Seite:Die Gartenlaube (1887) 626.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

sich dem Fenster wieder zu nähern, das ihr nun auch sicherlich die leere Straße gezeigt hätte. Da vernahm sie ein Geräusch im Vorzimmer und gleich darauf öffnete ihre Mutter die Verbindungsthür und sagte:

„Du bekommst Besuch, Lisbeth!“

Der kleine Schüler, welcher auf der Schwelle erschien, zeigte sich in diesem Moment bei weitem nicht so keck wie von fern. In reizender Unbeholfenheit stand er da, das grüne Ränzel auf dem Rücken, ein blödes Lächeln auf dem hübschen Gesicht, und streckte das rechte Händchen, womit er eine Karte krampfhaft festhielt, pfeilgerade vor sich hin.

Ein Strom von Freude nahm bei seinem Anblick alle Spannung, alles Beengende von Lisbeth’s Seele. Des Menschen Herz ist ja ein Orakel, das mehr weiß als alle Profanen – es verkündete dem Mädchen in diesem Moment, daß sein Glück hier eingetreten sei.

,Nun?“ rief sie mit strahlenden Augen, „komm doch!“ und breitete, niederkniend, beide Arme aus. Noch ein wenig unschlüssig schob der kleine Gast sein Mäulchen vor, dann rannte er plötzlich auf Lisbeth zu und ließ sich, hell aufjauchzend, von ihr fassen – freilich nicht halten, denn schnell genug machte er sich los und rief: „Du! ich muß ja ausrichten!“ wobei er sich bückte, um das ihm entfallene Kärtchen vom Boden aufzunehmen, sich dann ein Weilchen besann und mit der Wichtigkeit, womit kleine Leute alles Eingelernte betonen, hersagte:

„Um Antwort wird gebeten.“

Die Visitenkarte in Lisbeth’s Hand trug Joachim Rank’s Namen, darunter stand mit Bleistift geschrieben:

„Der Malonkel frägt an, ob die Fenstertante zu schicklicher Stunde seinen Besuch gestattet.“

Ihr Auge hing an den Scherzworten, als läge darin eine tiefe Räthselfrage verborgen, über die man erst lang nachsinnen müßte. Jedenfalls dauerte ihr Schweigen dem kleinen Boten zu lang.

„Sag’ doch was,“ rief er, an Lisbeth’s Kleide zupfend. „Um Antwort wird gebeten, und ich muß jetzt endlich in die Schule!“

Lisbeth neigte sich und küßte das Kind.

„Sage: Willkommen,“ flüsterte sie, wandte sich schnell ab und haschte, den Scheiben so fern wie möglich bleibend, nach dem kleinen Geschenk, das auf ihrem Arbeitstische lag. Der Schatz streckte aber keine Hand nach der lockenden Chokolade aus, sondern rief: „Am Faden! am Faden!“ und rannte davon.

Lisbeth zögerte ein kurzes Weilchen; dann trat sie entschlossen vor, öffnete den Fensterflügel und ließ den rothen Faden nieder, der von den bereits harrenden Händchen schnell erfaßt wurde. Hell blickte Rank zur Spenderin auf und erhob leicht, kaum merklich, seine Rechte. Da blitzte ein Strahl alten Uebermuthes in des Mädchens Gesicht, und – ob gewollt, ob entschlüpft, wer könnte das errathen, des Fadens Knäuel flog hinab. Indem er geschickt aufgefangen wurde, trafen zwei leuchtende Augenpaare einander über lächelnden Lippen. Dann war das Bild im Rahmen entwichen.

„Nun sag’ mir doch, was dies zu bedeuten hat?“ fragte die Mutter, Rank’s Karte in der Hand, als Lisbeth’s heißes Gesicht sich zu ihr wendete.

„Gutes, Liebes!“ athmete diese und fiel der Mutter um den Hals.

Lisbeth nahm sich vor, sehr ruhig zu sein, wechselte aber die Farbe bei jedem Klingelzug, der sich im Verlauf des Tages vernehmen ließ. Nachmittags, als es bereits dämmerte und der Major eben in das Kasino gegangen war, die Abendzeitungen zu lesen, wurde Rank gemeldet und erschien zur Ueberraschung Lisbeth’s und ihrer Mutter in Begleitung einer sehr hübschen jungen Frau.

„Erlauben Sie, Ihnen meine Schwester, Regierungsräthin Besser vorzustellen, gnädige Frau,“ sagte der Künstler zur Majorin, indem er sich in seiner leichten Weise verbeugte, „allerdings muß ich gestehen, daß sie mit gleichem Rechte mich vorstellen könnte, da wir Beide keine andere Entschuldigung dafür haben bei Ihnen einzudringen, als den Wunsch dazu.“

„Nicht doch,“ bestritt die Räthin, „meine Entschuldigung steht hier!“ Sie wandte sich graziös zu Lisbeth: „denn nicht wahr, Fenstertante und Mama mußten sich doch endlich kennen lernen! Unter diesem Namen freier Erfindung meines Fritz weiß ich längst, welches gütige Händchen ihm zahllose Freuden bereitet, und habe der Versuchung, ihn einmal zu begleiten, nur deßhalb widerstanden, weil ich mich scheute, das fröhliche Verhältniß zu stören. Nachdem sich aber nun der Gast unseres Hauses, mein lieber Bruder, auch Malonkel genannt, nicht eben so diskret erwiesen hat, was er mir beichtete, sah ich doch nicht ein, weßhalb ich mir die langgewünschte Freude versagen sollte, Ihnen zu danken!“

Die kleine Rede ward mit so anmuthiger Herzlichkeit hingesprochen, daß ihr beste Wirkung nicht fehlte. Lisbeth antwortete warm und natürlich, die Majorin ward sehr sympathisch berührt und kam, als die junge Frau neben ihr Platz genommen hatte, sogleich mit ihr in die Art vertraulichen Gespräches, welches sich zwischen Müttern jedes Alters leicht ergiebt. Während beide Damen sich so eingehend unterhielten, sagte Rank, der vor Lisbeth stehen geblieben war, im behaglichen Ton eines alten Freundes:

„Sind Sie neulich gut nach Hause gekommen? Sie verschwanden spurlos wie ein Hexchen; die Kunst sich unsichtbar zu machen, scheint Ihnen überhaupt nicht fremd zu sein! Aber Sie sehen, was dabei schließlich zu Stande kommt –“ seine Finger glitten in die Brusttasche und ließen ein kleines Wollknäuel sehen. Als sie rasch die Hand ausstreckte, um es an sich zu nehmen, schüttelte er lachend den Kopf und sagte nachdrücklich:

Diesen Faden gebe ich nicht mehr heraus!“




Vierzehn Tage später saßen Lisbeth und Rank beisammen am kleinen Zeichentisch im Giebelfenster. Sie hatten eines der nicht nachzuschreibenden Gespräche geführt, die von Tisch und Stühlen künftiger Hauseinrichtung auf alles Höchste und Tiefste überspringen und, gleich dem lieben Gott, sogar aus Nichts eine Welt erschaffen. Nun saßen sie schweigend und schauten einander an.

„Morgen, wenn Du fort bist, werde ich Mühe haben zu glauben, daß Alles wahr ist –“ sagte Lisbeth endlich wie aus dem Traume heraus; „kann man sich über Nacht an das Glück gewöhnen? So lange, lange dacht’ ich, Du hättest den Nymphenburger Tag völlig vergessen!“

Diesen Tag? O Kind, das Erinnern fing viel früher an! Dein rothes Fädchen hielt mich vom ersten Moment an festgebunden und flatterte hinter mir her, wo ich ging und stand. Weit entfernt davon, meine Augen zuzuhalten, wenn Reizendes mir begegnete, that ich sie im Gegentheil weit und fleißig auf; aber weil Du Dich zweifellos auf schwarze Kunst verstehst, hatte dies Gesicht hier wie ein Bild im Rahmen in meiner innersten Behausung seinen unverrückbaren Platz. Als Du mich nun gar aus dem Wasser anlachtest, war ich ein verlorener Mann, und wer weiß, was schon damals geschehen wäre ohne – – soll ich Dir beichten? Ja? – Du selbst hattest mich mit wirksamem Gegengift versehen, als Du mir sagtest, Du seiest Künstlerin. Allen Respekt vor Kolleginnen – aber zwei Bildner sind für eine Wirthschaft zu reichlich. Darum wagte ich mich damals nicht in Dein Haus, obgleich mir die Thür aufgethan war und wenig daran lag, an welchem Tage ich weiter reiste. Ich wollte nichts weiter von Dir hören und sehen, Deine goldbraunen Augen hatten mir schon genug zu Leide gethan. Wer konnte aber noch an Widerstand denken, als wir hier nochmals zusammengeweht wurden? Seinem Schicksal entgeht Keiner! Künstlerin oder nicht war Nebensache, ich begann Dich auf allen Gassen zu suchen – diesmal war es aber das Hexchen, das sich nicht finden ließ. Lisbeth ist ein holder Name, aber er steht in keinem Wohnungsanzeiger, und so hing unser Glück wirklich an einem Fädchen! Aber Du bist so stumm, geliebter Schatz? Hab’ ich Dir mit meiner Beichte etwas zu Leide gethan? Schau mich an! Wer weiß, was diese Händchen noch im Sinne haben!“

„Nichts – nichts, als Dich zu hegen, Liebster!“ sagte sie ganz leise und schloß beide Hände um seinen Hals in einander. „Es war nur ein tödliches Entbehren, hinzuleben ohne Kunst! Du schenkst sie mir aber tausendmal herrlicher, als diese schwachen Hände sie jemals fassen und halten könnten, und ich bin glücklich, glückselig!“



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_626.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)