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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

zugriff, griff er Alles von der verkehrten Seite an. Hundertmal des Tages schlich er auf den Zehen vor das Stübchen hinauf und pochte mit leisem Finger an. Dennoch war er niemals zu bewegen, die Krankenstube zu betreten. Eine eigene, ihm selbst unerklärliche Scheu hielt ihn davon ab. Manchmal nur lugte er mit nassen, traurigen Augen durch eine Thürspalte, und dann sah man es seinen Zügen an, wie ihm der Anblick des schmächtigen, von brennender Fieberröthe übergossenen Gesichtchens, das so regungslos in den geblümten Kissen lag, das Herz zusammenkrampfte. Ganze Nächte durchwachte er in seiner Kammer, das Ohr an die Mauer gedrückt, als könnte er den ersten leichteren Athemzug der Kranken, das erste Wort ihres wiederkehrenden Bewußtseins erlauschen.

So begreiflich nun auch das Benehmen des Burschen war, so verblüffend wirkte für manches beobachtende Auge die Ausdauer, mit welcher sich Kuni der Pflege Sanni’s widmete. Sie erntete auch Lob und Anerkennung von allen Seiten. Nur Karli vermochte es der jungen Bäuerin gegenüber zu keinem herzlichen Worte zu bringen, so häufig er sich auch im Stillen des Undanks zieh, und so sehr es ihn drängte, ihr einmal die Hand hinzustrecken, wenn sie mit verwachten Augen und bleichem, müdem Gesichte aus der Krankenstube trat.

Dann war auch noch ein Anderer, der in Kuni’s Verhalten kein besonders rühmenswerthes Werk der Barmherzigkeit erkennen wollte. Das war der Götz. In der ersten Stunde, das gab er zu, da hätte sich in ihr das richtige Herz gerührt. Und so hatte auch er zu Anfang ihre ausdauernde Pflege mit freundlich verwunderten Augen wahrgenommen. Allmählich aber war es ihm vorgekommen, als sei ihr das Verbleiben im Stübchen droben nur ein willkommener Vorwand, um die Stube und den Hof zu meiden, wo ihr Bruder mit der qualmenden Cigarre die Tage verlungerte. Unausgesetzt beobachtete Götz diese Beiden, ohne daß es ihm gelingen wollte, das Verhältniß, in welchem sie zu einander standen, klar zu durchschauen. Vielleicht wäre ihm das leichter geworden, wenn Karli Zeit oder Anlaß gefunden hätte, sich gegen Götz über all die sonderbaren Dinge auszusprechen, die er damals im Schimmelwirthsgarten zu München über Kuni’s Herkunft, über ihre Familie und über das Verhalten ihrer Brüder zu hören bekommen. So aber hatten die drängenden Ereignisse dem Burschen den Mund verschlossen – vielleicht auch schwieg er in Wahrung des Namens, welchen Kuni nun einmal trug. Götz war also bei seiner forschenden Beobachtung allein auf seine Augen und auf die Gedanken angewiesen, welche Kuni’s und Gregor’s Benehmen in ihm erweckten.

Jene erste Vermuthung, daß dieser „Bruder von irgendwo“ durch ganz andere Bande mit Kuni verknüpft sei, als durch geschwisterliche Bande, hatte er gleich in den ersten Tagen fallen lassen. Eine solche Beziehung hätte sich seinen wachsamen Augen und Ohren verrathen müssen, wenn auch nur durch einen winzigen Blick, durch einen flüchtig vertraulichen Druck der Hände oder durch ein leise gerauntes Wörtchen. Und so wenig ihm Kuni auch Anlaß gegeben hatte, Gutes von ihr zu denken – es war in seinem Innern doch eine Stimme, die es ihn auf die Dauer nicht glauben lassen wollte, daß sie so ganz verdorben wäre, um schon am ersten Tage nach der Hochzeit die ehrlose Schande in ihr Haus zu laden. Gregor mußte also doch wohl ihr wirklicher Bruder sein; denn wenn er nicht ihr ehemaliger Geliebter war, so konnten nur verwandtschaftliche Rücksichten sie bewegen, den widerwärtigen Gesellen unter ihrem Dache zu dulden. Freilich war es eine recht merkwürdige Geschwisterliebe, welche Kuni für diesen Bruder zu hegen schien. Sie wich ihm ersichtlich aus auf Schritt und Tritt, vermied jedes längere Gespräch mit ihm, und Götz meinte, daß es nur um Gregor’s willen geschehe, wenn sie sich von den gemeinsamen Mahlzeiten ferne hielt und sich mit der Krankenpflege entschuldigte. Das Gefühl, dem dieses Verhalten entsprang, schien mehr als nur Unbehagen und Widerwille – es erschien den forschenden Augen des Knechtes wie zitternde Scheu. Kuni haßte ihren Bruder, aber sie fürchtete ihn; er mußte durch irgend ein Etwas über sie Gewalt haben, daß sie bei all ihrem Hasse seine Nähe ertrug. In diesem geheimen, unerklärlichen Zwange meinte Götz auch die Ursache der seltsamen Veränderung zu sehen, welche sich in Kuni’s ganzem Wesen vollzogen hatte. Sie war in diesen Tagen eine völlig Andere geworden, als sie bis zum Tage der Hochzeit gewesen. Ihr helles, übermüthiges Lachen war erstorben, ihre berechnende Sicherheit geschwunden, ihr ganzer Trotz gebrochen, und unter der Wirkung des bangenden Kummers, den sie leiden mochte, schien so manches Gute lebendig zu werden, das unter Schmutz und Asche bisher vergraben lag in ihrer Seele.

Wenn Götz sich über diesen sonderbaren Umschlag seine Gedanken machte, mußte er häufig eines Vorfalles gedenken, dessen Zeuge er zufällig geworden war. Zwei Tage nach Gregor’s Ankunft hatte der alte, närrische Spinner-Veit, der „Zuchthäusler“, wieder einmal im Pointnerhofe vorgesprochen. Es schien, als hätte Kuni sein Kommen abgepaßt, als hätte sie es aus irgend welchem Grunde befürchtet; denn der Spinner-Veit hatte noch nicht die Hausschwelle betreten, da stand sie schon vor ihm, mit scheuen Augen und erregten Zügen, und unter wispernden Worten führte sie ihn zurück an das Zaunthor und schob ihn auf die Straße hinaus. Gleich am folgenden Morgen suchte Götz den Alten in seinem Armenstübchen auf und erfuhr nun, daß Kuni dem Spinner-Veit das Betreten des Pointnerhofes verboten habe, allerdings mit den freundlichsten Worten. „Jetzt is mein’ einzige Freud’ dahin,“ greinte der arme Narr, „denn wann ich ihr g’rad a Bißl gut wär’, hat die Bäuerin g’sagt, nachher soll’ ich mich net ehnder wieder sehen lassen, solang sie’s mir net selber verlaubt. Und schau, was kann ich denn nachher machen jetzt? Denn lieber möcht’ ich versterben, eh daß ich g’rad a Schrittl thät’, wo ihr net taugt – so viel gern hab’ ich s’, Dein’ Bäuerin, ja!“

In sonderbarer Bewegung hatte Götz den Alten verlassen. Von diesem Tage an beobachtete er Gregor mit noch schärferen Augen, da bei diesem allein die Ursache liegen konnte, weßhalb der Spinner-Veit seine „einzige Freud’“ entbehren mußte. Ihn drückte wohl die Ahnung, daß hinter diesen Räthseln Ereignisse im Anzug wären, welche nicht vorübergehen würden, ohne die Wohlfahrt des Hauses zu schädigen, als dessen Glied er sich mit vollem Rechte betrachten durfte. Dennoch brachte er es nicht über sich, von dem, was er dachte und gewahrte, gegen Karli oder den Pointner nur ein einziges Wort verlauten zu lassen. Aber er verblieb im Hofe und schickte an seiner Stelle den Martl zu den Holzarbeiten auf den Sonnberg.

Den lauernden Augen Gregor’s blieb es nicht verborgen, wie aufmerksam er von Götz beobachtet wurde. Da ging er nun bald dem Knechte auf jede mögliche Weise aus dem Wege; bald wieder drängte er sich mit herausfordernder Ausdauer in seine Nähe und schaute ihm durch lange Stunden mit zwinkernden Blicken und spöttischem Lächeln bei der Arbeit zu. In solchen Stunden aber schien ihn Götz geflissentlich als Luft zu betrachten. Schließlich kehrte sich der Andere mit einem spitzigen Lachen auf dem Absatz um und suchte den Pointner auf, dem gegenüber er alles Mögliche an dem „Maier“ auszusetzen hatte. Doch wollte es ihm niemals recht gelingen, den Pointner gegen Götz in Harnisch zu bringen; er brachte im Gegentheil den Bauer nur gegen sich selbst in Hitze, so daß es eines erklecklichen Aufwandes an Späßen und Anekdoten bedurfte, um den Pointner wieder in gute Laune zu versetzen – in eine Laune, welche meistentheils ohnehin nur eine gespielte war; denn wenn der Bauer auch manchmal unwillkürlich über den bissigen Spott und die gewagten Scherze des Schwagers ins Lachen kam, so schien die Nähe seines Gastes doch niemals besonders angenehm auf ihn zu wirken.

Der Einzige im Hofe, welcher mit Gregor in ruhiger Gleichmäßigkeit verkehrte, war Karli. Der Besuch war nun einmal im Hause, und das war für ihn eine Thatsache, deren Aenderung man eben abwarten mußte. Sonderlich gewogen war er dem Gaste freilich nicht. Ihm ekelte es fast vor diesem Burschen, dessen Faust er in Gedanken immer zum Schlage gegen ein wehrloses Kind erhoben sah, so oft er ihn betrachtete. Aber was hatte er sich schließlich darum zu kümmern, wenn Kuni die Gegenwart dieses Menschen ertrug, der nur dem Namen nach ihr Bruder war, der wacker mitgeholfen hatte, ihr die Jugend zu verbittern und das Zusammenleben mit der Mutter zu verkümmern – vorausgesetzt, daß Alles auf Wahrheit beruhte, was er im Schimmelwirthsgarten erfahren. Er wußte selbst nicht, wie es kam – aber manchmal zweifelte er an dieser Wahrheit. Vielleicht war Alles erlogen, vielleicht hatte Kuni den Inhalt jenes Briefes, den er aus München an den Vater geschrieben, aufs Klarste widerlegen können? Dann aber hätte der Vater wohl um so eher Ursache gehabt, ihn einmal bei Seite zu nehmen, vertraulich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_782.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)