Sie glauben doch nicht, daß Büchner eifersüchtig ist?“

„Nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Er weiß so gut wie Sie und ich, daß er sich auf Edith’s Liebe und Treue unbedingt verlassen kann.“

„Nun, was glauben Sie?“

„Er grämt sich über seine Ohnmacht, Edith glücklich zu machen: er bildet sich ein, daß dies Anderen gelingen könnte. Er denkt dabei vielleicht an Morrisson, – wie der Kranke an den Gesunden: mit einer Art von Neid, aber ohne Uebelwollen für den Andern.“

„Ich quäle mich nun seit bald drei Jahren mit Büchner,“ sagte Prati. „Ich habe es ehrlich versucht, ihn von seinem Elend zu heilen. Aber, Gott sei es geklagt, ich habe nichts erreicht, und heute fühle ich mich entmuthigt.“

„Sie waren ihm ein treuer Freund, Herr Prati, niemals hatte Jemand einen besseren, als Büchner in Ihnen besitzt. Sie haben Ihre Pflicht getreulich geübt. Der Beste kann nicht mehr als sein Bestes thun. Das haben Sie gethan. Aber ich fürchte, unserm Freunde ist nicht mehr zu helfen; er ist ein gebrochener Mann.“

„So geben auch Sie die Hoffnung auf, ihn je wieder froh zu sehen?“ fragte Prati verzweifelt.

„‚Je‘ ist ein langes Wort. Die Zeit heilt Alles. Aber ich komme wieder auf meinen alten Gedanken zurück. Edith und Büchner müssen China verlassen. Man müßte in Amerika oder in Europa etwas für sie zu thun finden.“

„Das ist auch meine letzte Hoffnung,“ sagte Prati. „Ich werde darüber nachdenken; wir kommen später darauf zurück.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_520.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2023)