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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Das erste Jahr im neuen Haushalt.
Eine Geschichte in Briefen. 0 Von R. Artaria.
XI.
Neustadt, den 9. April 188 . 

Das war die schwerste Woche meines Lebens, liebste Marie, eine Woche im Fegefeuer und in stäter Todesangst! Wenn es draußen klingelte, fuhr ich zusammen; so lange Hugo mich sah, suchte ich heiter zu scheinen; wenn er fort war, rang ich die Hände und dachte nach, was nun kommen werde. Jedes Wort, das ich gesagt hatte, brannte mir immer stärker ins Gewissen, wenn ich aber gar daran dachte, daß man für so Etwas verklagt werden kann, vor Gericht kommen – vielleicht säße auch noch Hugo unter den Richtern – es wurde mir fast ohnmächtig vom bloßen Gedanken und die Angst folterte mich unablässig. Ich hatte wohl Rike Ordre gegeben, keinen Besuch anzunehmen, wenn ich allein sei, ich fürchtete mich zu gräßlich! Allein auf die Länge konnte das ja nicht fortgehen – Fräulein Berghaus war schon zweimal umsonst dagewesen – sie würde am Ende Hugo auf der Straße abpassen und ihm Alles erzählen; also faßte ich den schweren Entschluß, es ihm lieber selbst zu sagen, Samstag Nachmittag, wenn er vom Spaziergang zurückkäme. Das Essen wollte ich ihm nicht verderben. Ich selbst brachte kaum einen Bissen hinunter.

Als es vier Uhr wurde und er nun jeden Augenblick kommen konnte, stellte ich mich ans Fenster und sah die lange Gasse hinauf, indem ich mir fortwährend die Anfangsworte vorsagte: Hugo, ich habe etwas Schreckliches gethan, verzeihe mir, aber ich bin so unglücklich. Das mußte ihn doch rühren und das Weitere würde dann nicht mehr so schwer sein.

Plötzlich sah ich ihn von fern um den Brunnen biegen, aber er war nicht allein; ein Herr ging mit ihm; ich sah blankes Metall, einen Säbel – es war der Major! Mein Herz stand einen Augenblick vor Schrecken still, dann aber faßte mich eine solche Todesangst, daß ich fühlte, ich könne nicht bleiben. Ich sah jetzt ganz deutlich des Majors schwarzen Schnurrbart und seine kurzen Beine, sie kamen immer näher – da rannte ich hinaus, riß Hut und Jacke vom Nagel und stürzte durch die Hinterthür und den Garten fort, wie gejagt, nur immer weiter, um dem schrecklichen Major zu entrinnen. Wenn er mich nicht fand, konnte er sich doch nicht gleich mit Hugo duelliren!

Als ich endlich in meinem Rennen still hielt, weil mir der Athem ausging, befand ich mich in der Brückenstraße unter den Fenstern der Oberstin Baer und sah ihr weißes Häubchen dahinter schimmern. Das war mir ein Hoffnungsstrahl – sie ist so gut und so klug! Ehe ich es noch recht überlegt hatte, stand ich schon oben, klopfte und eilte hinein:

„Ach, liebe Mama Baer, helfen Sie mir; ich bin in einer schrecklichen Lage!“

„Nun, nun,“ sagte sie und legte die Brille in ihr Buch zusammen, „das wird ja wohl so schlimm nicht sein. Setzen Sie sich einmal und erzählen Sie.“

Ja, da kam’s denn heraus, Eins nach dem Andern, ich sagte Alles und schonte mich nicht. Aber ich kann Dir sagen, Marie, es war mir nicht leicht, das zu thun, unter dem Blick ihrer klaren braunen Augen und in der stillen friedlichen, ja man kann sagen, edlen Umgebung der alten Frau. Ich kam mir plotzlich so gemein vor! Und ihr immer ernsthafter werdendes Gesicht deprimirte mich so, daß ich kaum zu Ende reden konnte.

Sie schüttelte den Kopf.

„Wieder eine von den häßlichen Geschichten, ohne welche die Frauen, wie es scheint, nicht mit einander leben können. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich immer betrübt und beschämt, wenn so Etwas neu entbrannt ist. Und daß nun gar Sie es sind, die es gestiftet hat –“

„Schelten Sie mich nur tüchtig aus, liebe Mama Baer, ich habe es verdient.“

„Ja, liebes Kind, Sie haben Schelte verdient, nicht so sehr dafür, daß Sie die gewöhnliche Klugheit außer Augen ließen und Namen nannten, als dafür, daß Sie auf das Niveau der gewöhnlichen Klatschschwestern herabgestiegen sind. Sie, mit Ihrer guten Bildung, Ihren hübschen Talenten, wissen auch Sie denn nichts Besseres zu thun, als hinter der Kaffeekanne den Nebenmenschen die Ehre abzuschneiden?"

„Ich gehe ja so ungern zu solch einem Kaffee, gerade nur, wenn ich muß –“

Muß man jemals Etwas, was gegen die Ueberzeugung geht? Mir ist das in meinem langen Leben nicht vorgekommen. Ihr fechtet doch Alle gelegentlich für Eure Gleichberechtigung mit den Männern, Ihr jungen Frauen. Warum fühlt Ihr Euch denn nicht mit ihnen gleich verpflichtet? Wer giebt Euch das Recht, während sie arbeiten, Feierabend zu machen und die Zeit im eigentlichsten Sinn todt zu schlagen, statt sie gut und nützlich zu verwenden? Sehen Sie, mein liebes Kind, das ist es, worauf eine Frau wie diese im Uebrigen wenig preiswürdige Russin mit Recht herabsieht: die freiwillige Enthaltung so vieler deutschen Frauen von geistigen Interessen. Mögen sie pflichtgetreu und tüchtig, wie bisher, weiter arbeiten, Vormittags und meinetwegen auch Nachmittags, wenn die Geschäfte drängen. Giebt es aber eine freie Stunde, dann sollten sie sich erinnern, daß auch der Geist seine Nahrung will, und sollten sich die Kenntnisse zu erhalten suchen, die bei den Meisten so rettungslos verfliegen, während sie mit eiserner Ausdauer zwei- und dreimal die Woche an den Gesellschaften theilnehmen, aus welchen man höchstens um ein Kochrecept bereichert nach Hause geht, im Uebrigen aber weder klüger noch besser als vorher und in den meisten Fällen mit der Erinnerung, Etwas gesagt zu haben, was man besser bei sich behalten hätte.“

„Sie haben tausendmal Recht,“ sagte ich. „O wie bereue ich jenen Nachmittag jetzt!“

„Lassen Sie die Reue fruchtbar werden, meine liebe junge Frau,“ sagte sie freundlich, „dann werden Sie später den schlimmen Tag noch segnen. Sehen Sie, ich könnte es Ihnen jetzt leicht machen, könnte Sie zu trösten suchen, allein das will ich nicht. Ich möchte, daß Sie einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck bewahrten, wie schmählich es ist, als erwachsener Mensch dastehen zu müssen wie ein kleines Kind und zu bekennen: ich hätte das nicht sagen sollen! Werden Sie strenge gegen sich und gewissenhaft in Ihren Aussagen über Andere! Man weiß ja alles Das nicht gewiß, was man so leichtsinnig nacherzählt, und wüßte man es gewiß, wäre es nicht besser, darüber zu schweigen? Erniedrigt man sich nicht selbst durch solche Schadenfreude? Und außerdem – wie uninteressant sind alle diese Klatschereien, wie klein gegen die großen Weltverhältnisse, gegen geschichtliche Thatsachen, Kunst und Poesie, die alle, alle einer Frau zu Gebote stehen, eben so wie den Männern, wenn sie sich nur darum kümmern will. Die Dinge sind ja so viel interessanter als die Personen! und warum sollen Frauen unter einander nicht von diesen Dingen reden –“

„Wenn aber die Andern sich nicht darum bekümmern?“

„So fragen Sie sie über ihren Haushalt, dabei ist immer noch Etwas zu lernen. Und wenn denn doch von Zeit zu Zeit Kaffeegesellschaft sein muß – würde dann nicht eine gemeinsame Thätigkeit für Arme, Kinder und Kranke ausgiebigen Unterhaltungsstoff genug bieten, daß man die Vergangenheit seiner Nebenmenschen ruhen lassen kann? So habe ich es mit meinen Bekannten gehalten, und wir sind uns von Herzen gut dabei geblieben.“

Ich fiel ihr um den Hals, der lieben alten Frau. „Verlieren Sie die Geduld nicht mit mir, ich will suchen, gut zu werden, wenn nur diese entsetzliche Geschichte vorüber ist. Was soll ich denn jetzt thun, rathen Sie mir, ich bitte Sie!“

„Sie können nichts Anderes thun, als direkt heimgehen und Alles auf sich nehmen, was Sie dort finden. Muth, Frauchen! Ein junger Ehemann ist doch kein so furchtbarer Richter. Und er muß sich ja dessen auch erinnern, was ich vorhin in meiner Strafpredigt absichtlich bei Seite ließ: daß das Gemeinste und Häßlichste an der ganzen Geschichte, das eigentliche Wiedersagen – einer Andern zur Last fällt.“

„Ach, liebste Mama Baer, gehen Sie mit mir heim, Sie wissen Alles so viel besser zu sagen, als ich!“

„Nein, mein Kind, in solchem Fall ist jeder Dritte zwischen Eheleuten zu viel. Höchstens Hugo’s Mutter könnte bei Eurer Aussprache sein."

„Wo denken Sie hin? Die würde mich ja in den tiefsten Abgrund verdammen!“

„Sie kennen Ihre Schwiegermutter noch nicht recht, liebe Emmy. Sie ist gut, wahr und gerecht; aber sie hat viel Unglück erlebt, und deßwegen würde ihr ein wenig warme Liebe, statt des kalten Respekts, wohlthun.“

Wir standen am Fenster, ich band gerade meinen Hut zurecht und wollte gehen. Auf einmal sah ich eine Gestalt die Straße herabkommen, die niemand Anderes sein konnte als Hugo. Er ging auf der andern Seite; nun streiften seine Augen das Fenster und augenblicklich kam er herüber und herauf. „O Gott,“ betete ich, „laß es gnädig abgehen!“ Da machte er schon die Thür auf.

„Hier findet man Dich, Emmy?“

„O Hugo, Hugo,“ schluchzte ich und fiel ihm um den Hals, „sei nicht böse, ich bitte Dich!“

Gleichzeitig sagte Mama Baer. „Herr Assessor, bedenken Sie, daß Ihre Frau jung und unerfahren ist. Und was Frau von Kolotschine betrifft –“

„Schon wieder Frau von Kolotschine,“ fuhr er ungeduldig auf. „Willst Du mir jetzt gleich genau sagen, Emmy, was es mit Dir und ihr gegeben hat?“

Ja, das wollte ich, der Muth war mir plötzlich erwacht, und ich erzählte Alles, aber natürlich von meinem Standpunkte aus.

„Eine schöne Geschichte,“ sagte er mit unheimlicher Ruhe, als ich fertig war. „Die Hälfte von dem, was Du gesagt hast, reicht vollständig zu einer Ehrenkränkungsklage. Und den Wahrheitsbeweis würdest Du, glaube ich, nicht antreten wollen?!“

„O Hugo,“ schluchzte ich, „rette mich, laß mich nicht vor Gericht kommen!“

„Tröste Dich!" sagte er. „Diesmal ist es noch gut ausgegangen, Frau von Kolotschine hat Neustadt schon vor drei Tagen verlassen, ‚plötzlicher Familienangelegenheiten wegen‘, wie es heißt.“

„Wer hat Dir das gesagt?“ rief ich athemlos.

„Ihr Schwager, der Major.“

„Und er hat Dich nicht gefordert? Er kam nicht von ihr gesendet?“

„Nicht im Mindesten, er schien überhaupt ganz ahnungslos und erzählte mir nur beiläufig von ihrer Abreise, deren wahren Grund ich nun zu verstehen glaube.“

O Gott! Mir fiel eine Bergeslast vom Herzen, ich konnte gar nicht anders, als Hugo umfassen und lachend mit ihm im Zimmer herumtanzen. Plötzlich hielt ich inne:

„Aber was wollte der Major denn überhaupt bei uns?“

„Um Dein Bowlenrecept bitten, die Bowle habe ihnen neulich so gut geschmeckt.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_766.jpg&oldid=- (Version vom 15.5.2023)