Seite:Die Gartenlaube (1887) 635.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Susanna! Was hast Du? Was ist geschehen? Warum zitterst Du? Warum bist Du so blaß?“

„So viel – erschrocken bin ich, Vater – a Wiesel – ja – a Wiesel is mir aus die Bretter ’raus an d’ Füß’ hing’fahren.“

„Närrin! Ein Thier ist Gotteswerk wie Du und ich!“

Langsam hörte Karli die Schritte der Beiden sich entfernen. Erleichtert athmete er auf, drückte kichernd die Augen zu, setzte die verschobene Mütze zurecht, klopfte den Rindenstaub von der blauen Montur und eilte hastigen Ganges davon. Er kehrte nicht auf die Straße zurück, sondern suchte durch Birken- und Weidengebüsch den nahen Fußpfad zu gewinnen, der sich bis in die Nähe des Dorfes immer am Ufer des Baches hielt.

Freudige Zufriedenheit war vorerst der einzige Ausdruck in Karli’s Zügen. Als er aber die Ereignisse der letzten Minuten noch einmal an sich vorüberziehen ließ, schien sich diese Zufriedenheit merklich zu mindern. „Das armselige Bußl hätt’ ich ihr dengerst noch geben können – auf die einzige Sekund’ da wär’s jetzt auch nimmer an’kommen,“ meinte er und machte eine verdrießliche Miene zu der Erfahrung, daß die besten Einfälle immer zu spät sich einzustellen pflegen. Dann dachte er an alles Andere, was diesen letzten Minuten vorausgegangen, und da war er gleich mit sich darüber einig, daß irgend etwas zur Erlösung Sanni’s geschehen müßte. Bevor er aber noch denken konnte, was da zu thun wäre, fiel es ihm wieder ein, daß jede Maßregel gegen den Bygotter auch auf Sanni eine schlimme Wirkung üben würde. Da war es ja eigentlich seine Pflicht, von Allem zu schweigen, was dieser Morgen ihm verrathen hatte; denn wenn die frommen Seelen des Dorfes oder der Hochwürdige im Pfarrhofe von diesem gottlästerlich heidnischen Treiben erfahren würden, das müßte einen schönen Spektakel setzen, aus dem der Bygotter wohl kaum mit heiler Haut entrinnen möchte. Dem Burschen schauderte ordentlich der Rücken bei dem Gedanken, was Alles ein unvorsichtiges Wort da heraufbeschwören könnte. Aber dem Götz, das wußte er, dem durfte er sich ohne Sorge anvertrauen und der würde auch sicher einen guten Rath zu dieser verwickelten Geschichte finden.

Unter solchen Gedanken hatte Karli die Nähe des väterlichen Hofes erreicht und sah von Weitem schon den Götz am Zaune stehen. Der Knecht schien ihn erwartet zu haben, und zwar mit Ungeduld, denn er winkte mit den Armen und rief dem Burschen entgegen: „Ja, Bua, wo bleibst denn so lang? Jetzt hast aber Zeit! Bis in d’ Station ’nein zieht sich der Weg. Länger als a halbe Stund’ darfst Dich nimmer verhalten; sonst versäumst mir noch den Zug und ruckst am End’ gleich mit Straf’ bei Deiner Schwadron ein.“

Als Karli zu Götz an den Zaun herantrat, sah er, daß inmitten des Hofes schon die leichte Einspännerkutsche von Stoffel in Bereitschaft gesetzt wurde, während unter der Stallthür soeben Martl mit der Frage erschien: „Was is? Soll ich einspannen?“

„Ah na, es is noch Zeit. Aber den Schimmel kannst derweil anschirren,“ erwiederte Götz und wandte sich wieder zu Karli, der jetzt den Hof betrat. „No, wie hat’s Dir ’gangen? Weil gar so lang ausblieben bist, mein ich, wirst dengerst ’was ausg’richt’ haben?“

„Da hast Recht! Für heut’ bin ich woltern z’frieden,“ lächelte der Bursche und wollte schon einen ausführlichen Bericht beginnen, als er Kuni unter die Hausthür treten sah.

Merkwürdig! Er hatte die ganze Zeit über so viel gedacht – und hatte dabei Kuni völlig vergessen.

„Du, da paß auf, was Dir ich Alles zum verzählen hab’,“ flüsterte er dem Knechte zu. „Aber jetzt muß ich z’erst um meine Sachen schauen. Wir Zwei haben ja noch Zeit mit einander – oder net? Du fahrst mich doch in d’ Station ’naus?“

„Natürlich, das is doch g’wiß, daß ich mir das von kei’m Andern net nehmen lass’.“

„No also, nachher richt’ ich mich jetzt z’samm’ derweil.“

Und steif erhobenen Kopfes stelzte Karli auf die Thür zu, an deren Pfosten Kuni mit verschränkten Armen gelehnt stand. Ihr Gesicht war nicht so frisch und rosig wie sonst. Ein müder Zug lag um ihre Lippen und eine leichte Blässe deckte ihre Wangen. Ihre Augen allein waren unverändert – es war in ihnen eher noch ein heißeres Funkeln, ein unruhigeres Leben als je.

Mit wohlwollendem Lächeln und freundlichen Blicken empfing sie den Burschen. Karli meinte, er sähe das gleiche Lächeln und die gleichen Blicke, die sie stets für ihn gehabt. Und dennoch war etwas ganz Eigenes in diesem Lächeln und diesem Blick. Mit scherzenden Worten schalt sie ihn wegen seines befremdlichen Ausgangs und wegen seines verspäteten Heimkommens. Er zuckte die Schultern und redete sich auf die „guten Kameraden“ aus, „wo Ein’ aufhalten auf Schritt und Tritt“. Ohne ihr ins Gesicht zu sehen, drückte er sich an ihr vorüber und schaute in die Stube, die er leer fand.

„Wo is denn der Vater?“

„Davon is er, an nothwendigen Gang hat er g’habt.“

„Ah was, nothwendig! Hätt’ auch daheim bleiben können, wann er weiß, daß ich fort muß auf vier Wochen.“

„No schau, schiergar die gleichen Wort’ hat der Vater g’sagt: hätt’ auch daheim bleiben können, der Sakrabua, am letzten Tag’.“

Gegen die Logik dieser Erwiederung fand Karli nichts mehr einzuwenden. Aergerlich zog er die Thür zu, deren Klinke er nicht aus der Hand gelassen, und stapfte an Kuni vorüber die Treppe hinauf.

Mit funkelnden Augen schaute sie ihm nach, und während sie so mit ihren beweglichen Blicken seine kräftige, schmucke Gestalt verschlang, erschien in ihren Zügen ein Ausdruck, fast wie Bedauern um irgend ein Etwas, fast wie peinigender Aerger über irgend ein Geschehenes, das nun nicht mehr ungeschehen zu machen war. Als aber Karli in der Höhe der Treppe verschwand, kehrte sie sich trotzig auf den Hacken um, und nach der offenen Küche sich wendend, drückte sie den Kopf in den Nacken und stieß mit zornigen Worten hervor: „Ah was – jetzt mag’s gehen, wie’s geht!“

(Fortsetzung folgt.)




Von der Camorra.

(Schluß.)


Es war bisher nur von der sogenannten „Camorra di piazza“, der Beherrscherin des Marktes, die Rede; jetzt bleibt uns noch übrig, auch die Camorra im Gefängniß kennen zu lernen; denn der Kerker war in der Blüthezeit dieses Geheimbundes seine eigentliche Wiege, Pflanzstätte und Domaine. Der erste Keim der Camorra soll sich, wie die Forscher der nationalen Zustände versichern, in den Zuchthäusern gebildet haben und erst von da aus in das bürgerliche Leben eingedrungen sein.

Jedenfalls war für den Camorristen, den Sohn des Volks, der vor dumpfen übelriechenden Räumlichkeiten nicht zurückbebte, die Freiheitsentziehung eine sehr zweifelhafte Strafe; denn jedes Zuchthaus stand mit allen übrigen Strafplätzen des Königreichs beider Sicilien sowie mit den städtischen Sektionen der Camorra im innigsten Wechselverkehr.

Sobald ein neu eingelieferter Sträfling den gemeinsamen Gefängnißraum betrat, wurde ihm von der Camorra der Beitrag „für das Lämpchen der Madonna“ – so lautete die herkömmliche Formel – abverlangt. Wehe dem, der mit leeren Händen kam! Kein Aufseher konnte ihn vor den blutigsten Mißhandlungen schützen, bis er Mittel und Wege fand, das Eintrittsgeld zu entrichten. Doch waren damit seine Verpflichtungen gegen die Camorra keineswegs abgetragen; auf Schritt und Tritt mußte er sich ihre Ueberwachung gefallen lassen, konnte ohne ihre Genehmigung nicht die kleinste Handlung vornehmen und schuldete ihr bis zum Tage seiner Freilassung den zehnten Theil jeder Einnahme. Und nicht zufrieden mit diesen direkten Kontributionen wußte die Camorra ihre unglücklichen Opfer durch indirekte Steuern völlig auszusaugen. Sie verkaufte an die Mitgefangenen Tabak und Wein, wofür sie gleichsam das Monopol hatte, vermiethete den Bemittelteren die vom Staat für jeden Einzelnen gelieferten Matratzen oder Strohsäcke, während sie die Armen auf dem nackten Boden zu schlafen zwang; sie besteuerte das Spiel, zu dem sie die Sträflinge zwang, und kaufte ihnen zu niedrigem Preis ihre neuen Kleidungsstücke oder die Hälfte der eben

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_635.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2023)