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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

No. 40.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Lisa’s Tagebuch.

Erzählung von Klara Biller.
Dresden, den 8. Juni 1886. 

Du willst wissen, wie sich Alles zugetragen hat, liebe einzige Lenotschka? Da hast Du die ganze ausführliche Geschichte — wem theilte ich sie lieber mit als Dir!

Denke nur, noch kein Monat, seit wir in Riga von einander Abschied nahmen, und so Viel schon erlebt! Ja, liebes Herz, nun bin ich recht froh, daß Mademoiselle Vertueux mich auf den Gedanken brachte, Alles aufzuschreiben, was mich interessirt. Damals schien’s mir so unnöthig.

Du erinnerst Dich doch an den Tag, wo Mama mich aus der Pension holte und Mademoiselle Vertueux sagte: „Ich glaube, es ist überflüssig, gnädige Frau, daß Lisa ihr Piano übt oder singt — sie hat gar kein musikalisches Gehör.“

„Wie schade — so soll sie fleißig malen.“

„Mademoiselle Lisa fehlt leider auch für die Kunst das heilige Feuer, ohne das man Nichts erreicht.“

„Mein Gott,“ rief Mama enttäuscht, „hat meine Jüngste denn gar keine Talente?“

„Professor Steinberg findet, daß Mademoiselle Lisa sich mit der Feder gar nicht übel ausdrückt, und wenn …“

„Pfui — ein Blaustrumpf! In unserer Familie ein Blaustrumpf — Horreur!“

„Gnädige Frau — Madame de Sevigné gehörte zur besten Gesellschaft, obgleich sie sehr gute Briefe schrieb. Lassen Sie Mademoiselle Lisa jeden Tag ein paar Seiten aufsetzen über ein Buch, das sie gelesen, oder einen Besuch, den sie gemacht hat, oder …“

Mama seufzte schwer.

„Es ist das Rechte nicht — nein, durchaus nicht, aber immerhin eine Beschäftigung. Und wenn man ein junges Mädchen ohne jede Beschäftigung läßt, so kommt es auf unnütze Gedanken.“

Die arme Mama! Ich weiß, was sie traurig macht. Sie liebt und bewundert uns sehr und ist nie glücklicher, als wenn Andere uns auch bewundern. Haben wir Gäste und Natalie singt, sieht sie wie verklärt aus. Sie behauptet, Dimitri habe sich zuerst in Nataliens Stimme verliebt. Auch auf die fein ausgeführten Bildchen von Julie ist sie sehr stolz. Sie giebt so viel Geld für Rahmen aus.

Mit meinen Stilübungen kann sie freilich keinen Staat machen; ich glaube, sie schämt sich ihrer sogar ein wenig. Arme, liebe Mama! Ich will sie ja auch Niemand zeigen! (Außer meiner herzallerliebsten Lenotschka, versteht sich!)

Mir selbst haben sie schon glückliche Stunden gemacht. Wenn man das Herz so recht voll hat und Niemand, dem man sich anvertrauen kann, fängt man mit sich allein zu reden an …

Aber nun ist’s genug — jetzt darfst Du das Buch aufschlagen — das ist ja eine ordentliche Vorrede geworden!


Dresden, den 10. Mai 1886. 

Mama hat sich in Frau von Pestov nicht getäuscht, obgleich sie diese doch nur zweimal gesehen hat. (Ich glaube, Mama täuscht sich nie!) Sie war wirklich eine sehr gute Reisebegleiterin. Als wir das Tücherschwenken unserer Lieben von der „Olga“ aus nicht


Schwarzblattl.0 Nach einer Gouache-Zeichnung von Hugo König.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_649.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)