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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


gefaßten Ration ab, um sie durch das Geld zum Weiterspielen nöthigen zu können, und die Summen, die sie solchermaßen dem nackten Elend auspreßte, sollen in der Woche eine sehr beträchtliche Höhe erreicht haben.

Vor allem verfügte sie über die Waffen, deren Tragen sie allem Reglement zum Trotz einem Gefangenen gestatten oder verbieten konnte und die hundertmal konfiscirt immer aufs Neue beschafft wurden. Die Angehörigen der gefangenen Camorristen wußten sie auf tausend scharfsinnige Arten hereinzuschmuggeln; die Sträflinge verfertigten sie selbst aus eifrig gesammelten Nägeln, entwendeten Eisenstückchen, Ketten etc., die sie nächtlicherweile einschmolzen und zwischen zwei Steinen, wovon der eine als Hammer, der andere als Amboß diente, schmiedeten. Trotz der unermüdlichen Jagd, welche die Schließer auf diese oft ellenlangen Messer machten, gelang es ihnen höchstens durch Spionage dann und wann eines aufzufinden, etwa hinter dem Bewurf des Gemäuers oder in einem sorgfältig ausgehöhlten und wieder verstopften Hausgeräth, wie zum Beispiel in den hölzernen Löffeln der Sträflinge, die ein bequemes Futteral dieser Dolche abgaben.

Der im Jahre 1848 zum Tode verurtheilte und zum Zuchthaus begnadigte italienische Patriot und Schriftsteller Luigi Settembrini erzählt sehr ergötzlich, wie eines Tages ein höherer Officier mit einem ganzen Bataillon Soldaten im Gefängnißhof von Santo Stefano einrückte und verkünden ließ, die Gefangenen hätten binnen drei Stunden ihre sämmtlichen Waffen in den Hofraum herunterzuwerfen, wer eine einzige zurückbehalte, würde augenblicklich erschossen. „Drei Stunden lang regnete es Messer von allen Formen und Arten in den Hof herunter, und es wurden über tausend eingesammelt. Aber sobald die Soldaten abgezogen waren, tauchten die Waffen wie durch Zauber von Neuem auf.“

Als zwei andere bekannte Patrioten, M. Persico und Baron Poerio, in das Castel Capuano gebracht wurden, empfing sie dort bei ihrem Eintritt ein Camorrist, der ihnen mit einer tiefen Verbeugung im Namen der Camorra zwei Dolche zur Wahrung ihrer Sicherheit überreichte.

Solche Auszeichnung von seiten des Geheimbundes wurde jedoch nur den politischen Gefangenen zu Theil, die selbst ihren halb entmenschten Schicksalsgenossen Sympathie und Bewunderung einflößten, wiewohl die Camorra an der nationalen Bewegung keinen Theil nahm. Der gemeine Sträfling dagegen mußte sich, wollte er seines Lebens sicher sein, unter den persönlichen Schutz eines Camorristen stellen, der sich für seine Dienste bezahlt machte, indem er dem unglücklichen Schützling den letzten Sou aus der Tasche zog.

Freilich ließen nicht alle Verurtheilten diese Herrschaft gleich willig über sich ergehen, und zuweilen konnte es dann wohl geschehen, daß die Auflehnung einem Unerschrockenen gute Früchte trug.

So jenem calabresischen Priester, von dem M. Monnier erzählt. Da derselbe kein Oel für die Madonna beizusteuern vermochte, weil er keinen Sou besaß, hob der Camorrist den Stock gegen ihn.

„Wenn ich eine Waffe hätte,“ rief der Calabrese, „so würdest Du Dich hüten, mir so zu begegnen.“

„Daran soll es nicht fehlen,“ antwortete der Camorrist, in seiner Ehre gekränkt, holte eilig zwei große Messer, wovon er eines dem Calabresen reichte, und setzte sich in Positur. Aber der Priester war der Gewandtere und tödtete seinen Gegner. Jetzt erst gerieth er in Furcht, denn er fühlte sich doppelt bedroht durch die Strenge der Justiz auf der einen und den Groll der Camorra auf der andern Seite. Doch zu seinem großen Erstaunen entging er, Gott weiß wie, jeder Gefahr. Nicht nur daß die Camorra die ganze Angelegenheit vertuschte, vielleicht um ihre Autorität nicht zu erschüttern, sondern der Priester fand überdies Abends beim Zubettegehen einen großen Haufen Kupfermünzen auf seinem Kissen. Es war sein Antheil am „barattolo“, den man ihm wie einem neuen Gefährten von da an bis zur Abbüßung seiner Strafe jede Woche pünktlich auszahlte.

Zu der eben erzählten Geschichte, so wunderbar sie klingen mag, werden von Allen, die je mit der Camorra zu thun hatten, unzählige Seitenstücke berichtet. Diese rohen, nur durch persönlichen Muth ausgezeichneten Menschen respektiren Den, welcher der Gewalt Gewalt entgegensetzt und wissen ihn nicht besser zu ehren, als indem sie ihn für ihres Gleichen anerkennen.

Auch den Gefängnißbehörden wußte sich die Camorra als eine Macht gegenüber zu stellen, und nicht selten wurde sie von den Schließern, die mit ihr auf bestem Fuße standen, in Anspruch genommen, um widerspenstige Mitgefangene niederzuhalten oder verborgene Missethaten ans Licht zu bringen.

Zuweilen aber brachen im Schoß der Genossenschaft selbst Konflikte und Feindseligkeiten aus, die zu dämpfen die Kerkermeister alsdann machtlos waren. Die politischen Mitgefangenen haben Schilderungen blutiger Schlachten hinterlassen, die sich in den Zuchthäusern abspielten und ihren Anlaß in Eifersüchteleien und inneren Zerwürfnissen der Camorra hatten. Doch auch ohne solche Massenkämpfe feierte das Messer nicht, und häufig wurde das Gefängniß Schauplatz eines regelrechten Bluturtheils, von der Camorra an treulosen oder rebellischen Mitgliedern vollzogen. Nur selten gelang es der Behörde, einen solchen Verurtheilten durch Isolirung oder Versetzung in ein anderes Gefängniß zu retten, die Sentenz wurde augenblicklich sämmtlichen Häuptern der Camorra, den Internirten wie den auf freiem Fuße Befindlichen, bekannt gemacht, und überall, so weit der Arm der Camorra reichte, also im ganzen Königreich, lauerte der Dolch seiner Richter auf den Schuldigen.

In offener Versammlung wurde das Urtheil gesprochen und alsdann ein „Picciotto“ mit der Vollstreckung desselben betraut. Entzog sich der Erwählte seinem Amt, so verfiel er selbst wegen Insubordination dem gleichen Schicksal.

Für geringere Vergehen gab es andere Strafen wie zeitweilige Enthebung vom Amte, Entziehung des „barattolo“ etc., die alle mit eiserner Strenge gehandhabt wurden.

Wenn jedoch ein gefeiertes Oberhaupt, einer von den Auserwählten, die im goldenen Buch der Camorra stehen, von der Staatsgewalt wegen irgend eines Verbrechens verurtheilt wurde und im Gefängniß seinen festlichen Einzug hielt, so konnten an einem solchen Freudentag alle über seine geringeren Brüder von dem Bunde verhängten Strafen durch eine Generalamnestie aufgehoben werden.

Von der Bestrafung eines Camorristen, der eine unabsichtliche Indiskretion gegen die Gesellschaft begangen hatte, berichtet ein Augenzeuge folgendermaßen:

„Bei einem Festmahl, das die Kameraden abhielten, mußte der Schuldige in einer Saalecke stehen und alle erdenklichen Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Er wurde geschlagen, geohrfeigt, angespuckt, und erst mit Schluß der Mahlzeit nahm seine Buße ein Ende.“

Derselbe Gewährsmann theilt noch andere Details über die strenge Disciplin der Camorra mit. Wenn bei dem allmorgendlichen Rapport der Camorristen in seinem Stadtviertel, so erzählt er, einer der Anwesenden aus Versehen rede, ohne aufgefordert zu sein, oder die Hände, die zusammengelegt sein müssen, entfalte, so springe der Vorgesetzte auf und traktire den Ungeschickten mit Ohrfeigen, was diese gewaltthätigen, rachsüchtigen, an Blut gewöhnten Männer ohne Murren über sich ergehen ließen.

Es ist klar, daß eine so streng organisirte und dabei so geheime Institution, über welche es ja noch heutigen Tages schwer hält, genaue Aufschlüsse zu bekommen, in ihrem Mutterboden viel zu tiefe Wurzeln geschlagen hat, als daß ein Regierungswechsel und der gute Wille der neuen Staatsgewalt genügt hätten, um das Uebel von Grund aus zu vertilgen. Doch ist in Neapel ein großer Schritt auf diesem Wege geschehen, und vor Allem ist durch die allgemeine Wehrpflicht mit dem beständigen Garnisonswechsel ein neuer Geist in das Volksbewußtsein eingedrungen: der Name des Camorristen hat aufgehört, ein bewunderter Ruhmestitel zu sein; sah ich doch selbst unlängst einen neapolitanischen Marinesoldaten Thränen hilfloser Wuth vergießen, weil ein Vorgesetzter aus den nördlichen Provinzen die Aeußerung gethan hatte: „Neapolitaner ist gleichbedeutend mit Camorrist.“

Anders leider verhält es sich in Sicilien, wo die Mafia noch alle Zweige des bürgerlichen Lebens und der Verwaltung durchdringt und wo Dank der Abgeschlossenheit der Insel und den unausrottbaren Traditionen des Brigantenwesens noch auf lange Zeit alle Bemühungen scheitern werden, das 19. Jahrhundert unmittelbar dem Feudalismus und dem Faustrecht aufzupfropfen. Isolde Kurz.     



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