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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

September, doch das Wetter außerordentlich schön und der Gletscher fast gänzlich schneefrei, wie es von unten mit dem Fernrohre leicht überschaut werden konnte.

Ueber meiner Unternehmung waltete von allem Anfang an trotzdem ein Unstern. Es schien, als ob sämmtliches Mißgeschick, welches in den Alpen überhaupt möglich ist, alle seine Register aufgezogen hätte.

Der erste unliebsame Zwischenfall war schon der, daß ich auf den Wochentag nicht Obacht gegeben hatte. Es war in der Abenddämmerung eines Sonnabends, als ich in dem hoch gelegenen Gebirgsdorf ankam. Ich hatte übersehen, daß ich am nächsten Morgen, an einem Sonntage, nicht zur richtigen Stunde würde aufbrechen können, weil an diesem Tage der Führer nicht fortgeht, ohne vorher dem Frühgottesdienste beigewohnt zu haben. Bis derselbe von der weit entlegenen Kirche zurückkam, war der um diese Jahreszeit bereits so beschränkte Tag um kostbare Stunden verkürzt.

Das war der erste Fehler. Ich machte aber alsbald einen noch viel bedenklicheren. Im Wirthshause saß ein Tourist, welcher ursprünglich nur die Absicht gehabt hatte, bis hierher zu kommen, um sich den vergletscherten Hintergrund des Thales zu betrachten. Als derselbe von meiner Absicht hörte, stellte er sich alsbald vor und bat mich, mit von der Partie sein zu dürfen. Der Mann sah zwar ziemlich kräftig aus, jedoch mochte ich nicht ohne weiteres zusagen.

Ich fragte ihn, ob er bereits auf irgend einer Hochspitze gewesen sei. Er antwortete:

,Ich habe den Großen Venediger bestiegen.‘

‚Das ist kein Berg,‘ entgegnete ich.

Der Fremde schaute mich verwundert an, zog ein Buch aus der Tasche und sagte: ,Laut Baedeker ist der Große Venediger 3673 Meter hoch. Der Kogel hat nur 3200 Meter.‘

Ich zuckte die Achseln. Die Bergerfahrung eines Mannes, welcher Schwierigkeiten in solcher Weise nach der Höhe abschätzt, konnte unmöglich eine entsprechende sein. Indessen erzählte er mir von manch anderer Besteigung, die er da und dort unternommen hatte – kurzum, während des Abends, theilweise auch unter dem Einflusse eines guten Rothweins, schwand allmählich mein Bedenken, und ich machte keine Einwendung mehr dagegen, daß der Fremde, der seines Zeichens ein Ingenieur aus Mitteldeutschland war, sich an dem Gange betheiligte.

Am nächsten Morgen erwarteten wir vergeblich die Rückkehr des Führers aus der Kirche. Statt seiner kam ein Knabe, welcher uns die Meldung machte, der Mann sei um Mitternacht nach dem weit entfernten Marktflecken fortgegangen, um einen Thierarzt zu holen, da seine Kuh von einem plötzlichen Unfall betroffen worden war.

Es blieb uns also nur übrig, entweder den Gang aufzugeben oder uns nach einem anderen Führer umzuschauen. Das war aber damals nicht so leicht wie heute. Jetzt hat der Alpenverein in allen Thälern Führer, die von ihm aufgestellt oder beglaubigt sind, zuverlässige Leute, die ihre Befähigung nachweisen können und bei denen man weiß, mit wem man es zu thun hat. In unserem Falle war die Sache anders. Der Wirth stellte uns einen starken Burschen vor, den er für unsere Unternehmungen empfahl. Hinterher machten wir allerdings die Erfahrung, daß derselbe niemals auf dem Berge gewesen war, nicht einmal den sich unten hinziehenden Paß je überschritten hatte und auch im Uebrigen die Bezeichnung eines nichtsnutzigen Menschen verdiente. Seine Empfehlung verdankte er dem Umstande, daß er dem Wirth für Getränke etliches Geld schuldete und der Wirth sich bei dieser Gelegenheit mit dem Führerlohn des Mannes bezahlt zu machen hoffte.

Ein wenig Aberglauben könnte vielleicht unter Umständen nicht schaden. Nachdem sich bereits das eine und andere Hemmniß vor mir erhoben hatte, hätte ich den Gang aufgeben sollen. Indessen war das Wetter über alle Beschreibung schön, der Spätherbst mit seinen Schneefällen stand vor der Thür, und es erschien mir zu verlockend, vor Abschluß der schönen Jahreszeit noch diesen Gang zu unternehmen und zum letzten Mal in diesem Jahre die Welt aus dem Reiche des Glanzes herab zu betrachten.

Es war mehr als acht Uhr Morgens, als wir unseren Weg antraten, wenigstens um vier Stunden zu spät. Wir waren noch keine Stunde gegangen, als meinen Gefährten noch innerhalb der Waldregion ein erster Unfall traf. So warm, ja heiß uns die Sonne anschien, wenn wir zeitweilig auf eine Blöße hinaustraten, so hartnäckig stockte noch die Kälte der langen Nacht an den beschatteten Seiten der Berghalden. Wir stiegen an mehreren Wasserfällen vorüber, die uns mit ihrem Staube eisig annetzten. Plötzlich hörte ich vor mir einen Schrei. Mein Gefährte, der Ingenieur, fuhr blitzschnell über einen steilen Hang zwischen abgehackten Baumstämmen in die Tiefe.

Zur Linken rieselte eine starke Quelle, deren Wasser, sich auf dem stark geneigten Boden ausbreitend, allmählich sich in einen Eiswulst verwandelt hatte. Auf diesem Eiswulst lagen bereifte, welke Blätter, welche der Herbstwind dorthin geweht hatte. Auf den Blättern war mein Gefährte ausgeglitten und abgestürzt.

Zum Glück konnte er sich etwa zehn Meter weiter unten festhalten. Er krabbelte mühsam neben der Art von Miniaturgletscher, über welchen er abgeglitten war, herauf. Diesmal war er mit einem blutigen Knie davongekommen.

Als wir die Waldregion im Rücken hatten und bei den letzten zerzausten flechtenbehangenen Tannen und Zirben angekommen waren, wurde uns eine Ueberraschung zu Theil.

Von dem letzten Rasen weg bis hinauf zu einem Halbkreis von Felsen, auf welchen der Gletscher aufliegt, zieht sich eine steile Geröllhalde. Diese, ein wahres Sammelbecken für hineingewehten Schnee, war in ihrer ganzen Ausdehnung von tiefem Neuschnee überlagert, was wir freilich von unten aus nicht zu erblicken vermocht hatten.

Jetzt war es an uns, den Unterschied zwischen Schatten und Sonne ordentlich zu studiren. Es war furchtbar, eine wirkliche Hölle, was wir an Glanz und Hitze auszustehen bekamen, während wir im tiefen Schnee steil in die Höhe wateten. Im Hochsommer hätte ich das vielleicht weniger verspürt, aber der Körper war durch die vorangegangene Kühlung bereits empfindlicher geworden.

Einen aus dem Schnee hervorragenden Block benützte ich, von Schweiß triefend, einige Augenblicke zur Rast. Mein Gefährte hatte sich athemlos auf seinen Plaid mitten in den Schnee hineingeworfen.

Als ich im Stande war, einige Worte zu sprechen, machte ich mir das Vergnügen, laut aus dem Fegefeuer des Dante die Verse zu citiren: ,Wenn auch langsame Liebe zieht, es zu sehen, so foltert euch dafür nach gerechter Reue dieser Felsenkranz.‘ Der Dichter schien diese Verse im Anblick eines Menschen niedergeschrieben zu haben, dem es gerade so erging wie mir.

In hohem Grade erschöpft erreichten wir endlich den untersten Rand des Gletschers. Dieser, der vom Thale aus nicht gesehen werden konnte, bot nun einen ganz anderen Anblick dar als im Frühsommer. Damals hatte der Schnee die Klüfte verstopft, wenn solche gegen das untere Ende hin überhaupt vorhanden gewesen waren. Jetzt durchzogen weite Spalten das Eis von einer Felswand zur andern. Es war kein Gedanke daran, über diese hinwegzukommen.

Da auch der Führer, der sich hier völlig kopflos erwies, keinen anderen Rath wußte, schlugen wir uns auf der linken Seite des Gletschers über die glatten, manchmal von langen Kaminen durchfurchten Felsen hinauf. Bei dieser mühsamen und nicht unbedenklichen Kletterarbeit, welche uns zu andrer Jahreszeit erspart geblieben wäre, steigerten sich die Schmerzen im Knie meines Gefährten. Sein Gang wurde immer schleppender und zögernder. Schon jetzt sah ich ein, daß von einer Erreichung des Gipfels für heute keine Rede mehr sein könne.

Die Frage war jetzt nur noch, ob wir zu dem Quartiere von heute Nacht zurückkehren oder den Paß überschreiten und die erste menschliche Ansiedelung jenseit desselben aufsuchen sollten. Ich entschied mich aus mehreren Gründen für das Letztere. Die Entfernung war ungefähr die gleiche. Auf der Südseite war der Gletscher von geringerer Ausdehnung und hoffentlich kein so lästiges Schneefeld zu überschreiten, wie hier. Was mich aber hauptsächlich bewog, diesen Ausweg zu wählen, war die Rücksicht auf eine Knappenstube, die sich dort drüben in ziemlicher Höhe befand. Im schlimmsten Falle würden wir, so hoffte ich, dort ein Obdach finden können.

Nachdem ich meinem Gefährten – thatsächlich war ich der Führer geworden – diesen Entschluß mitgetheilt hatte, schlugen wir die Richtung nach der Jochhöhe ein, die nicht mehr weit entfernt war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_675.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)