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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

gestanden hatte. Das war ein Zufall, der dem Wunsch des Reisenden völlig entgegenkam. Er verließ den Wagen, den Plaid auf den Schultern, den Koffer in der Hand, und gab der Frau das Goldstück mit den Worten:

„Sie sollen eine Mark für Ihre Bemühung haben.“

Die Frau verschwand im finstern Eingang; Herr von Perser folgte ihr bis in die höhlenartige Pförtnerwohnung, wo das nöthige Kleingeld sogleich beisammen war. Er ließ durch die Frau den Kutscher befriedigen und behielt die übrigen Münzen in der Hand, was den Anschein hatte, als ob er sie nach und nach an eine Schar Kinder zu vertheilen Lust hätte, die vom Spielen im Hofe abgelassen hatte, um den fremden Mann anzustarren.

Wahrscheinlich traute ihm auch die rückkehrende Frau solche Großmuth zu; denn die essigscharfen Züge ihres Gesichtes milderten sich, als sie die Frage beantwortete, wie lange sie schon in diesem Hause bedienstet sei.

Herr von Perser kannte kaum eine höhere Lebensklugheit, als unerwartete Freigebigkeit gegen untergeordnete Leute. Diese Tugend hatte ihm oft schon mit verhältnißmäßig geringen Kosten Vortheile gebracht, welche Andere mit großem Aufwand kaum erschwingen konnten. Jetzt beschäftigte er sich, immer in der Haltung, als ob er sich entfernen wollte, mit den Kindern, fragte sie, betheilte sie, brachte sie zum Lachen und wendete sich dann erst wieder der Frau zu mit der Bitte, ihm zu sagen, ob das Haus noch immer das Eigenthum des ostpreußischen Gutsbesitzers von Tartarow sei.

Der Name war der Frau ganz unbekannt; aber sie begann eine Erzählung von dem neuen Eigenthümer und rückte dabei ihrem Besucher einen Stuhl zurecht. Herr von Perser ließ sich nieder und hörte eine Weile zu, bis er gewiß war, daß die Mittheilungen der Frau nichts enthielten, was mit seinen eigenen Interessen eine Berührung hatte. So unterbrach er denn ihren Redestrom: „Die Familie Tartarow, der noch vor fünfundzwanzig Jahren das Haus gehörte, hat die zweite Etage des Vorderhauses bewohnt. Wer wohnt jetzt in dieser Etage?“

„Die verwittwete Geheimräthin,“ erwiederte die Frau und suchte, als Perser den Namen wissen wollte, nach einer Tafel, die eigentlich im Hausflur hätte hängen sollen und auf welcher die Bewohner der verschiedenen Etagen verzeichnet waren. Perser las den Namen: „Geheimräthin Brigitta Forstjung“ und versank in Nachdenken. Der Name war ihm ganz fremd, und sein Nachdenken bezog sich eben auf die Möglichkeit, in der ihm gewordenen Mittheilung einen Anhaltspunkt für sein Vorhaben zu finden.

„Brigitta!“ sagte er zu sich selbst und wußte nicht, ob dieser Frauenname schon in sein Leben eingegriffen hatte oder nicht. Es war aber thöricht, über einen Namen zu grübeln, der so verbreitet ist, und er entschloß sich endlich, rund heraus zu fragen, ob die Geheimräthin, die, wie die Frau gesagt, kinderlos war, die nach seiner Erinnerung sehr geräumige Wohnung ganz allein innehabe oder ob sie vielleicht Zimmer vermiethe oder zu vermiethen geneigt wäre.

„Ja,“ erwiederte die Hausmannsfrau, „es ist einmal davon die Rede gewesen; es läßt sich ja ein schönes Stück des Quartiers ganz von den vorderen Zimmern abtrennen. Die Geheimräthin ist aber nicht darauf angewiesen und hat darum keinen Zettel herausgehängt. Sie wartet, daß eine Person, die ihr paßt, von selbst kommt.“

Herr von Perser richtete sich hoch auf; sein Freiherrntitel fiel ihm ein, und Etwas sprach in seinen Gedanken dafür, daß damit das Passende schon gefunden sein müsse. Dennoch sank sein Haupt wieder und Schatten flogen über seine Stirn. Wieder kam er nach einigem Besinnen darauf zurück, ob denn aus der Zeit, da er selbst in diesem Hause gewohnt hatte, Niemand mehr am Leben wäre.

„Warten Sie,“ rief die Frau lebhaft, „ich weiß schon Einen. Haben Sie noch den Trödler gekannt, der bis vor fünf Jahren an der Ecke der langen Straße einen Laden gehalten hat? Man hat gesagt, er wär’ älter als das Haus. Er ist wirklich ein ganz zusammengeschrumpfter, uralter böser Geist. Ich weiß, daß er seit Ewigkeit den Laden gehalten und dabei immer hier im Hinterhause gewohnt hat, zwei Treppen hoch. Wie heißt er nur?“

Die Frau kramte in einer Schublade, in der sich verschiedene alte und beschmutzte Papiere befanden, und einen Streifen hervorziehend, fuhr sie fort: „Jetzt hat der Inspektor das Hinterhaus selbst zu versehen. Wir haben aber noch hier alle Miethsleute aufgeschrieben. Da steht es, wie er heißt.“

Perser las den Namen „Carmisoli“, und vor seiner Erinnerung tauchte ein Bild auf, welches selbst durch das Schwatzen der Frau nicht zerstört werden konnte.

„Wie ich Ihnen sage,“ sprach sie eifrig weiter; „vor fünf Jahren hat er den Laden aufgegeben, aber nicht das Geschäft und auch nicht seine Wohnung. Der muß sein Glück gemacht haben; denn früher hatte er da oben nur zwei Stuben und eine Küche. Jetzt hat er das ganze Stockwerk, es sind acht Zimmer. Alle sind voll von seinem Trödel. Es kommen aber auch vornehme Leute zu ihm, oft Damen in der Equipage, die dann oft eine Stunde vor dem Hause warten muß.“

„Ich erinnere mich sehr wohl,“ fiel Perser ein, der nicht widerstehen konnte, den Gedanken, die plötzlich seine Seele bewegten, lauten Ausdruck zu geben; „ich erinnere mich sehr wohl des Ladens, habe oft lange hineingeschaut auf den bunten Kram, wollte immer etwas kaufen und bin niemals dazu gekommen, weil ich niemals etwas gesehen habe, was ich hätte brauchen können. Und Sie glauben, meine gute Frau, daß Carmisoli über die früheren Bewohner des Hauses Auskunft geben könnte?“

Sie bejahte; er ließ Koffer und Plaid in ihrer Verwahrung und machte sich auf den Weg, den Trödler im Hinterhause aufzusuchen.




2.

Ludwig von Perser stammte aus einem freiherrlichen Geschlecht der Rheinprovinz. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte er die Universität der Hauptstadt besucht und in diesem Hause bei der seinem Vater befreundeten Familie des ostpreußischen Gutsbesitzers von Tartarow gewohnt. Damals war er nahe dran gewesen, sich mit einer englischen Dame, die aber von ihrer Kindheit an in Deutschland erzogen worden, mit einer Miß Isabel Glowerstone zu verloben. Der frühe Tod seines Vaters, welcher ein weit geringeres Vermögen zurückgelassen, als man zu erwarten berechtigt gewesen, hatte die Partie zerschlagen, und eine Zeit lang waren deßhalb fast tragische Entschlüsse im Busen des jungen Mannes aufgestiegen.

Allein er war mit seinem noch immer nicht unbedeutenden Erbtheil nach Paris gegangen, wo er seit fünfundzwanzig Jahren ununterbrochen gelebt hatte. Das Leben, das er geführt, war nicht gerade ein verschwenderisches gewesen, schon weil die Erinnerung an Miß Isabel niemals die Lust zu rauschenden Freuden recht hatte in ihm aufkommen lassen, eben so wenig wie die Möglichkeit, sich zu verheirathen. Dennoch sah er zuletzt sein Vermögen auf eine Weise reducirt, daß er nur noch hoffen konnte, unter befreundeten Menschen in Deutschland eine auskömmliche Existenz zu finden. Dabei war sein erster Gedanke die Familie Tartarow gewesen.

Was war aus den Tartarow’schen Mädchen geworden? Mit der jüngsten, die bei seinem Scheiden noch ein Kind war, hatte er sich nicht abgegeben, aber der damals zwanzigjährigen Johanna mußte er jetzt lebhaft gedenken.

Niemand war mehr in dem alten Gebäude vorhanden, der ihm über die ehemaligen Bewohner hätte Auskunft geben können, Niemand, als nach der Aussage der Hausmannsfrau der alte Trödler von der Straßenecke, Carmisoli, zu dem er jetzt die zwei Treppen hinanstieg.

Er zog die Klingel. Ein kleiner Bursche öffnete ihm und Perser trat in ein unerleuchtetes Vorgemach. Noch hatte er nicht gesprochen, als eine alte Person, der man die Köchin auf den ersten Blick ansah, mit einer Lampe in der Hand die Thür eines inneren Raumes öffnete. Jetzt konnte Perser gewahren, daß der kleine Bursche seltsam ausstaffirt war, halb wie ein Reitknecht, halb wie ein Page, nicht anders, als ob er selbst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_726.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)