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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

blühte weiter, und mitten in der Lustigkeit rief Klara aus vollem Herzen: „Ach, was ist es doch für ein Glück auf der Welt zu sein!“

Brandt sah sie an wie ein Wunderthier. „Fühlen Sie sich wirklich ganz glücklich, Fräulein Klara?“

„Ja, und aber wie! Ich möchte immer jubeln und singen, daß es mir so gut geht. Wohin ich im Sommer sehe, stehen vierblätterige Kleeblätter –“

„Die bedeuten Dir ein großes Glück, Klara.“

„Ich habe es ja jetzt schon,“ rief sie fröhlich; „die Welt ist so schön, der Papa ist so gut gegen mich, und Sie sind es, obgleich ich so dumm bin, und dann ist mein Eichhörnchen und meine Blumen, und – und der heutige Abend – die guten Frikandellen –“ fuhr sie hastig fort, hielt aber vor unserem schallenden Gelächter erschrecken inne, ob sie wieder einmal etwas recht Dummes geschwatzt habe.

Ich faßte sie rundum: „Ja, Du hast Recht, lieber Schatz, der Himmel erhalte Dir Dein Glück und vergrößere es jeden Tag!“

Brandt sah sie den Abend mehrmals ganz gedankenvoll an. Bisher hatte er sie als „gründlich unbedeutendes Geschöpf“ verachtet; nun schien ihm eine Ahnung aufzugehen, daß das vielgesuchte Glück vielleicht dem Einfachen näher sei als dem Komplicirten. Aber um das zu begreifen, ist er doch, glaube ich, mit all seiner Gescheitheit nicht gescheit genug.

Es ging gegen Neune; das ist für Neustädter Begriffe schon eine vorgerückte Stunde, und ich sann eben darüber nach, wie wir zwei Unbeschützten unsern Gast am besten verabschieden könnten. Plötzlich – ein wohlbekanntes heiseres Gekläff auf der Treppe, ein rascher Schritt hinterher und eine liebe Stimme – Hugo! Emmy! – da stand er in der Thür und sah uns verwundert an. Ich flog ihm an den Hals und freute mich furchtbar: das ist doch das sicherste Zeichen, wie lieb man Einen hat, wenn sein unerwarteter Anblick eine solche Seligkeit erweckt!

„Ich konnte es nicht mehr aushalten, Schatz,“ flüsterte er mir ins Ohr; ich glaube, er wäre froh gewesen, mich allein zu haben. Aber er benahm sich trotzdem sehr liebenswürdig gegen Brandt und Klara und litt nicht, daß sie gleich fortgingen. Wir erzählten ihm unsere Thaten; er war ganz gerührt über soviel Aufopferung. Plötzlich hob er die Nase:

„Was tausend, Ihr habt wohl Frikandellen gegessen?“

„Jawohl,“ sagte Brandt, „und sie waren ganz vorzüglich.“

„Die könntest Du bald wieder einmal machen lassen, Emmy; ich esse sie doch eigentlich sehr gern!“

Muckel warf ihm einen seiner heimtückischen Schielblicke zu, aber es half nichts mehr: der Sieg war mein! Ich werde ihn aber mit Mäßigung benützen. Und hiermit grüßt Dich heute mit einem ganz enormen Selbstbewußtsein

Deine Emmy.




Von der Camorra.

Das Wort ist seit lange in den Sprachgebrauch aller Völker aufgenommen, und wo nur immer mächtige und einflußreiche Personen zur gewaltthätigen oder verkappten Ausbeutung ihrer Mitbürger zusammentreten, da sagt man: es ist eine Camorra.

Was aber die echte ursprüngliche, nur in Neapel einheimische Camorra sei, woher sie stamme und was sie zusammenhalte, das pflegten selbst Diejenigen nicht genau zu wissen, die von dieser geheimnißvollen, unsichtbaren und allgegenwärtigen Macht wie von eisernen Klammern umstrickt waren. Ich sage „waren“, denn zum Glück gehören die Zustände, von denen hier die Rede sein soll, zum größeren Theil der Vergangenheit an: ermöglicht es doch heutigen Tags schon der leichtere Verkehr einem von der Camorra Bedrängten, seine Zelte abzubrechen und den Schlingen, die er nicht durchreißen kann, wenigstens zu entschlüpfen.

Während der tiefen Geistesnacht aber, die unter der bourbonischen Regierung über Neapel lag, mußte sich der Eingeborene wie der Fremde auf Schritt und Tritt in diesem großen Spinnennetz verfangen, das sich über das ganze Königreich beider Sicilien ausdehnte.

Am Bahnhof wie am Landungsplatze der Schiffe, auf der Haltestelle der Fiaker, am Bureau des Lotto, auf dem Markte, am Schenktisch, allüberall wo Geld ausgegeben und eingenommen wurde, ja – wie von Einigen behauptet wird – sogar am Opferstock stand der unbekannte Steuereinnehmer, der von jedem Geschäft, von jeder Vergnügungsausgabe, selbst von dem Almosen seinen Zehnten einforderte. Und so wenig es heute einem friedlichen Bürger einfallen würde, die Zahlung der Gemeindesteuer zu verweigern: so wenig dachte der Neapolitaner von damals daran, zu rebelliren, wenn der tyrannische Eintreiber mit goldenen Ringen und Ketten belastet vor ihm erschien und, gelassen an die Mütze greifend, mit den lakonischen Worten: „Für die Camorra!“ seinen Zins erhob.

Gegen dieses Erpressungssystem gab es für den Einzelnen keine Hilfe; zwar waren nur Männer aus dem Volk als Camorristen bekannt; aber es ist gewiß, daß sich die Verzweigungen der Organisation bis in die höchsten Gesellschaftsschichten erstreckten und daß alle Aemter mit dieser Fäulniß durchsetzt waren: gegen einen Schützling der Camorra fanden sich meist weder Zeugen noch Richter, und die Thatsachen selbst, die gegen ihn sprachen, verschoben sich in Kurzem auf so wunderbare Weise, daß auch dem unparteiischsten Gerichtshof der Muth sinken mußte, ein „Schuldig“ abzugeben.

Verschiedene kleine Gewerbe entrichten übrigens noch heute einen direkten Tribut an die Camorra, z. B. die Droschkenkutscher, die Fischhändler etc. Dafür genießen sie aber eine gewisse Sicherheit, die der Staat seinen pünktlichen Steuerzahlern nicht immer zu gewähren im Stande ist. Der friedliebende Handwerker und der ängstliche Kleinbürger werden daher nur ungern den starken Arm entbehren, der sie an Unterwerfung hielt, aber zugleich beschützte. Als die italienische Polizei gleich nach Einverleibung der Provinz Neapel die Camorra mit Stumpf und Stiel auszurotten suchte – der Eifer hat seitdem merklich nachgelassen – war der Jammer unter den niederen Gewerbtreibenden groß.

Die reichste Quelle jedoch floß und fließt der Camorra noch heute aus jeder Art von unehrenhaftem Gewerbe sowie aus dem Spiel, der Nationalleidenschaft des Neapolitaners. Ob friedliche Bürger nach Sonnenuntergang vor der Hausthür saßen und die Karten mischten, ob zerlumpte Lazzaroni Nachts in einem schmutzigen Kafé um ihre wenigen gestohlenen oder erbettelten Kupfermünzen spielten: überall fand der Camorrist sich ein, überwachte mit strengem Auge das Spiel und empfing, sobald es zu Ende war, vom Sieger den zehnten Theil des Gewinnes. Wenn Streit entstand, wenn falsch gespielt wurde, so rief man seine Entscheidung an. Seine Sentenz, die meist gerecht war, galt für unanfechtbar, und im Nothfall war er auch bereit, allein gegen ein Dutzend Gegner mit gezogenem Messer dem Recht zum Siege zu verhelfen.

Diese verrufenen Spelunken, in denen es der bourbonischen Polizei nicht geheuer war, standen einzig und allein unter der Aufsicht der Camorra, die sogar eine gewisse Ordnung daselbst aufrecht erhielt, Mord, Raub und andere Ausschreitungen verhütete mit Ausnahme derer, die sie selbst beging. Zuweilen konnte es denn allerdings geschehen, daß sich ein zweiter Camorrist, der dem ersten unbekannt war, am Orte einfand, um den Zehnten für sich selbst in Anspruch zu nehmen. In solchem Falle wurden aber nicht die Spieler doppelt taxirt – höchste Loyalität im Geschäftsverkehr ist eine Haupteigenschaft der Camorra – sondern das Messer hatte zwischen den Konkurrenten zu entscheiden. Das streitige Geld wurde auf den Boden gelegt; die Gegner stürzten mit gezückter Waffe auf einander, und der Kampf endete nicht eher, als bis einer von beiden blutend am Boden lag. Wenn die Polizei endlich herbeieilte, so beobachtete der Verwundete das tiefste Stillschweigen über die Person des Thäters und der Sieger stieg in der Camorra an Ehre und Ansehen, auch wenn er einen Genossen getödtet hatte.

Häufig fällt dem Camorristen auch die Rolle des Friedensrichters in seinem Stadtviertel zu, denn in Rechtsstreiten, wo der arme Mann sich vor langwierigen und unsicheren Processen fürchtet, ruft man seine Vermittlung an, und es werden mitunter von solchen Camorristen salomonische Urtheile, die eines Sancho Pansa würdig wären, berichtet. Für einen Klienten, der sich unter seinen Schutz gestellt hat, ist der Camorrist auch bereit, die eigene Haut zu Markte zu tragen. Daher verschmähen es selbst Personen von Rang gelegentlich nicht, für sich und die Ihrigen die Dienste der Camorra anzunehmen.

So erzählt John Peter in seinen reizenden „Etudes napolitaines“ von einem Mann in hoher Stellung, der eines schönen Tages ganz unerwartet den Besuch eines Camorristen, seines Nachbars, erhielt.

Pulpetiello (ein Spitzname, so viel wie kleiner Polyp) macht seinen Kratzfuß.

„Eccellenza reisen morgen nach Rom,“ redet er den Erstaunten an – „Ihre Frau und Tochter bleiben hier allein; sie möchten gewiß gern des Abends allein ausgehen, ihre Hühner und Eier, das Obst aus ihrem Garten in Ruhe essen können.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_620.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2023)