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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

So unbehaglich es Karli bei der ganzen Sache um Sanni’s willen zu Muthe war, jetzt mußte er sich Gewalt anthun, um nicht hell aufzulachen. Es lag nicht in seiner Natur, weiter zu denken, als ihm gerade Ohr und Auge reichte. Sonst hätte er wohl das unheimlich Drohende und Beängstigende erfassen müssen, das aus der ganzen Art und Weise des Bygotters sprach, und statt des mühsam verhaltenen Lachens, das ihm die Thränen in die Augen trieb, hätte ihn vielleicht ein bangendes Grauen überkommen. Auch mit dem Sinn der Worte, die er hörte, machte er sich wenig zu schaffen – sie waren eben sinnlos für ihn. Und so hielt er sich nur an das Aeußerliche dieser Sprache, die in der That bei all ihrer grollenden Leidenschaft etwas von dem lächerlich steifen Pathos und dem kauenden Tone hatte, mit welchem ein schwerhöriger Bauer, für dessen Zunge das Hochdeutsch eine Arbeit bedeutet, seinem frommen Herzen in einsamer Sonntagsstunde die Bibel vorliest.

Als der Bygotter geschlossen hatte, blieb er lange Minuten regungslos mit ausgebreiteten Armen stehen und starrte in die Höhe, als erwarte er eine Stimme aus den Lüften oder ein Zeichen am Himmel. Dann plötzlich riß er, wie in jählings ausbrechender Wuth, vom Halse an sein Gewand entzwei, raufte den Bart, schlug mit den Fäusten die entblößte Brust und schrie mit heiser gellender Stimme: „Er hört mich nicht – will nicht hören das Rufen meiner Seele – nicht riechen den Rauch meines Brandes – nicht sehen die Flammen meines Feuers! Ekel und Aas ist ihm mein Opfer!“

Mit beiden Händen griff er in das verglimmende Feuer, und unter keuchenden Worten, deren Laute in Stöhnen und Schluchzen unverständlich erstickten, schleuderte er die halbverkohlten Scheite und die mit Funken gemischte Asche nach allen Seiten aus einander.

„O lieber, lieber Heiland – Vaterl – Vaterl!“ jammerte Sanni, während sie in zitterndem Schreck in die Höhe sprang und an die Seite des Vaters eilte. Der schien beim Anblicke seines Kindes wie aus einem wilden Traume zu erwachen. Schlaff sanken ihm die Arme nieder, und ein heftiges Zittern befiel seine hohe, magere Gestalt. Offen klaffte sein Mund, und mit glühenden, blutumränderten Augen starrte er in das bleiche, von Schreck und Angst verwirrte Gesicht des Mädchens. Nun streckte er langsam die eine Hand, spannte die knöchernen Finger um Sanni’s Arm, und während er die flackernden Blicke gegen Himmel hob, klang es in dumpfen Lauten von seinem Munde: „Und es geschah nach diesen Dingen, daß der Herr ihn versuchte – und Gott rief ihn bei seinem Namen – und da sprach er: hier bin ich!“

Wieder schaute der Bygotter in Sanni’s Gesicht, vorgeneigten Kopfes und mit einem Blick, als wolle er durch ihre angstvollen Augen tief in ihr Herz und ihre Seele schauen. Dann richtete er sich straff empor.

„Komm!“

Mit beiden Händen faßte er Sanni’s Hand und führte sie langsamen Schrittes mit sich fort ins Haus.

Dem Burschen droben in der Buchenkrone war zu Muthe, er wußte selbst nicht wie. Nun war ihm denn doch das Lachen vergangen. Was er zu der seltsam erschreckenden Wendung, welche dieser für ihn närrische Auftritt genommen, sich denken sollte, das wußte er freilich nicht. Er fühlte nur die drückende Angst, die in seinem Herzen um Sanni erwacht war. Mit Worten konnte er sich’s allerdings nicht sagen, was er denn eigentlich für das Mädchen besorgte. Aber von einem Narren war eben Alles zu befürchten. Denn daß der Bygotter ein Narr sei, das war jetzt bei ihm ausgemacht, das hatte er gleich, nachdem sich hinter den Beiden die Thür geschlossen, kopfschüttelnd und mit flüsternden Worten ausgesprochen:

„Na, na – so a Narr – der is ja ganz verruckt – der g’hört ja hinter Schloß und Riegel!“

Mit verlorenen Blicken irrten seine Augen über die Wiese, über den verlassenen Altar und über die im Grase zerstreuten Kohlenreste, von denen einzelne noch in dünnen Fäden rauchten. Dann suchte er wieder die Thür, und so saß er, keinen Blick von dem Hause verwendend, erregt und beunruhigt von jedem gedämpften Geräusche, das von da drüben seine lauschenden Ohren traf. Er hatte dabei so viel mit seinen langsamen Gedanken zu schaffen, daß er gar nicht merkte, wie schnell ihm die Zeit verrann. Schließlich zog er aber doch einmal die Uhr hervor, und da erschrak er völlig, als sie ihm die neunte Stunde zeigte. „Jesses na – jetzt muß ich gehn – jetzt kann ich nimmer länger warten!“ stammelte er trübselig vor sich hin.

Schon wollte er sich zum Niedersteigen anschicken, als er drüben am Bygotterhäuschen die Thür gehen hörte. Und die helle Freudenröthe schlug ihm in die Wangen, als er Sanni mit einem hölzernen Wassereimer über die Schwelle treten und um die Hausecke verschwinden sah. Da wurden seine langsamen Gedanken gar flinkfüßig, und er hatte es gleich heraus, daß sie zum Brunnen ging, der hinter dem Hause war, im entlegensten Winkel des Gartens, gegen die Fenster vollkommen gedeckt durch die Stämme und das wirre Epheugeschling der beiden alten Eichen, welche das Dach beschatteten. Da war auch jede Spur von Rücksicht auf die schöne Montur vergessen. Mit einem hurtigen Rutsch erreichte er den Boden, rannte an der Umfriedung entlang, und als er die dem Brunnen zunächstliegende Stelle erreichte, schwang er sich kurz besonnen auf die Schneide des Zaunes. Das ging nun freilich ohne Rascheln und Poltern nicht ab – und Sanni, welche am Brunnen auf die Füllung des Eimers wartete, blickte erschrocken auf. Ein leiser Schrei huschte von ihren Lippen, als sie auf der Höhe des Zaunes die himmelblaue Gestalt erscheinen sah. Aber sie hatte den Burschen schon erkannt, noch bevor ihr Karli mit leisen Worten zurufen konnte: „Mußt net erschrecken – ich bin’s – ich – der Karli.“

Doch dieses Erkennen schien ihren Schreck noch zu mehren. Abwehrend streckte sie die Arme vor, als Karli niedersprang ins Gras und ihr entgegen eilte. Und während er mit glückseligem Lächeln und leuchtenden Augen ihre beiden Hände faßte, bewegten sich wortlos ihre Lippen und kein Tropfen Blut war in ihrem Gesichte.

„Hab’ ich Dich recht erschreckt – geh’ – Du Hascherl, Du arms!“ flüsterte er und drückte im Uebergefühl seiner Freude beinahe Sanni’s Finger wund. „Aber schau, es is nimmer anders ’gangen – und ich hätt’ in Frieden net fort können, ohne daß ich Dir’s g’sagt hab’ – weißt – einrucken muß ich – auf vier Wochen – zu die Manöver.“

Da löste sich Sanni’s Zunge. „Karli – Karli – um tausendgottswillen thu’ ich Dich bitten,“ stammelte sie mit versagender Stimme, während eine namenlose Angst aus ihren großen, blauen Augen sprach, die in ruheloser Hast zwischen dem Burschen und dem Hause hin und wieder glitten, „geh’, Karli – um Gottswillen geh’ – der Vater – wann er Dich sehen thät’ – Du kennst ihn net – er kann zum Fürchten sein!“ Ein Schauer überflog ihre schmalen Schultern.

„Fürchten? Ah na! Ich fürcht’ kein’ Menschen net, und schon g’wiß net, wann’s um Deinetwegen is!“

„Na, Karli – Du weißt net – schau – schier gar kein’ Herzschlag spür’ ich nimmer – vor lauter Angst. Du kannst net denken, wie er is – und jetzt erst – kaum a halbe Stund’ kann’s her sein, da hab’ ich ihm bei Blut und Leben schwören müssen, daß – daß –“ Ihre Worte stockten, und eine brennende Röthe flog über ihre schmächtigen Wangen. Dann schaute sie mit einem herzinnig flehenden Blicke zu ihm auf und weinte: „Thu’s mir z’ lieb, Karli – und geh’!“

Und mit zitternden Händen schob sie ihn schon von sich und dem Zaun entgegen.

„Ja, ja, Alles – schau – Alles thu’ ich, was Du haben willst,“ stotterte er verwirrt und unwillkürlich ein wenig angesteckt von Sanni’s Angst, „Alles thu’ ich – aber z’erst mußt mir sagen, ob auch a Bißl an mich denken magst, derweil ich fort bin?“

„G’wiß, Karli – g’wiß – in jeder Stund’ – hundertmal in jeder Stund’!“

Da wurde es ihm nun schwer, einen hellen Juhschrei zu unterdrücken. Aber die beiden Hände streckte er, faßte Sanni am Kopfe, zog die Widerstrebende stürmisch an sich und –

„Susanna! Wo bleibst Du so lange?“ tönte hinter dem Hause die zornige Stimme des Bygotters.

Erbleichend stieß Sanni den Burschen von sich. Der aber hätte einer solchen Mahnung nicht mehr bedurft. Mit einem einzigen Satze gewann er den Zaun, und rascher noch, als er vom Walde hereingekommen, stand er wieder draußen unter den Bäumen, mit dunkelrothem Gesichte, mit hämmerndem Herzen, lauschend unter fliegenden Athemzügen. Er hörte die Schritte des Alten näher kommen, hörte ihn seine Frage wiederholen und hörte die tonlose Antwort seines Mädchens: „Ich komm’ ja schon, Vater.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_634.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)