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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Das erste Jahr im neuen Haushalt.
Eine Geschichte in Briefen. 0 Von R. Artaria.
X.
Neustadt, den 4. April. 

Ach Marie, Marie, ich habe etwas Entsetzliches angerichtet und bin ganz verzweifellt darüber! Was ist doch ein böses Gewissen für eine schreckliche Sache! Das meine foltert mich unaufhörlich, daß ich manchmal glaube, ich kann es nicht länger aushalten. Und dabei heiter scheinen müssen mit der Todesangst: jetzt kommt es heraus! Ich will Dir Alles sagen; es wird mir leichter, wenn ich denke, Deine lieben Augen sähen mich trostvoll an. Helfen freilich könntest Du mir auch nicht; mir hilft Niemand mehr; ich denke manchmal, es wäre am besten, wenn ich sterben könnte!

Die Schuld an dem ganzen Unglück ist die abscheuliche Russin. O, wie ich sie hasse, diese Frau mit den geschminkten Wangen und dem falschen Lächeln! Nicht genug, daß sie mit Hugo kokettirt, wo sie ihn findet, nein, sie macht slch offenbar einen Spaß daraus, ihn bei Gelegenheit gegen mich einzunehmen; es ärgert sie vermuthlich, daß Zwei mit einander glücklich sind! So warf sie ihm neulich eine ganz perfide Bemerkung hin uber meine „Freundschaft" mit Dr. Brandt, der freilich in letzter Zeit ihre Fahne verlassen hat. Hugo entgegnete ihr wohl scherzend, sie müsse am besten wissen, welch’ ein ungefährlicher Verehrer der schöne Doktor sei; aber es ärgerte ihn doch und ich bekam hinterher ein paar gereizte Reden über mangelnde Vorsicht und Taktgefühl zu hören; daß ich darauf hin die arglistige Schlange nur noch als Luft behandeln würde, stand fest. Aber es kam anders, viel, viel schlimmer!

Ehe ich sie noch wiedersah, saßen wir vor zehn Tagen im kleinen Damenkreis bei Fräulein Berghaus zum Kaffee. Gerne bin ich nicht dabei, das weißt Du; aber ganz fortbleiben kann man eben doch nicht. Nun, da schwärmte denn Fräulein Frieda, die in neuerer Zeit sehr viel mit Frau von Kolotschine Klavier spielt, ganz enthusiasmirt von ihr und sagte, Jene sei das in Wirklichkeit, was zu sein Andere sich nur einbildeten, nämlich eine Dame aus der großen Welt. Na, darauf sagte ich denn auch Einiges; das Gespräch wurde animirt, und Fräulein Frieda brachte plötzlich eine Redensart vor, von einem interessanten tête-à-tête mit dem schönen Doktor, worin mich ja wohl neulich Frau von Kolotschine gestört habe. (Das war, als ich ihn auf der Straße zu jenem lustigen Abend einlud und mich abwandte, als ich sie kommen sah!) O, nun bekam ich eine solche Wuth über die miserable Person, daß ich gar kein Blatt mehr vor den Mund nahm, sondern in sehr kräftigen Ausdrücken meine Ansicht über sie und ihre Vergangenheit sagte. Die Andern saßen ganz still; Fräulein Frieda bemerkte nur bedeutungsvoll: „Das ist viel gesagt, Frau Assessor, das werden Sie hoffentlich Alles gewiß wissen!“

„Das weiß außer mir die ganze Stadt S…“ fuhr ich heraus. „Fragen Sie nur die Frau Amtsrichter, die auch von dort ist; wir haben noch kürzlich darüber gesprochen; sie erzählte mir eine ganze Menge Details von jener Geschichte.“

Auf dem Heimweg war mir gleich nicht recht wohl zu Muthe, und den Abend, wenn Hugo mit mir sprach, hatte ich immer das Gefühl, ich müsse ihm eine Schuld bekennen; dann aber dachte ich: pah! was für eine Dummheit! Du hast ja Nichts gethan, als was die Andern jahraus jahrein in ihren Cafés betreiben; es wurmt Dich nur, weil Du eine höher angelegte Natur bist.

Acht Tage gingen vorüber; ich dachte schon gar nicht mehr an die Geschichte; da trat eines Nachmittags um drei, als Hugo auf dem Bureau war, seine Mutter ins Zimmer, machte ihr finsterstes Gesicht und sagte kurz: „Setze Dich her, Emmy, ich habe mit Dir zu reden."

Das ist nun das Unangenehmste, Einem so zu kommen; man kriegt sogar Herzklopfen, wenn man sich ganz unschuldig weiß.

„Ist es wahr,“ eröffnete sie das Verhör, „daß Du neulich bei Fräulein Berghaus Frau von Kolotschine eine Abenteurerin nanntest?"

„Sie ist eine,“ fiel ich lebhaft ein.

„Nicht darum frage ich Dich, sondern ich will wissen, ob Du sie so genannt hast? Ich habe Dich bis jetzt auf keiner Unwahrheit gefunden. Also die Rede giebst Du zu?“

Ich nickte.

„Ist es ferner wahr, daß Du sehr kompromittirende Geschichten von der Dame erzähltest?“

„Als ob die nicht alle schon ohne mich bekannt gewesen wären!“

„Um so thörichter, daß Du Deinen Namen zur Deckung hergiebst. Und hast Du wirklich die Frau Amtsrichter als Quelle dieser Klatschereien genannt?“

Ich fühlte, daß mir das Weinen kam. „Das nimmt sich jetzt Alles ganz anders aus, wenn man es so zusammenhält. Ich habe Nichts über die abscheuliche Person gesagt, was nicht allgemein bekannt ist, und die Frau Amtsrichter sagte auch, daß sie gar nichts tauge und ihrer Schwester schon viel Kummer bereitet habe.“

„Das stellt die Frau Amtsrichter vollkommen in Abrede.“

Mir war, als finge das Zimmer an, sich zu drehen. War denn das möglich? Eine ältere, ganz brave und würdige Dame! Sie log ja geradezu, wenn sie so sprach. Auf der Stelle wollte ich zu ihr hin. Nur besann ich mich noch und fragte so muthig, als ich konnte: „Wie kommst Du denn zu Alledem? Warum stellst Du mich zur Rede?"

„Weil die Geschichte bereits in der ganzen Stadt herumgetratscht ist,“ erwiederte sie strenge, „und weil es mir nicht einerlei sein kann, wenn die Gattin meines Sohnes in eine Klage wegen Ehrenbeleidigung verwickelt wird. Emmy, Emmy," fuhr sie fort, während das Entsetzen mir die Zunge lähmte, „Du bist ein leichtsinniges, thörichtes Geschöpf, an dem ich wenig Freude habe. Bis jetzt schwieg ich, wenn mir manchmal Aeußerungen zu Ohren kamen, die Dein unbedachter Mund über mich gethan hat, eben weil es nur mich betraf; aber jetzt, wo es gar nicht fehlen kann, daß Hugo durch Dich in die unangenehmsten Verdrießlichkeiten geräth, wo morgen vielleicht schon der Schwager jener Frau – Du verstehst doch, was ein Officier in solchem Fall bedeutet? – hier vor Euch steht und Rechenschaft verlangt, da trieb es mich, zu kommen, um Dich in Kenntniß zu setzen. Ich weiß nicht, was Fräulein Berghaus gegen Dich haben kann; nur so viel sehe ich, daß sie die Seele dieser ganzen widerwärtigen Klatscherei ist. Freilich hoffte ich bisher noch, sie möge stark übertrieben haben. Wenn dem aber nicht so ist, wenn Du wirklich alles Das gesagt hast –“ sie konnte offenbar keine Worte mehr finden, um die Größe meines Verbrechens zu bezeichnen. Es war auch überflüssig; ich saß schon vernichtet genug, mit dem einzigen dunklen Gedanken: „Was thun, um Gotteswillen, was thun?!“

Endlich sprang ich in die Höhe. „Ich gehe zur Frau Amtsrichter hin; sie muß mir bezeugen, was wahr ist; ich habe nicht allein in dieser Sache gefehlt.“

„Wenn das Deine ganze Hoffnung ist,“ sagte aufstehend meine Schwiegermutter, „dann wäre es besser, Du gingest zu Frau von Kolotschine und suchtest Dich zu entschuldigen.“

„Nimmermehr!“ rief ich außer mir.

Wir nahmen kalten Abschied; ich zog mich an und lief nach Amtsrichters Wohnung. Schon beim Hinaufgehen durch das steingewölbte Treppenhaus mit den dunkel gebahnten Stufen fiel mir der Muth. Als ich aber oben eintrat und die stattliche, klug aussehende Frau unter einer Anzahl Waisenmädchen sitzend fand, denen sie Strick- und Nähunterricht ertheilt, da imponirte mir so viel Tugend und Verdienst dermaßen, daß ich nur stammelnd meine Bitte vorbrachte, sie allein sprechen zu dürfen.

Sie führte mich schweigend in ein Kabinet, und dort, verwirrt, unzusammenhängend, so ungeschickt wie möglich brachte ich meine Sache vor. Ihr Gesicht nahm einen immer abweisenderen Ausdruck an.

„Ja, ich habe davon gehört,“ sagte sie endlich, „und ich habe mich sehr gewundert, Frau Assessor, daß Sie es sind, die eine solche Klatscherei stiftet. Ich muß Ihnen sagen, daß ich das am wenigsten von einer Dame erwartet hätte, die so gern von der Höhe ihrer Residenzbildung auf uns Kleinstädterinnen herabsieht.“

„Es ist nun geschehen,“ sagte ich zerknirscht, „ich gäbe viel darum, könnte ich es ungeschehen machen. Aber für mich kommt jetzt Alles darauf an, nachzuweisen, daß ich nur Dinge sagte, die bereits bekannt sind. Und deßhalb, liebe Frau Amtsrichter, müssen Sie mir bezeugen, daß Sie ebenfalls davon sprachen."

„Ich muß?!“ erwiederte sie hoch erstaunt. „Aber es fällt mir ja gar nicht ein, meine beste Frau Assessor. Glauben Sie, daß ich Lust habe, mich von Ihnen in eine Klatscherei hineinbringen zu lassen? Ich lebe ruhig und friedlich unter meinen Mitmenschen, habe niemals mit Jemand Verdruß, und so Gott will, wird das so bleiben.“

„Aber Sie können doch nicht leugnen, daß Sie mir sagten –“

Hier unter vier Augen werde ich Ihnen nicht leugnen, was ich Ihnen, wohlverstanden auch unter vier Augen, sagte. Aber sowie Sie mich vor Zeugen zur Rede stellen, kann ich es leugnen und thue es, denn Sie haben gar kein Recht, meine liebe junge Frau, hier zwischen uns Unfrieden zu säen und Feindschaften zu stiften. Weil Sie, wie ich höre, auf Frau von Kolotschine eifersüchtig sind (lächerlich! ich und eifersüchtig!), deßhalb werde ich Ihnen noch lange nicht gegen diese Dame, die mir nicht das Mindeste zu Leide gethan hat, Gefolgschaft leisten. Jeder für sich selbst, meine liebe Frau Assessor. Vor Zeugen, merken Sie sich das, wenn Sie es noch nicht wissen sollten, vor Zeugen sagt man Nichts, was nicht wieder gesagt werden darf, und mas man ohne Zeugen gesagt hat, das kann man getrost in Abrede stellen, denn warum? Niemand kann es Einem beweisen.“

Damit strich sie mit vielem Selbstgefühl ihre schöne schwarzseidene Schürze glatt, und ich schwieg, vernichtet von der Höhe dieser Moral. Meine Schuld ist es ja ganz allein, ich, ich habe geklatscht, davon spricht mich Niemand mehr frei; ich möchte vor Scham vergehen …

Ueber allen diesen Aufregungen war es spät geworden. Ich ging außen herum an den Gärten heim; es war ein lauer Abend; droben am Himmel glänzte die Mondsichel, ein weicher Vorfrühlingshauch zog durch die Luft und über die Zäune her streckten sich die schwellenden Baumzweige. Der frische Erdgeruch weckte ein Gefühl von Hoffnung, als müsse nun Alles gut werden, wenn der Frühling kommt. Ich setzte mich auf ein Bänkchen am Weg und sah dem Flußlaufe nach in das stille Abendroth. Und es wurde mir so weh und traurig ums Herz!

Hugo – wie wurde er es aufnehmen, was er nun jeden Augenblick erfahren konnte? Sehr böse würde er zuerst wohl sein, aber dann – würde er mich dann schützen oder aus Gerechtigkeitsliebe preisgeben? Ich wußte es nicht; ich dachte nur, wie glücklich ich mich noch vor drei Tagen fühlte, wie froh im innersten Herzen. Damals wollte ich ihm etwas ganz, ganz Anderes sagen und zögerte, weil er in den letzten Tagen schlecht gelaunt war, und nun –. Ich kann mich noch nicht zum Bekenntniß entschließen; er wird mich zu streng verurtheilen!

Früher, wenn ich von Verbrechern hörte, dachte ich mir nichts weiter dabei; jetzt aber weiß ich, wie ihnen zu Muthe ist.

„Bist Du nicht wohl, Emmy?“ fragt Hugo, wenn ich so vor mich hinstarre, dann sage ich schnell: „O nein, ich dachte nur gerade an Etwas …“

O Marie, liebste Marie, was werden die nächsten drei Tage bringen? Wären sie vorüber! Ich schreibe Dir wieder, einstweilen habe Mitleid mit

Deiner armen Emmy. 



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