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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

seiner Kameraden fällt. Die Eltern der munteren Schar aber stehen, zuschauend am Ufer und freuen sich über die Gewandtheit, den Muth und die Ausdauer ihres Nachwuchses, und auch der Europäer muß zugestehen, daß er nirgends lebensfrohere, munterere Wesen gesehen hat, als diese schlanken, schönen, duftigbraunen, glänzenden Kinder.

Aus den in solcher Weise spielenden Knaben werden die Männer, welche es wagen, zwischen den Stromschnellen Schifffahrt zu treiben, im Boote über die thalabeilenden, hier und da förmlich jagenden, wirbelnden, tosenden und brausenden Wogen zu steuern, diesen sogar entgegenzusegeln, welche zu vielen ihrer Schwimmfahrten nicht einmal des Bootes bedürfen, sondern dreist auf kleinen, erbärmlichen, aus Durrastengeln zusammengefügten Flößen oder luftdichten, aufgeblasenen Schläuchen tagelang währende Reisen unternehmen. So klar und fest schauen diese nubischen Schiffer und Schwimmer der Gefahr ins Auge, daß ihnen die Wellen des Stromes weder Märchen noch Sagen in das Ohr geflüstert haben. Sie kennen weder Nixen noch andere Wassergeister, weder gute noch böse Genien, und ihre Schutzheiligen, deren Hilfe sie vor und während gefährlicher Fahrten zu erflehen pflegen, wehren nur der Macht des Geschickes, nicht aber dem bösen Willen tückischer Geister. Die Sage ist stumm geblieben in den Stromschnellen, im „Bauche der Felsen“ wie in den Stürzen und Strudeln der „Mutter der Steine“, der „Erschütternden“, des „Kamelhalses“, der „Koralle“ und wie die Namen der Schnellen sonst noch lauten, obwohl das ganze Gebiet die herrlichsten Wohnsitze für Märchengestalten in sich faßt und der es befahrende Schiffer nur zu oft zum Glauben an die Wirksamkeit menschenfeindlicher Geister verleitet werden mag.

(Fortsetzung folgt.)


Was sollen unsere Kinder lesen?

Wenn wir eine Zeit suchen wollen, in welcher an guten Kinderbüchern noch ein empfindlicher Mangel war, so müssen wir einige Jahrzehnte zurückblicken: heute herrscht an Stelle des ehemaligen Mangels eine reiche Fülle, und es ist erfreulich, daß die Zahl werthvoller Jugendschriften noch von Jahr zu Jahr im Wachsen ist. Mit der Zunahme guter Jugendbücher hat aber auch die Erkenntniß Schritt gehalten, eine wie große erzieherische Bedeutung diesen beizulegen ist, und wenn jetzt noch eine Frage bezüglich der Jugendschriften aufgeworfen wird, so ist es nicht die, ob unsere Kinder überhaupt lesen sollen, sondern die: was sollen sie lesen? Diese Frage wird aber häufig ausgesprochen, und sie wiederholt sich um so öfter, je weniger die Jahreszeit den Spielen der Kinder im Freien günstig ist, je mehr diese also auf die Unterhaltung am Familientische angewiesen sind. Auch jetzt wieder heißt es: die langen Winterabende sind eingekehrt, welche Bücher sollen wir unsern Kindern zum Lesen geben? Und die Wahl ist eine um so schwierigere, als es nicht nur nothwendig ist, die verschiedenen Altersstufen zu berücksichtigen, sondern auch gefordert werden muß, daß auf die individuelle Veranlagung eines jeden einzelnen Kindes sorgfältig Acht gegeben werde. Ja, Altersstufe und Veranlagung – diese beiden Faktoren sind es, welche besorgten Eltern das meiste Kopfzerbrechen verursachen, und wir glauben uns den Dank unserer Leser zu verdienen, wenn wir ihnen mit Winken an die Hand gehen, die geeignet sein dürften, in dieser Beziehung einige Klarheit zu geben und so die richtige Wahl zu erleichtern.

Da ist zuerst ein kleiner Bursche, der noch nicht fünf Jahre zählt, aber doch sein gut Stück an der Unterhaltung Theil haben will. Mit lebhaften großen Augen mustert er Alles, was um ihn ist, verweilt bald bei dem einen, bald bei dem andern Gegenstande und bestürmt einmal den Vater und ein andermal die Mutter mit Fragen. Er ist unruhig, sinnt und frägt, so lange er wach ist, und seinem lebhaften Geiste eine gesunde Nahrung zu bieten, ist eine der schwierigsten, aber auch zugleich eine der dankbarsten Aufgaben. Lesen kann er nicht und soll er nicht; dennoch enthält die Jugendlitteratur auch für ihn Manches, das sein Wissen und sein Gemüth zu bereichern geeignet ist. Es muß sich nur der rechte Dolmetsch finden, der das, was in den Büchern niedergelegt ist, seiner Fassungskraft anzupassen versteht – und dieser Dolmetsch ist die Mutter. Sie möge nach Büchern Ausschau halten, welche für das zarte Kindesalter geschrieben sind, möge für sich die einfachen Geschichten lesen und dann aus dem Gedächtniß und mit der trauten Sprache des eigenen Herzens sie ihrem Kinde wiedererzählen. Das haftet in der Kindesseele und reift zu köstlicher Frucht heran. Und wenn die Bücher erschöpft sind, dann ruhig zur Seite damit. Die Mutter hat gelernt, wie sie erzählen soll, und kann nun um Stoff nicht mehr in Verlegenheit kommen: Zimmer, Küche und Keller erweisen sich als Fundgruben; jedes einzelne Hausthier hat seine Geschichte; die schneebedeckten Bäume im Garten und die hungernden Vögel vor den Fenstern bieten Stoff; die Fülle und Pracht des Sommers in Gärten und Wiesen, in Feldern und Wäldern wird in der Erinnerung des Kindes wachgerufen. Erinnerungen aus der eigenen goldenen Jugend leben auf; an Beobachtungen und Erfahrungen im täglichen Leben wird angeknüpft! Der Unterhaltungsstoff für ein Kind ist unerschöpflich; Alles ist ihm neu, für Alles zeigt es Interesse. Und es ist so anspruchslos! Da ist keine große Erfindung nöthig, bedarf es keiner komplicirten Schürzung des Knotens: eine einfache Pointe, und sei sie auch noch so schlicht, erfüllt es mit dankbarer Freude. Solche einfache Pointen finden sich zuweilen in guten Bilderbüchern und diese geben dann ein schätzenswerthes Unterhaltungsmittel, welches auch noch seinen Werth behält, wenn das Kind in die Schule eingetreten ist und die Befähigung erlangt hat, selbst den Text zu lesen und ihn prüfend mit den Bildern zu vergleichen.

In den ersten Schuljahren mag das Kind ähnliche Geschichten lesen, wie sie ihm die Mutter früher erzählt hat, alle einfach und alle – das ist von der höchsten Wichtigkeit: – mit edlem und erfreulichem Inhalt! Ich halte es für einen der unverzeihlichsten und verderblichsten Fehler, die reine Kindesseele mit Bildern zu trüben, an die es nicht denkt, die in ihrer Häßlichkeit ihm so fern liegen, daß es ihre Existenz nicht ahnt. Nicht durch Abschreckung sollen Triumphe erzielt werden, sondern durch Anziehung. Das gilt für jedes Kind und für jedes Alter. Füllt die Seele des Kindes mit Eindrücken und Vorstellungen des Guten, Schönen, Großen, lehrt es das Erhabene kennen – und es wird sich mit Abscheu abwenden von Allem, was niedrig ist!

Der Werth sinnreicher Märchen ist auch für das zartere Alter nicht zu verkennen. Sie verleihen der Phantasie einen freieren Flug und wirken belebend auf den Sinn für das Schöne und Poetische. Kurze Fabeln prägen sich dem Gedächtnisse oft mit wunderbarer Schärfe ein und bilden einen Erfahrungsschatz, der dem Kinde um so theurer ist und um so nachhaltiger wirkt, als es der erste ist, den es sich selber angeeignet hat.

Ueberaus dankbar ist die Wahl der Lektüre für Kinder im Alter von etwa neun bis zwölf Jahren. Ich schenkte einem kleinen zehnjährigen Freunde ein Buch mit Erzählungen der trefflichen Ottilie Wildermuth. Da ich mehrere Tage keine Zeit hatte, mich um den kleinen Leselustigen und sein Präsent zu kümmern, hatte er sich allein über das Buch hergemacht, obwohl er sonst stets zu bitten pflegte, ich möchte ihm vorlesen. Aber letzteres war mir deßhalb nicht erlassen. An meinem ersten freien Abend brachte er mir das Buch, lachte mich an und bat: „Jetzt lies!“ Und da saß er dann und lauschte und freute sich. Ich wollte sein Gedächtniß auf die Probe stellen und las scheinbar ruhig fort, wich aber in der That in freier Erzählung vom Texte ab. Erst wurde er unruhig; hierauf kam er an meinen Stuhl, um aus unmittelbarer Nähe beobachten zu können, ob ich auch wirklich läse, und dann meinte er: „Zeig’ mal her, steht das da?“ Er hatte die Erzählung so gründlich und aufmerksam gelesen, daß er die kleine Abweichung sofort bemerkte.

Auch geschichtliche Erzählungen, anziehende Schilderungen aus dem Thier- und Pflanzenleben, sowie aus der Länder- und Völkerkunde werden gern gelesen, und zwar nicht allein von Knaben, sondern eben so von Mädchen, deren Lektüre überhaupt bis gegen Schluß der Schulzeit von derjenigen der Knaben kaum abweichen sollte. Für Märchen und Sagen ist das mittlere Jugendalter das empfänglichste.

Einen schwereren Lesestoff wird man erst der Jugend vom zwölften Jahre aufwärts zumuthen. Dann aber möge man sich Mühe geben, beim Knaben wie beim Mädchen Interesse und Verständniß für alle Gebiete des Wissens zu erwecken und sie so unmerklich auf das spätere Leben vorzubereiten. Erzählungen aus dem Leben großer Männer und Frauen, aus Sage, Geschichte und Litteratur, ethnographische Schilderungen und naturwissenschaftliche Plaudereien etc. leisten vorzügliche Dienste.

Ein bereitwilliger Führer und Rathgeber ist den jugendlichen Lesern unter allen Umständen dringend zu wünschen; stets sollte man auf ihre Fragen eingehen und sich bemühen, ihnen eine richtige und möglichst erschöpfende Antwort zu geben. Das spornt den Eifer an und fördert das Wissen ungemein. Und die Mühe der Antwort ist oft eine so kleine! Man lege nur einen Augenblick die Zeitung aus der Hand, unterbreche nur eine Minute die häusliche Beschäftigung oder allgemeine Unterhaltung, und die gewonnene Pause reicht in den meisten Fällen vollauf hin, den kleinen Fragesteller zu befriedigen.

Ist das Alter des Kindes gebührend berücksichtigt, so lenke man seine Aufmerksamkeit auf die individuelle Veranlagung desselben, und wenn man auch hier das Richtige trifft, so wird man oft erstaunt sein, welchen außerordentlichen Einfluß die Lektüre auf den Entwickelungsgang des Kindes auszuüben vermag. Ein Beispiel möge zeigen, in welcher Art ich mir die ersprießliche Berücksichtigung der Individualität denke.

In meiner Nachbarschaft lebte vor Jahren eine Familie, deren einziger Sohn ihr herbe Sorgen bereitete und sie nur mit Bangen in die Zukunft schauen ließ. Der Knabe war ein so unstäter Geist, wie ich ihn ähnlich selten kennen gelernt habe; er schweifte durch Feld und Wald, sah flüchtig den Arbeitern zu, durchstöberte die entlegensten Winkel des Hauses und war überall zu finden, nur nicht bei Büchern und bei der Arbeit, welche ihm die Schule aufgab. Seine Schulzeugnisse waren die denkbar schlechtesten, und alle Mahnungen und Strafen blieben erfolglos. Plötzlich ging eine seltsame und überraschende Wandlung mit ihm vor. Aus einer Kiste mit altem Gerümpel waren ihm Bruchtheile eines Maschinenmodells in die Hände gefallen, und nun saß er stunden- und tagelang auf dem halbdunklen Dachboden des Hauses und war unermüdlich damit beschäftigt, die Theile wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Der Vater beobachtete erfreut das emsige Treiben seines Knaben und ließ die Hoffnung aufkommen, es möchte sich endlich ein Gegenstand gefunden haben, der das Interesse desselben ernst zu fesseln vermöchte. Er kaufte ein Buch mit Beschreibungen von Erfindungen und Entdeckungen und legte dieses unbemerkt neben das alte verrostete Modell. Den Deckel des Buches schmückte die farbig ausgeführte Abbildung einer Maschine,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_763.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)