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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

keuchte: „Und es geschah – nach diesen Dingen – daß mich der Herr – versuchte – und er sprach: nimm doch Dein Kind – Dein einziges – das Du liebest – und opfere mir – Dein Kind – auf einem Berge – den ich Dir sagen werde –“

Da wich aus Sanni’s Armen die letzte Kraft; wie Erstarrung kam es über ihre Glieder; sie stierte in das grinsende Gesicht des Vaters, erkannte den Wahnsinn in seinen glühenden Augen, erkannte, daß sie verloren war – und unter einem gellenden, markerschütternden Aufschrei schwanden ihr die Sinne.

Wie der Ton einer springenden Glocke zitterte dieser Schrei durch die Lüfte, weckte im Walde und an den kahlen Felsenwänden das Echo und drang über die schattige Schlucht – durch Bäume und Bäume – bis vor das kleine hölzerne Haus, vor dessen offener Thür Karli stand, den Hut in Händen, den Bergsack mit dem Wettermantel hinter den Schultern. Lauschend mit erhobenem Kopfe stand er. Vor kurzer Weile schon meinte er eine kreischende Stimme gehört und erkannt zu haben. Nun schlug der verhallende Schrei an sein Ohr – und da hielt es ihn nicht länger. Er schleuderte den Hut bei Seite und rannte zwischen den Bäumen dahin. Als er das Gehänge der Schlucht erreichte und den Ausblick nach der Sonnbergplatte gewann, bot sich seinen Augen ein Bild, das ihm unter Grausen und Entsetzen einen eisigen Schauer über den Nacken jagte. Der Herzschlag stockte ihm; er stand einen Augenblick wie gelähmt; nun aber stürzte er mit verzweifelten Sprüngen über den steilen Hang der Waldschlucht nieder, und während er sich auf der anderen Seite aufwärts mühte, stammelte er mit blassen Lippen: „Heilige Mutter – Dich thu’ ich bitten – g’rad net z’spät kommen laß mich – g’rad net z’spät!“

Als er den waldigen Saum der Kuppe erreichte, wankten ihm vor Erschöpfung die Kniee. Der Athem versagte ihm; er griff mit beiden Händen in die Luft und taumelte wider den Stamm einer Lärche. Doch unter dem ersten Blick, mit dem er die Höhe der Kuppe suchte, mit dem er die lodernde Flamme und den Scheiterhaufen gewahrte und auf ihm den weißen, leblos scheinenden Körper, halb verdeckt durch die Gestalt des Bygotters, der mit glühenden Augen gegen Himmel starrte und in der Rechten das blitzende Messer geschwungen hielt – bei diesem ersten Blicke schon kehrten ihm die verlorenen Kräfte zurück. Er warf die Arme in die Höhe und stürmte in gewaltigen Sprüngen den grasigen Hang empor. Unter seinen Füßen bröckelte der morsche Grund, Steine rieselten und rollten – das aber hörte der Bygotter nicht – der hatte nur Ohr und Auge für den Himmel und rief mit schäumendem Zorn in die Lüfte: „Herr – Herr – was schweiget Deine Stimme – siehe – ich stoße zu – ich stoße!“

Bei diesem Worte fuhr er mit der Linken in Sanni’s gelöste Haare und zerrte mit wilder Grausamkeit das todtenblasse Haupt seines Kindes über den Rand der Scheite nieder. In seiner Rechten zuckte die blitzende Klinge – doch ehe sie zum Stoße niederfahren konnte, schlugen sich Karli’s Hände mit eisernem Griff um den Arm des Bygotters. Dem sprangen jählings die Finger auf, im Bogen schwirrte das Messer über die Böschung der Kuppe hinaus – ein Laut, wie das kurze, heisere Brüllen eines rasenden Stieres – ein starrer Blick noch, Aug’ in Auge – dann lagen die Beiden an einander, Brust an Brust, Wange an Wange, mit regungslosen Armen sich umkrampfend. Kein Wort, kein Schrei, nur schnaubendes Keuchen und rasselnder Athem quoll aus ihrem Munde. Sie wichen nicht von der Stelle; sie schwankten im Ringen nur hin und her, und ihre Füße wühlten sich in die morsche Erde, während an ihren Gesichtern und Fäusten die Adern zu dicken Schnüren schwollen und die Haut in bläulicher Röthe sich straffte. Doch gegen die zähe Kraft des Wahnsinns kämpfte hier die doppelte Macht der Jugend und Liebe. Der Bygotter taumelte, und Karli gewann den ersten Schritt. Dieser kleine Vortheil stärkte und befeuerte seine Kräfte; er gewann einen zweiten Schritt, einen dritten. In wilder Verzweiflung rang und kämpfte der Bygotter; doch Karli zerrte, stieß und drängte ihn Schritt um Schritt aus der Nähe des Holzstoßes, mehr und mehr dem Absturz der Kuppe entgegen. Da wich der Grund unter den Füßen seines Gegners; Karli warf sich nach rückwärts und schmetterte zugleich die mit dem ganzen Aufgebot seiner Kräfte jählings befreiten Fäuste wider die Brust des Bygotters. Dieser taumelte, warf die Hände mit den Fetzen, die er aus dem Gewande des Burschen gerissen, schlagend in die Höhe, brach unter einem gurgelnden Wuthgeschrei in die Kniee und rollte und stürzte, von Staub und Steinen umwirbelt, über die steile Böschung nieder in das Felsenkar.

Karli stand und drückte die zitternden Fäuste auf seine Brust, die sich unter fliegenden Athemzügen hob und senkte. Die dunkle Röthe seines Gesichtes wandelte sich in fahle Blässe und wortlos rührten sich seine Lippen, während er dem Stürzenden den Rücken kehrte. Mit vorgestreckten Armen und laut aufschluchzend eilte er dem Scheiterhaufen zu. Doch mochten ihm Schreck und Grausen auch Herz und Seele füllen – als seine Blicke über die schutzlose Schönheit des Mädchens glitten, das in regungsloser Ohnmacht über den scharfkantigen Scheiten lag, überkam es ihn wie süßer Schauer. Mit einem zitternden Athemzuge schloß er die Augen und preßte die Fäuste über die Lider. Ein rappelndes Geräusch, das sich aus der Tiefe des Felsenkars vernehmen ließ, schreckte ihn auf.

„Heilige Mutter, o heilige Mutter –“ stammelte er, riß in angstvoller Hast das Messer von der Hüfte und durchschnitt die Stricke, mit denen Sanni’s Hände an die Knöchel ihrer Füße gefesselt waren. Dann raffte er seinen Wettermantel auf, der ihm während des Kampfes aus den Riemen des Bergsackes geglitten war, warf ihn über Sanni, und ihren Körper in die große weiche Kotze hüllend, riß er sie mit beiden Armen empor an seine Brust. Ihr blasses Haupt schwankte über seine Schulter, ihre gelösten Haare rieselten bis zu seinen Knieen nieder – er wollte sie noch bequemer legen; doch über den Rand der Kuppe tauchte schon das grausenhaft verzerrte, blutüberronnene Gesicht des Bygotters auf, und getrieben von Angst und Entsetzen stürzte Karli mit seiner Last davon. Er gewann den Schatten der Bäume und die Tiefe der Waldschlucht. Bei dem kühnen Sprunge, mit welchem er über das verwaschene Rinnsal des Baches setzte, erwachte Sanni aus ihrer Ohnmacht. Mit starren Augen schaute sie um sich, erkannte den Geliebten, schlang unter wimmernden Lauten die Arme um seinen Hals, und wieder schwanden ihr die Sinne.

Karli vermochte kaum mehr zu athmen; seine Kniee wankten; träger und schwerer wurden auf dem steilen Gehänge seine steigenden Schritte, und während tief aus dem Thal ein dumpfer verworrener Lärm und die rasch auf einander folgenden Schläge der Feuerglocke tönten, hörte Karli hinter sich schon das Brechen von Zweigen, das Knattern fallender Steine und das Keuchen des Verfolgers.

Schon meinte er, daß ihm kein anderer Ausweg mehr verbliebe, als seine Last auf die Erde zu legen und von Neuem den Kampf mit dem Wahnsinnigen anzunehmen. Da scholl es aus der Höhe des Waldes mit gedehntem Rufe: „Heda – Götz – heda!“

Von Karli’s Lippen gurgelte ein erstickter Freudenschrei – das mußten die Holzknechte sein, mit denen Götz um die sechste Morgenstunde das Treffen angesagt. Er raffte seine schwindenden Kräfte zusammen und schrie mit gellender Stimme gegen die Höhe: „Mannerleut’ – Jesus Maria – Mannerleut’ – da her – da – da!“

Erschrockene Stimmen gaben ihm Antwort, und unter den Bäumen tauchten drei stämmige, verwitterte Gestalten auf. Was ihre Augen gewahrten, das verstanden sie nicht. Aber es genügte ihnen, daß sie den Sohn ihres Brotherrn erkannten, daß sie ihn verfolgt sahen – und als sie gar in der halb lächerlichen, halb grauenerregenden Erscheinung, die über den jenseitigen Hang der Waldschlucht niederstürmte, den Bygotter zu erkennen meinten, warfen sie ihre Geräthe bei Seite und stürzten an Karli vorüber dem Verfolger entgegen.

Der Bygotter sah sie kommen, hielt inmitten des Hanges inne, ballte in grinsender Wuth die dürren, blutigen Fäuste, und während Karli erschöpft und keuchend mit seiner Last die sichere Höhe gewann, flüchtete der Wahnsinnige in rasendem Laufe thalwärts und verschwand mit zornig gellendem Gelächter hinter den schlagenden Zweigen eines dunklen Tannendickichts.


(Fortsetzung folgt.)




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