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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

ganz Auge war, mischte sich dennoch die Phantasie ein und zeigte ihr von fern unter irgend einem Sammtbarett, einer Straußenfeder das wallende, wehende Blondhaar, um dann am zufällig Näherkommenden einem gleichgültig fremden Gesichte zu begegnen.

Vielleicht war es diese geheime Spannung auf ein bestimmtes Bild, was Lisbeth mancher Huldigung gegenüber so unbefangen erhielt. Obgleich Martha Brohl und Resi Ahrens viel hübscher waren als sie, zog doch Lisbeth’s interessantes Köpfchem das koncentrirte Feuer ihres Naturells die jungen Leute, welche in dem Hause verkehrten, sichtlich am meisten an. Vor Allen wurde es Richard Ahrens nichts weniger als leicht, dem strengen Hausgesetze seiner Mutter, daß er keiner ihrer Schutzbefohlenen den Hof machen dürfe, stets zu gehorchen. So sehr ein junger Mann aber auf der Hut sein möge, wird seine Erkorene doch immer recht gut wissen, wie es um ihn steht, und blieb auch des Mädchens Herz unberührt, empfand sie doch, ohne eine Spur von Koketterie, das stäte Bemühen, ihr Angenehmes zu erweisen, als Erhöhung der tausendfachen Freuden und Genüsse ihres gegenwärtigen Lebens. Die Korrespondenz mit der geliebten Mutter war eine hohe Ziffer in diesen Freuden, und die Aussicht, bei Ferienschluß der Schule nach Hause zu reisen, glänzte in die reichen, gegenwärtigen Tage hinein.

Ehe diese Zeit herangekommen war, traf unheilvolle Botschaft ein. Major von Rüttiger, dessen Regiment zum Manöver ausrückte, stürzte bei einer Uebung mit dem Pferde und verletzte sich schwer. Seine Frau war sogleich zu ihm geeilt, an Lisbeth erging die Weisung, zu bleiben, wo sie war, da der Kranke zunächst an Ort und Stelle gepflegt werden mußte. Es fiel ihr überaus schwer, in der Ferne weilen zu sollen, während die Eltern litten; ihr ganzes Herz drängte heim; doch blieb ihr nichts übrig, als sich zu fügen. Die nächsten Wochen brachten beruhigendere Nachrichten. Des Vaters Leben war nicht bedroht; er kehrte unter Obhut und Pflege seiner Frau in kleinen Etappen nach der Garnison zurück. Dennoch klangen der Mutter Briefe bedrückt, sie deutete auf Unentschiedenes, auf mögliche Veränderungen hin, ohne Lisbeth’s dringende Fragen anders zu beantworten, als daß sie mahnte, alles Weitere in Geduld abzuwarten. Das lastete schwerer auf des Mädchens Seele als eine bestimmte Sorge, der sie einen Namen hätte geben können – so glaubte Lisbeth wenigstens. Mit ihrer Fröhlichkeit war es vorbei, sie wurde still und schweigsam, eine Ahnung drohenden Unheils ließ sie nicht mehr los.

Da traf Doktorin Ahrens Lisbeth eines Mittags, als sie nicht auf den Glockenschlag bei Tische erschien und deßhalb von ihr aufgesucht wurde, ganz aufgelöst in Thränen. Vor einem Stuhle knieend barg sie das Gesicht in beiden Armen und schluchzte so gewaltsam, daß die gute Frau heftig erschrak.

„Schlimme Nachrichten?“ sagte sie, als sie einen offenen Brief auf dem Tische liegen sah.

Lisbeth fuhr in die Höhe, strich sich wie betäubt die Haare aus dem Gesicht und nickte. „Des Vaters Knie bleibt steif; er ist um seinen Abschied eingekommen; wir ziehen nach Braunschweig und ich – ich – soll nach Hause!“

Die Doktorin legte den Arm um ihr vor Erregung bebendes Pflegekind und strich ihr leise über das Haar.

„Leider sagst Du mir nichts Neues!“

„Nichts Neues?“ rief Lisbeth mit weit geöffneten Augen. „O, gewiß haben Sie nicht verstanden! Ich soll meine Studien aufgeben, für immer, das Geld, welches meine Ausbildung kostet, müsse zu Nöthigerem verwendet werden, schreibt Papa, und auch die Mama scheint dieser Meinung zu sein. Giebt es denn Nöthigeres als vorwärts zu kommen? Mitten auf dem Wege umzukehren ist doch nicht möglich! Gerade jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen, in ein paar Jahren kann ich den Meinigen eine Stütze werden. Unbegreiflich, daß sie dies nicht einsehen –“

Als Frau Ahrens nicht antwortete und nur theilnehmend das Mädchen ansah, warf Lisbeth beide Arme um ihren Hals und rief leidenschaftlich:

„Helfen Sie mir! Ich will auf Alles verzichten, eine Dachkammer ist mir recht; von Wasser und Brot will ich leben, nur nicht loslassen, woran mein Leben hängt, nicht jetzt nach Hause müssen, wo ich doch nichts helfen und auf meiner Bahn nie, nie vorwärts kommen kann!“

„Wir haben lange überlegt, Deine Mutter und ich, liebes Kind! Mancher Brief ist über diesem Thema gewechselt worden; Du solltest wenigstens nicht mit der Ungewißheit zu kämpfen haben, so lange ein Fünkchen Hoffnung blieb, Dir dies Leid zu ersparen. Daß ich hierzu that und vorschlug, was in meinen Kräften stand, darfst Du mir glauben, und Deine arme Mutter war zu jedem Opfer bereit. Der Wille Deines Vaters ist aber unbeugsam, er fordert entschieden, daß Du heimkehrst und den Gedanken an Malerei als Lebensberuf aufgiebst. Das steht da wie eine Mauer, denn leider läßt sich nicht leugnen, daß noch Jahre vergehen müssen, ehe Deine Kunst nach Brot gehen kann.“

Lisbeth senkte den Kopf ohne zu antworten. Also auch hier kein Verständniß ihrer Noth, auch hier die Ansicht, daß sie sich mit Unabänderlichem abzufinden habe.

Entsagung ist und bleibt ein bitteres Kraut, auch für Die, welche den Kelch schon wiederholt geleert haben. Mit neunzehn Jahren, in einem von leidenschaftlicher Sehnsucht erfüllten Herzen, wo jede Blutwelle von Feuer durchströmt ist, hat Vernunft kein ausreichendes Gewicht, um schwerem Verzicht die Wage zu halten. In Lisbeth’s glühenden Schmerz mischte sich ein Trotz, der ihr im Augenblick jede Anschauung verdunkelte. Der Gedanke, nicht zu gehorchen, stieg in ihr auf – Alles, was sie je über Menschen gehört und gelesen hatte, die allen Hindernissen, der Armuth, dem Alleinstehen zum Trotze ein hochgestecktes Ziel zu erreichen gewußt hatten, glitt an ihrem erregten Geiste vorüber. Es fiel ihr nicht ein zu bezweifeln, daß die schaffende Kraft in ihr wirklich jedes Opfers fähig und würdig sei, der Gedanke an ihre Mutter genügte jedoch, die Versuchung aus dem Felde zu schlagen.

Während der Abschiedstag näher rückte, durchwandelte Lisbeth bald mit überströmenden, bald mit starren Augen noch einmal alle Stätten, die ihr hier vertraut und theuer geworden waren, riß sich von jedem Bilde, jeder Statue einzeln los und hätte in der brausenden Isar, deren weißschäumende Gefälle sie so liebte, ihr Leben hinströmen mögen.

Mit dem natürlichen Egoismus der Jugend, die jede Wallung zu Worte kommen läßt, erschwerten die bisherigen Hausgenossen Lisbeth das Scheiden durch lebhafte Klagen und eben so lebhafte Zeichen ihrer Zärtlichkeit. Wo junge Leute beisammen sind, behält elegische Stimmung aber nur für kurze Zeit das Uebergewicht. So schlug das Bedürfniß der Freudigkeit alle Abschiedsgedanken nieder, als die Mädchen am letzten Tage vor Lisbeth’s Abreise unter Richard’s Geleit eine Morgenwanderung nach dem Nymphenburger Parke ausführten. Das seit einer Woche naßkalte Wetter hatte sich über Nacht plötzlich geändert, einer der sonndurchwärmten Oktobertage, wie sie München öfters beschert werden, blaute nieder, und der während des Frühstücks vorgeschlagene Gang im sonnigen Morgenlichte weckte die fröhliche Laune des jungen Völkchens. Lisbeth selbst vergaß ihr Leid, um sich mit der ihr eigenen Genußfähigkeit ganz an die Stunde hinzugeben.

Der schöne Park stand im Herbstschmuck. Die Natur hatte ihre kräftigsten Farben mit unübertrefflichem Geschmack vertheilt; die stillen Wasserflächen spiegelten all die bunte Pracht leuchtend zurück. Kein Lüftchen regte sich, kein anderer Fuß, als der unserer jungen Leute, wandelte zu dieser Stunde im Umkreis der weitgedehnten Anlage. Ringsum war Alles still, frisch und glänzend; die mythologischen Gestalten sogar schienen ganz ungeziert von ihrem hohen Sockel niederzulächeln.

Als die Spaziergänger den Teich umschritten, bemerkte Richard, der neben Lisbeth ging, daß diese auf einmal wortkarg wurde, bald hier, bald dort stehen blieb, um einen purpurrothen Blätterzweig zu knicken oder träumerisch zu den Baumkronen aufzuschauen. Sein Herzensinstinkt verrieth ihm, daß Lisbeth nach Alleinsein verlange, und schnell knüpfte er an ein von den vorausgehenden Mädchen zurückgeworfenes Wort, um sich ihnen anzuschließen.

Er hatte richtig empfunden. Lisbeth fühlte sich hier plötzlich wieder von heißem Weh überfallen. Da lagen die Kähne, in denen sie während des Sommers das ruhige Wasser überschifft hatte; sie liebte überhaupt diese Stätte, besonders seit der erste Ausflug, den sie in München erlebte, sie nach Nymphenburg geführt – auch im Herbst, als der Park, wie heute, in allen Farben des Feuers stand.

Als sie jetzt den Steg betrat, der einen der Kanäle überbrückte, blieb sie, vom Teiche abgekehrt, gedankenvoll stehen und blickte, über das Geländer lehnend, stumm zum Wasser hinab, auf dem goldige Blätter einzeln, träge hinschwammen! Das erschien ihr wie ein Bild der eigenen Existenz. So golden hatten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_590.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)