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Blätter und Blüthen.

Der Graf von Paris. Schwerlich wird der Enkel Louis Philippe’s jemals die Krone seines Großvaters tragen, obschon er jetzt den Anhängern der Bourbons und der Orleans, der königlich gesinnten Partei in Frankreich, als der einzig berechtigte Thronkandidat erscheint. Gleichwohl ist es immer von Interesse, sich ein Bild des vielbesprochenen Prinzen entwerfen zu können, welcher gegenwärtig von der republikanischen Regierung aus Frankreich verbannt ist. Ein solches Bild entwirft uns der unter dem Pseudonym „Graf Vasili“ schreibende „große Unbekannte“ in dem soeben erschienenen ersten Bande des Werkes über „Die Gesellschaft in Paris“.

Der Graf von Paris, obgleich auch der Kandidat der Legitimisten, der Anhänger des Grafen von Chambord, würde stets nach den Grundsätzen des Julikönigthums regieren; er ist kein Prätendent, der durch ungesetzliche Gewaltthat die Herrschaft an sich reißen würde; er hält es für seine Pflicht, sich bereit zu halten, wenn Frankreich ihn rufen sollte, aber er hofft dies nicht und wünscht dies nicht, weil nur gefährliche und furchtbare Umwälzungen dazu führen könnten: er hegt keine chimärischen Hoffnungen wie der Graf Chambord sie hegte; er sieht nur eine schwerlastende Pflicht vor sich, die er unter Umständen würde übernehmen müssen. Sein geheimes Ideal wäre, bis ans Ende seiner Tage als großer Herr in der Straße von Varennes und im Schlosse von Eu leben zu können, umgeben von Freunden, seine Kinder friedlich erziehend, einen hervorragenden, aber wenig lästigen Platz in der Gesellschaft einnehmend und auf einem Fuß von Gleichheit mit den fremden Prinzen verkehrend.

Persönliche Freunde besitzt der Graf von Paris nicht; er lebt in vollkommener Gemeinschaft der Neigungen und Empfindungen mit der Gräfin, einer Prinzessin Isabelle von Orleans-Montpensier, die sehr jung ihren Vetter geheirathet hat, einer trefflichen Gattin und Mutter, welche dabei den Sinn für Musik und Litteratur hegt und pflegt, heiter ist, sich lebhaft zu unterhalten versteht, eine glänzende Toilette liebt, gern mit der ganzen Pracht ihrer Edelsteine erscheint, ohne besondere Eleganz und weibliche Koketterie, aber auch eine kühne Reiterin und Jägerin ist. Eine Schönheit ist sie nicht; ihre Nase ist etwas lang, ihre Augen sind klein, ihr Mund ist groß, aber sie hat schöne Zähne.

Wenn der Graf von Paris seine Besucher empfängt, an seinem Schreibtisch stehend, so hat man nicht den Eindruck, als würden seine Züge sich auf den Münzen scharf und bedeutsam ausprägen, etwa wie die Napoleon’s III., der mit seinem sanften, träumerischen Gesicht, mit seinem verlorenen Blick, den geschlossenen Lippen, die nur selten ein verführerisches Lächeln zeigten, sich eher für das geprägte Abbild eines kaiserlichen Herrschers eignete. Ja, unser Berichterstatter hat gegen die Züge des Grafen von Paris einen sehr bedenklichen Einwand; er findet, daß er einem deutschen Fürsten ähnlich sehe, nicht einem der kleinen Durchlauchten, die sich ähnlich wie der Baron von Gondremark im „Pariser Leben“ in den Strudel der französischen Hauptstadt stürzen, immerhin aber doch einem, wenn auch hochstehenden deutschen Fürsten. Er ist groß von Gestalt; seine Haltung ist noch ganz jugendlich; das Haupt neigt er ein wenig zur Seite. Freundlich und wohlwollend empfängt er seine Besucher; er erhebt sich, um sie zu begrüßen; sein Händedruck ist herzlich; sein Blick fest und frei wie der Blick eines ehrlichen Mannes, der etwas auf seine moralische Würde hält. In diesem ruhigen blauen Auge liegt nichts, was an einen königlichen Abenteurer erinnerte; sein Schreibtisch, voll von Büchern und Papieren, beweist, daß er ein fleißiger Arbeiter ist. Seine Unterhaltung ist angenehm und inhaltreich, ohne pedantisch zu sein; er liebt es, sich zu unterrichten, von Fachmännern zu lernen, mit denen er verkehrt, den Gegenstand des Gesprächs zu erschöpfen.

Der Graf von Paris arbeitet regelmäßig sechs bis sieben Stunden täglich; doch pflegt er auch körperliche Uebungen, er ist kein leidenschaftlicher Jäger, aber doch ein sicherer Schütze und sitzt gut zu Pferde. Als Schriftsteller hat er seine Reise nach Syrien beschrieben und ein Werk über die Londoner Arbeitervereine verfaßt, ein überaus fleißiges, auf den sichersten statistischen Arbeiten ruhendes Werk, welches so viel als möglich die Thatsachen sprechen läßt, und zwar in einem guten, logischen Stil, doch ohne alle originelle Geistesblitze.

Uns Deutsche interessirt natürlich die Frage, welche Politik der Graf von Paris verfolgen würde, wenn der allerdings wenig wahrscheinliche Fall einträte, daß er in Frankreich zur Herrschaft gelangte. Und die Antwort würde in so fern beruhigend lauten, als nach dem Portrait des Grafen Vasili der Graf von Paris nichts weniger als ein ehrgeiziger Soldat wäre, aus seinen persönlichen Neigungen daher keine Gefahr für den Frieden erwachsen würde. Aber die Portraits der unter dem Namen „Graf Vasili“ arbeitenden Gesellschaft von Pamphletisten, deren Vertreterin nach außen die sattsam bekannte Frau Juliette Adam in Paris ist, haben sich bis jetzt nichts weniger als treu und zuverlässig, sondern häufig als ungenaue oder böswillige Zerrbilder erwiesen, welchen keinerlei bleibender Werth zugeschrieben werden kann.

Huldigung Karl’s V. in Gent. (Mit Illustration S. 536 u. 537.) Kaiser Karl V., in dessen Reich die Sonne nicht unterging, war stolz auf „sein Gent“, die reichste Stadt von Flandern; war sie doch damals mit ihren 35 000 Häusern und 175 000 Einwohnern eine der bevölkertsten Städte Europas. Als Alba ihm rieth, die rebellische Stadt zu zerstören, soll er ihn auf den Belfried geführt und auf das Häusermeer hinweisend ihm treffend erwiedert haben: „Wie viel spanische Häute braucht man wohl, um einen solchen Handschuh zu machen?“ Er meinte Gent mit diesem Wortspiele, das in französischer Mundart Gand (gant = Handschuh) heißt, und auch zu Franz I. von Frankreich sagte er einmal scherzend: „Ich kann Dein Paris in meinen Handschuh stecken.“

Theuer war Karl V. diese Stadt auch aus einem andern Grunde; in ihren Mauern, in dem Fürstenhofe von Gent, hatte er am 24. Februar 1500 das Licht der Welt erblickt und hier, noch in der Wiege, die ersten Ehren der Welt und die ersten Huldigungen empfangen.

Am 7. März fand „Nachts“ zwischen neun und zehn Uhr die Taufe statt, und Gent entwickelte dabei ein festliches Gepränge, wie es ein solches seit jener Zeit kaum wieder geschaut hat. Vom Prinzenhof bis zur St. Johanniskirche wurde eine etwa drei Fuß hohe Holzgalerie errichtet, welche 39 Ehrenpforten schmückten. In einem wahren Feuermeer von Fackeln und Lampions schwamm die Stadt, als der glanzvolle Zug mit dem Täufling und den Pathen von dem Fürstenhof nach der Kirche ging; auf den Kanälen wogten beleuchtete Schiffe, deren Lichterglanz sich in den Fluthen spiegelte, und griechisches Feuer flammte von den Thürmen und Bastionen.

In der Taufe erhielt der Sohn Philipp’s des Schönen und der Johanna von Kastilien den Namen Karl, zum Andenken an seinen Urgroßvater Karl den Kühnen von Burgund.

Höchste Auszeichnungen wurden dem fürstlichen Kinde bei dieser Gelegenheit zu Theil. Kaiser Maximilian ernannte seinen 14 Tage alten Enkel zum Herzog von Luxemburg, welchen Titel auch die deutschen Kaiser Karl IV., Wenzel und Sigismund geführt, und aus welchem man Prophezeiungen für die künftige Größe des Neugeborenen ableitete. Reiche Geschenke wurden ihm von allen Seiten dargebracht – ein festlicher Akt, der auf unserem Bilde dargestellt ist. An der Wiege des zarten Kindes sitzt die noch etwas bleiche Mutter, hochbeglückt, ihrem über Alles geliebten, neben ihr stehenden Gatten einen Stammhalter geschenkt zu haben. Von rechts nahen sich die Ersten des Landes und der Stadt, um dem Erben ihre Huldigungen darzubringen. Fürst Karl von Croi, dem noch heute blühenden Fürstenhause angehörend, einer der Pathen des jungen Prinzen, überreicht einen in Silber getriebenen, theilweise vergoldeten Helm von kunstreicher Arbeit, der den Prinzen in allen Fährlichkeiten schirmen und bewahren soll. Der zweite Taufpathe, der Marquis von Berg, Fürst zu Vargas, bringt ein Prunkschwert dar, bestimmt, von dem zukünftigen Kaiser zur Ehre seines Hauses, zur Vertheidigung seiner Lande, zum Schutze der Bedrängten und Unterdrückten allzeit siegreich geführt zu werden. Die behäbigen Väter der Stadt Gent widmen dem innerhalb ihrer Mauern Geborenen ein kostbares, silbernes, vollständig ausgerüstetes Schiff, eine prächtige Zierde der kaiserlichen Tafel.

Im Vordergrunde des Bildes haben unter anderen auch die fürstlichen Frauen Platz genommen, die den Prinzen aus der Taufe hoben: Margareta von York, die Schwester Eduard’s IV., und Margareta von Oesterreich, die Tante des Prinzen, die als Kind mit Karl VIII. von Frankreich verlobt, von diesem aber zurückgeschickt worden war. Diese Damen bestimmten dem Prinzen goldene Schalen mit köstlichen Steinen und ein mit Edelsteinen besetztes Reliquiar in Form eines gekrönten Jungfrauenkopfes. Links kniet der Vertreter der flandrischen Prälaten, in deren Namen er das Alte und Neue Testament in reichem Einbande übergiebt, auf dem die Worte „Scrutamini scripturas“ („Forschet in der Schrift“) eingegraben sind. Es sind damit jedoch die Ehrungen noch nicht erschöpft, die dem Prinzen erwiesen wurden; an den Orden des goldenen Vließ, welchen Kaiser Maximilian seinem Enkelchen gleichzeitig verliehen, erinnern die Insignien desselben, die von dem Schilde im Hintergrund herabhängen. Noch Seltsameres widerfuhr aber dem 14 Tage alten Kinde: es wurde der Sitte der Zeit gemäß von seinem Großvater mit Claudia, der Tochter Ludwig’s XII., verlobt.

Der Künstler hat es verstanden, den kleinen Bräutigam dadurch zum sofort erkennbaren Mittelpunkte seines Bildes zu machen, daß er das Interesse sämmtlicher Anwesenden auf das unscheinbare Kindlein vereinigte, mit dessen zarter Erscheinung die stattlichen Gestalten der Männer mit ihren ernsten prächtigen Charakterköpfen glücklich kontrastiren. Anmuthig beleben die geschickt gruppirten Damen das Bild, deren Darstellung dem Künstler Gelegenheit bot, seine vorzüglichen Kenntnisse in der Geschichte der malerischen Kostüme seines Vaterlandes bestens zu verwerthen. Alb. Vriendt, Historienmaler in Brüssel, der Schöpfer des Bildes, ist kein Neuling auf diesem Gebiete; er und sein Bruder Julian haben schon eine Reihe denkwürdiger Ereignisse aus der Geschichte ihres Vaterlandes durch ihre Arbeiten verherrlicht. Alb. Vriendt verbindet in seinen Werken strenghistorische Auffassung mit einer wahrheitsgetreuen Ausführung aller Details, ohne sich indeß in Einzelheiten zu verlieren. Er gehört zu jenen zeitgenössischen Historienmalern, die umfassende historische und archäologische Studien über die Zeit machen, der sie ihren Stoff entnommen, und die sich hierdurch so eingehende Kenntnisse über den Charakter des in Frage kommenden Volkes und die Zustände des betreffenden Landes, bis herab auf das geringste Detail der Kostüme, des Schmuckes, der Bewaffnung, der Zimmereinrichtung etc. verschaffen, wie sie vor einigen Jahrzehnten höchstens ein Museumsdirektor hatte. Hans Boesch.

Zerstreutheit. Kaum eine andere menschliche Schwäche hat so lächerliche Seiten wie die Zerstreutheit, die man einer verbreiteten Annahme zufolge hauptsächlich bei Gelehrten etc. voraussetzt, obwohl sehr häufig, und sogar häufiger noch bei ganz gewöhnlichen Sterblichen, deren Geist und Phantasie keine Ueberbürdung erduldet, entschiedene Anlagen zum „Konfusionsrath“ zu bemerken sind – nur erfährt die Welt ihre Streiche nicht. Von bekannten Männern erhalten sich solche Anekdoten um so hartnäckiger. Das Muster eines Zerstreuten war der in Berlin in guter Erinnerung stehende Professor Neander. Einmal wurde er auf dem Heimweg in den Straßen Berlins von einem Gewitter überrascht, so daß er zu einer Droschke seine Zuflucht nehmen mußte; aber leider fiel ihm nun nicht ein, wo er wohnte, und der Kutscher, der sich seine eigenen Gedanken gemacht haben mochte, wollte den seltsamen Fahrgast schon nöthigen, auszusteigen. Da nahte der rettende Engel in Gestalt eines ehrerbietig grüßenden Studiosen. Neander ruft ihn heran: „Sie, bitte, sagen Sie mal dem Kutscher, wo Professor Neander wohnt!“ –

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