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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Der Diebstahl war nun an einem Dienstag Abend verübt worden. Am vorhergehenden Sonntag hatte Prati zu einem seiner häufigen Ausflüge in das Innere Shanghai verlassen. Eine Tagereise hinter der Stadt, am Montag Abend, war sein Boot von den Tai-ping-Rebellen aufgehalten worden, und er hatte zu seiner Bestürzung bemerkt, daß er keinen Passirschein besitze. Die Rebellenhäuptlinge waren stets bereit, jedem Fremden, der in den von ihnen überzogenen Landstrichen reisen wollte, ein derartiges Schriftstück auszustellen. Aber ohne im Besitz eines solchen zu sein, war es gefährlich, manchmal sogar, wie in dem vorliegenden Falle, unmöglich, die Grenzen der von den Tai-ping beherrschten Provinz zu überschreiten. Prati besaß einen Paß in bester Ordnung, mit allen nöthigen amtlichen Siegeln versehen und von einem halben Dutzend „himmlischer“ und anderer „Könige“ visirt. Das Schriftstück war von ihm in Shanghai vergessen worden. Nun mochte Prati aber gewichtige Gründe haben, Niemand den Schlüssel zu seinem Schreibtisch anzuvertrauen, denn er bequemte sich dazu, selbst nach Shanghai zurückzukehren. Da die Strömung im Kanal, in dem er sich befand, die Rückreise im Boote zu einer sehr langwierigen gemacht haben würde, so befahl er den Bootsleuten bis nach einem bestimmten Orte zurückzugehen. Dort wollte er sie in der Nacht vom Dinstag auf Mittwoch wieder antreffen. Er selbst miethete einen von Menschenhand gezogenen Karren, wie dergleichen in China auf den Landstraßen gebräuchlich sind, um darin nach Shanghai zurückzukehren. Er verließ sein Boot Dinstag mit Grauen des Tages und langte gegen fünf Uhr Abends in der chinesischen Vorstadt von Shanghai an. Dort ließ er das primitive Fuhrwerk, dessen er sich bedient hatte, warten und begab sich zu Fuß nach seiner Wohnung. In der Nähe derselben begegnete er dem Kaufmann Ki-tschong, der ihm beiläufig erzählte, er komme soeben von Rawlston & Co., wo er zehntausend Dollars eingezahlt habe. Sieben Stunden später, etwas nach Mitternacht, war Prati wieder auf seinem Boote.

Ueber die Art, wie der Italiener einen Theil dieser Zeit angewandt hatte, fehlen bestimmte Nachrichten, jedoch ist es leicht, dies mit nahezu vollständiger Sicherheit festzustellen. Prati war – so erklärt man sich die Sache – ohne bemerkt zu werden, in das Komptoir gelangt. Er hatte sein Pult geöffnet, um den Paß herauszunehmen. Und in demselben Pulte mochte wohl auch der Nachschlüssel zur Kasse gelegen haben. Das Komptoir war leer. Da trat die Versuchung an den Italiener heran und fand ihn schwach. Dicht neben ihm lagen zehntausend unbewachte Dollars. Er öffnete die Kasse, bemächtigte sich des Goldes, schloß den Schrank wieder und war verschwunden. Der Diebstahl hatte im Verlaufe einer halben Minute verübt werden können. Die Zeit von fünf bis sechs Uhr ist die ödeste Stunde für das Straßenleben in der Niederlassung von Shanghai. Die Fremden sitzen dann gewöhnlich bei Tisch. Die unbeschäftigten Diener pflegen dies zu benutzen, um zu schlafen. Prati hatte auf dem Rückwege zur chinesischen Stadt, wobei er die wenigst belebten Straßen gewählt haben mochte, keinen Bekannten angetroffen; und um halb sieben Uhr rollte er bereits wieder auf seinem Schiebkarren dem Orte zu, den er seinen Bootsleuten bezeichnet hatte und wo er dieselben auch richtig antraf.

Der größte Theil der entwendeten zehntausend Dollars war wahrscheinlich sofort gegen Seide umgetauscht worden. Die Rebellen, mit denen Prati auf seiner damaligen Reise verkehrt hatte, kümmerten sich wenig darum, wie das Geld erworben war, das sie für die von ihnen gestohlene Seide bekamen. Sie selbst hatten Interesse daran, den Ursprung des Geldes zu verbergen, da die obersten Häuptlinge, die für ihre eigene Rechuung unbarmherzig raubten und plünderten, darauf hielten, daß von ihren Untergebenen strenge Manneszucht beobachtet wurde. Die Goldbarren mit dem Stempel Ki-tschong’s waren sicherlich sofort eingeschmolzen worden. Wie es gekommen, daß eine Goldbarre in Prati’s Besitz geblieben war, darüber schwanken die Ansichten. Einige nehmen an, er habe nicht mehr gewagt, das Ki-tschong-Gold auszugeben, nachdem der Diebstahl bekannt geworden war, Andere glauben – und diese Ansicht hat die Wahrscheinlichkeit für sich, – daß Prati, mit jener eigenthümlichen Unvorsichtigkeit, welche gewisse Handlungen der verschlagensten Verbrecher kennzeichnet, kein Bedenken getragen hatte, einen Theil des gestohlenen Gutes zurückzubehalten, in einem verschlossenen Koffer, zu dem er den Schlüssel bei sich trug, und in dem es Niemand, auch keinem Diebe, eingefallen sein würde, Gold zu suchen. Als der Italiener acht Tage nach dem Verschwinden des Goldes wieder in Shanghai eintraf, war die polizeiliche Untersuchung längst beendet. Weder Rawlston noch der Polizei-Inspector hatten dabei an Prati denken können, den sie an dem Tage, an dem das Verbrechen begangen worden war, weit von Shanghai glauben mußten. Der Komprador erinnerte sich nachträglich, daß Prati’s chinesischer Diener, der seinen Herrn nach Sutschow begleitet hatte, von den Unannehmlichkeiten gesprochen, die ihnen das Fehlen des Passes verursacht hatte. Aber dieser Umstand war vom Komprador in keinen Zusammenhang mit dem Diebstahl gebracht morden und er hatte ihn in der Aufregung jener Tage schnell vergessen. Auch auf Ki-tschong hatte die kurze, unverdächtige Begegnung mit Herrn Prati auf der Straße so wenig Eindruck gemacht, daß er derselben gar nicht erwähnt hatte. Es waren ihm an jenem Tage und zur selben Zeit auch noch andere Mitglieder des Rawlston’schen Hauses zu Gesicht gekommen. Er hatte an Keinen von diesen als an den möglichen Dieb der zehntausend Dollars gedacht. Hätte er damals von dem Zusammentreffen mit Prati gesprochen, so würde dies auch nicht genügt haben, einen begründeten Verdacht auf den Italiener zu lenken. Seine unfreiwillige kurze Anwesenheit in Shanghai konnte durch die Umstände, welche dieselbe begleiteten, vollständig erklärt werden.

Rawlston war geradezu betroffen, als Büchner’s Unschuld nun sonnenklar vor ihm stand. Der Vorwurf, den Andere ihm wiederholt gemacht hatten, er habe Büchner zu Grunde gerichtet, gewann plötzlich an Schärfe. Fast empfand er Bedauern darüber, daß die Wahrheit nun ans Licht gekommen sei. Aber diese Empfindung machte schnell bessern Gefühlen Platz, die ihn drängten, dem gekränkten Manne jede mögliche Genugthuung zu verschaffen. Er begab sich schnurstracks zu Francis Morrisson, den er von ähnlichen Gesinnungen Büchner gegenüber beseelt fand und mit dem er sich nach kurzer Unterredung dahin verständigte, die ganze Kolonie, da sie sich als solche, absichtlich oder nicht, an der Kränkung Büchner’s betheiligt hätte, solle nunmehr förmlich und feierlich ihre wohlgesinnte Theilnahme an dessen Schicksal zu erkennen geben, und zwar in der üblichen Form: durch Ueberreichung einer Ehrengabe.

Rawlston und Morrisson gehörten zu den einflußreichsten Mitgliedern der fremden Niederlassung. Sie zweifelten nicht daran, daß ihre auf Büchner bezüglichen Vorschläge allgemeine Zustimmung finden würden, und sie irrten darin auch nicht. Nachdem jeder von ihnen mit einigen der reichsten Kaufleute der Kolonie gesprochen hatte, konnte eine Liste, in dereingeladen wurde, Herrn Georg Büchner ein „Testimonial“ zu überreichen, in Umlauf gesetzt werden, an deren Spitze die besten Namen von Shanghai mit nicht unerheblichen Beiträgen prangten, und die sich schnell mit zahlreichen Unterschriften bedeckte. Shanghai war damals reich und Kleinlichkeit in Geldsachen gehörte nicht zu den Eigenthümlichkeiten der „Pioniere“. Die Beiträge zu dem „Büchner-Testimonial“ ergaben bald die stattliche Summe von neuntausend und etlichen Dollars. Morrisson und Rawlston thaten sich zusammen, um dieselbe auf zehntausend Dollars abzurunden. Sodann fand eines der beliebten „Meetings“ im Klub statt, in dem Morrisson den Vorsitz führte, und das nach kurzer Berathung, wie in der Zeitung zu lesen war, mit dem Beschlusse endete, ein aus zehn Personen bestehender Ausschuß – derselbe wurde auf der Stelle durch Acclamation ernannt – solle Herrn Büchner die Summe von zehntausend Dollars in geeignet scheinender Weise überbringen, als „ein Zeichen der Theilnahme und der Hochachtung der Kolonie für deren verehrtes Mitglied Herrn Georg Büchner“.

Frau Onslow theilte dies Edith vertraulich mit. Man wollte die Freude haben, Büchner angenehm zu überraschen. Aber derselbe mußte in irgend einer Weise auf die außerordentliche Kundgebung vorbereitet werden. Edith zeigte sich erfreut über die Nachricht. Das Geld war ihr gleichgültig. Sie hatte sich niemals arm gefühlt und es fehlte ihr die richtige Schätzung von Geld und Geldeswerth. Aber sie war stolz auf die ihrem Manne gezollte Verehrung. Nun endlich würde er wieder erhobenen Hauptes durch die Straßen von Shanghai gehen!

Edith’s Empfindungen in Bezug auf Prati waren zunächst getheilter Natur gewesen. Im ersten Augenblick, nachdem sie erfahren, was er verübt, hatte sie nur Bestürzung gezeigt: Prati,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_534.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2023)