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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Was ist ein Kind werth?
Ein Wort für kinderlose Gatten und elternlose Kinder.

Sollte die obige Frage satirisch behandelt werden, so würde man die schlagendste Antwort in einer Zeitung von 1885 finden, welche über eine Versteigerung von Kindern an den Mindestverlangenden Bericht erstattet. Derselbe lautet: „Die Steigerung fand Dienstag Abend den 14. April statt. Die arme Mutter, Wittwe eines Arbeiters in der Gasfabrik B., wohnte dem Akte in unbeschreiblicher Aufregung bei und hörte nicht auf, den Ausrufer zu unterbrechen. ‚Ein Knabe von 10 Jahren, um welchen Preis nimmt Jemand diesen Knaben bis zum Ende des Jahres?‘ 40 Franken! 35, 30, 28 Franken! Zugeschlagen! Die Mutter protestirt, sie will das Kind behalten um 20 Franken, ohne Entschädigung; sie verlangt nichts, wenn man ihr nur die Kinder läßt, morgen schon will sie den Ort verlassen. Man gebietet ihr Schweigen; der Handel geht weiter mit den übrigen drei Kindern, und bald sind die armen Kleinen alle ,untergebracht’. Ein Mädchen von 8 Jahren für 31 Franken, ein anderes von 6 Jahren für 40, das dritte, kaum 2 Jahre alt, für 70 Franken. Das wäre also der Pauschalwerth eines Kindes?“

Wir wollen weder den Namen der Zeitung noch des Landes nennen, auf welches diese Thatsache einen Schatten werfen könnte. Ist doch kein Land von solchem Schatten frei und das Los vieler armer und verwaister Kinder noch immer das beklagenswertheste – trotz der sehr anerkennenswerthen Fürsorge von Regierungen, Ortsbehörden und Wohlthätigkeitsvereinen für dieselben.

Es ist ein erhebendes Zeugniß für das Walten edler Sitte und Bildung, daß in dem Grade, wie sie blühen, auch das Los der armen Waisen sich gestaltet. War dies schon im alten Griechenland und Rom (namentlich unter Kaiser Trajan, den beiden Antoninen und Alexander Severus) der Fall, so erwies doch erst das Christenthum, als es zur Herrschaft über Europa gelangt war, sich vor Allem auf dem Gebiete der Wohlthätigkeit als die wahre Religion der Liebe. Wo Stiftungen und Klöster sich der Armen, Kranken, Wittwen und Verlassenen annahmen, da erbarmte man sich auch der verlassensten Armen, der Waisen. Berühmtheit erlangten durch Stiftungen und Gründungen dieser Art in Italien Karl Borromeo im 16. Jahrhundert, im 17. Jahrhundert Vincenz von Paul in Frankreich und in Deutschland August Hermann Francke, der Stifter des großen Waisenhauses in Halle an der Saale. Doch hatten schon im Mittelalter die durch Handel und Industrie zu hoher Blüthe gediehenen deutschen Städte und namentlich die freien Reichsstädte (Augsburg voran) in der Gründung von Waisenhäusern viel Gutes geleistet. Dabei hing freilich immer die Behandlung und Pflege der Kinder von der glücklichen Wahl oder strengen Beaufsichtigung der sogenannten Waisenväter ab. Nicht immer zum Vortheil dieser Anstalten gereichte es, als neuere gesetzliche Regelungen des Armenwesens die Sorge für die Waisen da, wo keine Stiftung für sie bestand, den Stadt- oder Dorfgemeinden zuwiesen. Es muß erwähnt werden, daß die vielen Kriegsjahre in Deutschland die Verarmung vieler Landstriche herbeigeführt hatten, und wir müssen es wohl als eine der traurigsten Folgen der schweren Schicksale der Nation angeben, daß man noch zu Anfang unseres Jahrhunderts so häufig Irren-, Zucht- und Waisenhaus unter einem Dach finden konnte. Die Waisenkinder waren eben eine öffentliche Last, die man, weil man sie tragen mußte, sich möglichst leicht zu machen suchte. Armen- und Hirtenhäuser mußten herhalten, wo es keine Waisenhäuser gab, und selbst wo diese als öffentliche Anstalten erhalten wurden, verrieth schon das Aeußere der Waisen, daß vom Glück der Kindheit wenig auf sie kam.

Da sahen wir sie, wenn sie vom Waisenvater ins Freie geführt wurden, je Zwei und Zwei in langer Reihe blaß und freudlos dahin wandeln; wie neidisch blickten sie zu den Spielplätzen der andern Kinder hin, von denen sie für immer geschieden waren, und wäre es nur wegen ihrer Waisenkleidung gewesen. Unwillkürlich stellte man sich die Frage: warum diese armen Kinder von Allem entfernen, was die Familie allein dem Kinde bieten kann? – Da konnte es wohl einem kinderfreundlichen Poeten einfallen, mit zornigen Versen an die Herzen der Menschen zu Pochen, wie:

Müssen Waisenkinder blaß aussehen?
Muß das Waisenkleid die Armen scheiden
Ewig von der Kindheit Blumenthal?
Darf kein Hauch der Liebe sie umwehen
Darf erwärmen sie kein Freudenstrahl?

O wie jauchzt der freie Schwarm im Spiele,
Wangen roth und Augen lusterglüht –
Streng in Reihe nach gestrengem Ziele
Zieht die Schar der armen bleichen Kinder,
Matten Auges, wie im Keim verblüht.

Schweigt, die ihr von Liebe liebt zu sprechen
und der wahren Liebe Wort nicht glaubt!
Jedes Waisenhaus ist ein Verbrechen
An den Herzen all der armen Kinder,
Denen es das Glück der Liebe raubt! -“

Niemand wird leugnen, daß es eine Zeit gab, wo diese Klage gegen viele Waisenhäuser eine gerechte war; dafür zeugt ja am lautesten der Eifer, mit welchem man den Gedanken erfaßte, Waisenkinder in Pflege und Erziehung in Familien unterzubringen. Das arme, ohne Eltern- und Geschwisterliebe in der Welt stehende Kind sollte nicht mehr durch das Waisenkleid von allen andern Kindern geschieden werden: es sollte einem häuslichen Kreise angehören, sollte wenigstens Theil haben an der Liebe, welche den Kindern der Familie zu Gute kam. Das klang so schön und hätte so segenbringend für die Kinder sein können, wenn nicht wieder die obrigkeitlichen Rechenexempel dazwischen gekommen wären. Anstatt für jedes Kind, dem Alter angemessen, eine bestimmte Summe für Nahrung und Pflege festzusetzen, versteigerte man die Kinder an die Mindestfordernden – offenbar nicht zum Besten der armen Kinder, sondern zu dem der Gemeindekassen. Unter solchen Umständen mußte das Schicksal der Waisen dem glücklichen Zufall ungewöhnlicher Gutmüthigkeit solcher Pflege-Eltern überlassen sein. Wo aber ein Kind nur des Kostgelds wegen aufgenommen war, da hatte es auch den obrigkeitlichen Kassenvortheil als bitteren Nachtheil zu tragen. Schon den Beispielen von Mißhandlung solcher Kinder, welche an die Oeffentlichkeit gekommen sind, ist die traurige Vermuthung zu entnehmen, daß der gute Gedanke dieser Einrichtung recht oft nicht in Erfüllung gegangen ist.

Daß die „Engelmacherei“ nicht bloß in England, Frankreich etc. zu suchen war, sondern auch bei uns die Reihen der Kindergräber schreckbar vermehrte, hat zu dem Guten geführt, daß dem Ziehkinderwesen von verschiedenen städtischen Armenämtern endlich eine gewissenhafte Aufsicht zu Theil wurde.

Wenn diese dem Ziehkinderwesen allenthalben gewidmet würde, so wäre von demselben der schwerste Vorwurf genommen, denn ein anderer, der von der eifrigen Verfechterin des Anstaltssystems, Helene Adler („Ueber Waisenerziehung“, Frankf. a. M., W. Erras), erhoben wird: „daß mit diesem System das Kind zu einer Erwerbsquelle für Andere erniedrigt werde“, greift zu weit und ist auch den Anstalten nicht ganz zu ersparen. Soll aber, neben Nahrung und körperlicher Pflege, ein Hauptgewicht auf die Erziehung gelegt werden, so gewinnt eine in allen Theilen gute Anstaltseinrichtung, bei welcher „das Zusammenleben der Kinder in einem gemeinschaftlichen Hauswesen“ nicht zu „Schablonendressur und sklavischer Zucht“ mißbraucht wird, allerdings wieder die Vorhand, denn Das ist wenigstens unwiderleglich, „daß man leichter einen oder mehrere tüchtige Erzieher für Hunderte von Waisen, als gleiche Hunderte von würdigen und fähigen Pflege-Eltern finden kann“.

Die größte Empfehlung für das Anstaltssystem sind in jüngster Zeit die Reichswaisenhäuser zu Lahr, Schwabach und Magdeburg und das Kriegerwaisenhaus zu Römhild geworden. Dabei ist’s erfreulich, daß man von Lahrer Seite ausdrücklich erklärt, die Leiter des Reichswaisenhauses seien keineswegs grundsätzlich gegen die Erziehung der Waisen in Familien, wenn dieselbe im rechten Sinn und Geiste geführt werde; sie sähen aber in der Anstalt, unter gleicher Führung, auch nichts Anderes, als eine Familie im Großen, die bemüht ist, arme, verlassene Waisen für ihr späteres Leben glücklich zu machen. – Wir stimmen der Meinung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_665.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)