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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Ich ließ ihm nun den Strick hinab, forderte ihn auf, sich anzubinden, und rief nach dem Führer, daß er mir beim Ziehen behilflich sein solle. Keine Antwort. Betroffen schaute ich herum. Der Führer war verschwunden.

Ich weiß nicht, durch welche plötzliche Erleuchtung mir die Wahrheit, so unwahrscheinlich sie sein mochte, augenblicklich in das Bewußtsein trat. Dieser sogenannte Führer, bereits eingeschüchtert von meiner Strafpredigt und jetzt durch das Einbrechen meines Genossen ganz außer Rand und Band gebracht, hatte sich geflüchtet und war in seiner Dummheit einfach davongelaufen, um sich irgendwo den Folgen, die er fürchtete, zu entziehen.

Das war nun aber noch nicht das Schlimmste. Mein Genosse rief mir zu, er stütze sich mit seinen beiden Händen auf den Eisbuckel und wage es nicht, denselben auch nur mit einem Arme loszulassen. Er fürchte sich davor, sich die Schlinge um den Leib zu legen.

Ich machte ihm begreiflich, daß wir in diesem Falle alle Beide verloren sein könnten, denn mir bliebe jetzt nichts Anderes übrig, als zu ihm hinab zu klettern und einen Versuch zu wagen, ihm selbst die Schleife um den Leib zu legen. Machte ich dabei einen Fehltritt und glitt ab, so würden wir alle Zwei in der Kluft begraben sein.

Auch das machte keinen Eindruck auf ihn. So blieb mir nichts Anderes übrig, als mich ungefähr in der Weise eines Kaminfegers hinabzulassen. Aus unsichtbarer Tiefe rauschte das Wasser herauf, aus der Dunkelheit zog sich ein Luftstrom in die Höhe, der Einem das Mark erstarren machen konnte. Ich nahm mein Messer zu Hilfe und tiefte, mich vorbeugend, da und dort Höhlungen aus, in welche ich alsdann die Fußspitze einsetzte.

Auf diese Weise gelangte ich so weit in die Nähe meines Genossen, daß ich ihn zu berühren vermochte. Aber auch jetzt wagte er es noch nicht, mir die Hand zu reichen, um das Seil entgegenzunehmen. Eben so wenig getraute er sich aufzustehen, obwohl ich ihn mit einer Hand von oben herab festgehalten hätte. Dabei wiederholte er stets die Worte: ,Es ist umsonst, ich erfriere, ich erfriere.‘

Indem ich jetzt mich noch weiter, bis auf den Vorsprung seines Eisbuckels hin, hinabließ, ihn zwang, seine Arme vom Eis zu entfernen, damit ich ihm die Schleife unter die Achsel schieben konnte, und mich nur mit einer Hand an einen Eiszapfen der jenseitigen Wand festhielt, schwebte ich selbst in der alleräußersten Lebensgefahr. Wenn ich sage: ‚schwebte‘, so ist dieses Wort in seiner eigentlichsten Bedeutung zu nehmen.

Ich verlor deßhalb auch keinen Augenblick, mich sofort wieder in die Höhe empor zu zwängen, sowie ich verspürt hatte, daß die Schlinge unter den Achseln fest saß. Trotz der Kälte in Angstschweiß gebadet und schier athemlos, erreichte ich den Rand der Kluft.

Nachdem ich mich etwas gesammelt hatte, rief ich dem Verunglückten zu, er möge sich nun mit dem nächsten Rucke, den er verspüre, aufraffen, seine Kniee ordentlich zu Hilfe nehmen, sich je nach Umständen mit den Händen am Seile oder am rauhen Eise halten und sich in die Höhe zerren lassen.

Umsonst. Ich weiß nicht, wie es geschah, aber es ging nicht. War meine Kraft nicht ausreichend genug, stellte sich mein Genosse zu ungeschickt oder zu furchtsam – er kam um keinen Fuß weit in die Höhe. Statt dessen hörte ich, wie er mit schwacher Stimme herauf rief, ich solle ihn zu Grunde gehen lassen.

Jetzt fiel mir in meiner Angst bei, daß es mir in der stillen Nacht vielleicht gelingen könne, die Insassen der Knappenstube, die auf dieser Höhe einen bescheidenen Bergbau auf Smaragde trieben, durch Schreien aus ihrem Schlafe zu erwecken. Die Knappenstube konnte nach meiner Rechnung in der Luftlinie kaum mehr als zwei Kilometer weiter unten liegen. Es war also nicht undenkbar, daß Rufe gehört wurden.

Eben schickte ich mich an, einen durchdringenden Schrei auszustoßen, als mir die Stimme in der Kehle erstarb. War es denn heute nicht Sonntag und wußte ich nicht, daß die Knappen des Sonnabends ihre Hütten verlassen, um erst Montags früh wieder zurückzukehren?

Ich gestehe offen, daß ich jetzt unsere Partie für verloren gab. Wohl versuchte ich es noch unzählige Male, den Verunglückten emporzuziehem und redete ihm unablässig zu. Aber es rührte sich nichts und seine Antworten wurden immer schwächer und einsilbiger.

Mit einer Art von Wuth gedachte ich zeitweilig meines letzten Ganges über dieses Gebirge im Frühsommer. Es war ein herrlicher Spaziergang durch glänzende Gefilde hindurch gewesen, kein Schatten von Anstrengung oder Beschwerlichkeit hatte mir den wundervollen Tag getrübt. Und jetzt, diese Reihe von Widerwärtigkeiten, die schließlich an ein offenes Grab führten!

Wie lange es so fort ging – ich weiß es nicht mehr. Plötzlich hörte ich Geräusch hinter mir auf dem Eise. Als ich mich umwandte, standen zwei Männer vor mir.

Es waren der Hutmann der Knappenstube und ein Schmied aus dem obersten Dorfe des Thales.

Die Sache hatte sich so zugetragen. Der Hutmann war, statt wie gewöhnlich an Montagen gegen Morgen, schon vor Mitternacht aus dem Thale aufgebrochen. Er hatte sich den Schmied mitgenommen, der ihm einen Fehler am Pocher ausbessern sollte, damit die Maschine schon wieder in Gang gesetzt werden konnte, wenn in der Frühe die Knappen heraufkamen. Auf dem Wege waren die beiden Männer dem flüchtigen Burschen begegnet. Die Gewissensbisse, welche denselben quälen mochten, veranlaßten ihn, von seinen Abenteuern wenigstens so viel zu erzählen, daß diese begriffen, um was es sich handelte.

Für den Augenblick wurde wenig gesprochen. Die beiden Männer machten nicht viel Federlesens, sondern rissen mit vereinten Kräften, denen sich meine schon ermüdeten Arme beigesellten, meinen Genossen an die Oberfläche empor.

Es war höchste Zeit geworden. Wenn mir,“ so schloß der Botanikus seine Rede, „jene Nacht in der Erinnerung bleibt, so wird, wie ich glaube, der gute Ingenieur Zeit seiner Tage um so lebhafter daran denken.“

„Diese Geschichte,“ bemerkte nach einer Weile Justus von Liebig, „bietet allerdings eine Reihe von widrigen Zufällen, wie sie in dieser Aufeinanderfolge nicht leicht vorkommen mögen. Daß sie nicht wesentlich zur Sache gehören, beweist der Verlauf des früheren Ganges, welchen der Vertreter der lieblichen Wissenschaft, den wir soeben gehört haben, über den nämlichen Berg hin zurückgelegt hat. Ich glaube, daß wir, wenn wir die Geschichte alpiner Unglücksfälle verfolgen, fast bei jedem derselben auf ein ähnliches Ungefähr stoßen, das so wenig zur Sache gehört, wie etwa die Entgleisung eines Zugs in die Fahrordnung. Wenn solche Dinge einerseits zur Vorsicht mahnen, so wäre es andererseits nicht genug zu beklagen, wenn dadurch eine oberflächliche Betrachtungsweise sich von den Wundern der Alpenwelt abschrecken ließe. Jene hohe und glanzvolle Region ist und bleibt einmal die Rüstkammer, in welcher sich Leib und Seele neue Gesichtskreise und neue Kräfte holen. Es ist gewiß kein Zufall, daß der Trieb, in die Welt dort oben einzudringen, sich gerade in einer Zeit besonders geltend macht, in welcher der harte Kampf des Kulturdaseins, der philisterhafte Eigennutz, die Streberei und die Jagd nach Gewinn dringend ein Gegenmittel und eine Gegenbewegung herausfordern. So macht es die Natur ja überall, im Leiblichen wie im Geistigen. Sie besitzt an sich eine eigene Heilkraft, welche entstehende Schäden auszugleichen trachtet. Rührt sich hier die rücksichtslose Selbstsucht, will sich das Geld auf den Thron der Erde setzen, so regt sich andererseits der Trieb nach dem seligen Glanze der Höhen. Lockt hier der Koupon, so winkt dort das Edelweiß.“

Jahre sind darüber hingegangen und ich habe mich oft jener Stunde zu Höhlenstein erinnert. Am eindringlichsten geschah dies in den letzten Tagen, als ich wahrnahm, daß man aus einer Reihe von Unglücksfällen hie und da fast Veranlassung nehmen will, die Alpenwelt in Bann zu legen. Was verschuldet ist an jenen Unglücksfällen und was zum Schutze der Touristen geschehen muß, soll hier nicht untersucht werden. In einer der nächsten Nummern wird eine berufene Feder diese Frage vor den Lesern der „Gartenlaube“ erörtern. Das Eine möchten wir aber schon jetzt betonen: Niemand fällt es ein, andere körperliche Uebungen als solche für das verantwortlich zu machen, was zeitweilig aus irgend welchem Grunde dabei Unliebsames vorfällt. – So wollen wir es auch mit dem Besuche der Alpenwelt halten. Nach wie vor werden alljährlich die ungezählten Tausende zu ihr emporpilgern wie zu einer Heilstätte und sich dort die Arznei holen für das, was das moderne Leben an ihnen verbrochen hat und verbrechen wird.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 696. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_696.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)