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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

im eigenen Hause den Bescheid zurückgelassen, daß er erst des Nachmittags wieder eintreffen werde; er wollte sich mit dem Pächter noch einmal gründlich aus einander setzen.

Edith hatte die Abwesenheit des Vaters benutzt, um die sonst unentbehrliche Hausmagd vieler kleiner Besorgungen wegen nach der Stadt zu schicken, und befand sich allein zu Hause, in der Meinung, daß sie Besuch nur von der Gräfin oder der Geheimräthin zu erwarten hätte. So saß sie schreibend und rechnend in jener Erkerstube neben der Küche, wo vor einigen Tagen Perser und Glowerstone eine Unterredung hatten.

Nur ein uralter Gärtner für den Gemüsebau befand sich noch auf dem Hofe und geleitete, nicht recht wissend, ob er den Eintritt erlauben oder verweigern solle, Siegfried Malköhne bis an die Schwelle der Erkerstube, um sich wieder zu entfernen, als das Fräulein gegen den Besuch keine Einwendungen erhoben hatte.

Hocherröthend stand Edith vor dem jungen Manne. Sie hatte ihn nicht mehr zu sehen erwartet; sein letztes Scheiden und sein Ausbleiben am vorhergegangenen Tage hatten ihr den Eindruck zurückgelassen, als ob er in die Unterhaltung eines Augenblickes, wie dies in der Stadt gebräuchlich ist, mehr Ernst und Wichtigkeit gelegt hätte, als er zu rechtfertigen geneigt war. Wie oft kommt es vor, daß sich Männer von Welt in einem Moment, der ihnen gerade dazu geeignet erscheint, so vollwichtig darstellen, als ob sie nichts Anderes mehr im Sinne hätten – um einen Moment später vergessen zu haben, was sie sprachen. Malköhne knüpfte sogleich an die letzte Unterredung an, aber im leichtesten Tone geselliger Plauderei, so daß die Befangenheit des Mädchens allmählich verschwand.

Es waren aber in dieser Mädchenseele seit zwei Tagen große Dinge vorgegangen, die Niemand weniger geahnt oder vorausgesehen hätte, als Edith selbst. Hatte Malköhne der Geheimräthin gegenüber von einem Verhängniß des Inneren gesprochen, das ihn überwältigt hätte, so war ein solches auch für Edith eingetreten. Was vermochte ihr Widerstreben, der Ernst der Weltanschauung, die sie sich gebildet hatte, die tiefe und umfassende Resignation, von der sie sich ganz und gar erfüllt geglaubt, gegen das unwillkürliche und schicksalsvolle Empfinden, welches die letzte Anwesenheit Malköhne’s in ihr bewirkt hatte! Schon in der Stadt war sie, wie sie ihrem Vater noch unbefangen gestanden, auf ihn aufmerksam gewesen, von ihm interessirt worden. Seit der letzten Zusammenkunft wollten ihre Gedanken nicht mehr von ihm ablassen, so sehr sie sich selbst dagegen sträubte. Als die Geheimräthin tags vorher von ihm gesprochen, war Edith fast erfreut gewesen, daß sich sein Bild in ihr getrübt hatte durch einen kleinen Zug von Falschheit oder Unwahrheit, den die Geheimräthin aufgedeckt. Jetzt, bei dem unerwarteten Wiedersehn, war dies Alles vergessen und nur mit Mühe gewann sie die Fassung, um in demselben Tone, wie zwei Tage vorher, mit ihm zu sprechen.

Es mochte ein Uhr des Nachmittags sein; die Tischzeit, welche Glowerstone diesmal nicht abgewartet, war in der ländlichen Behausung lang vorüber; durch das halbgeöffnete Fenster drang die Sonne eines jener Spätherbsttage, welche wie eine Reue der Jahreszeit erscheinen, daß sie unmittelbar früher schon winterlichen Anstrich gezeigt hat. Das Weinlaub an der Mauer gegenüber warf noch seine reizenden verschlungenen Schatten. Edith, die sich einer Beklommenheit darüber nicht erwehrte, den Gast in diesem unwirthlichen, kleinen Raume zu sehen, schlug einen Gang durch Hof und Garten vor. Das milde Wetter konnte die Gedanken in den beiden jungen Seelen nicht beschwichtigen; allein es lud dazu ein, sie einstweilen nur stumme Betrachtung sein zu lassen.

Siegfried Malköhne war viel jünger, als man heut zu Tage gewöhnlich mit Jahren ist, viel jünger, als man ihm selbst hätte sagen können, ohne ihn zu verletzen. Ein Leben in der großen Welt, im Angesicht der mannigfachen menschlichen Beziehungen, die den Trug und die Illusionen, die Gemeinheit und oft die Verworfenheit, auf welchen sie meistens beruhen, so rasch zu erkennen geben, macht dem Anschein nach frühzeitig alt, und ein junger Mann von Geist und Weltgewandtheit kommt dadurch bald zu dem Vorsatz, sich von nichts so leicht täuschen zu lassen. Den bestechendsten Erscheinungen gegenüber, den verlockendsten Versuchungen zum Trotz hält er sich in mißtrauischer Ruhe; er will um keinen Preis der Getäuschte sein. Alt ist aber eigentlich nur, wer nicht mehr getäuscht werden kann, und so bewirkt ein großes und großstädtisches Leben dieser Art eine sonderbare Blasirtheit, eine Blasirtheit, der noch keine Genüsse vorausgegangen sind.

Dies mag in mancher Richtung für das Herz, die Phantasie, die Jugendlichkeit eines jungen Mannes von schädlichem Einfluß sein, hat aber den überwiegenden Vortheil, daß, wenn plötzlich ein überwältigender Eindruck den Schleier einer künstlichen Greisenhaftigkeit durchbricht, die jugendliche Natur in ihrer ungeschwächten Kraft sich geltend macht. Im Verkehr mit Brigitta war Siegfried in der zu seinen Jahren noch nicht passenden Menschenverachtung und früh altmachenden Objektivität immer mehr bestärkt worden und hatte mit überschwänglichem Vergnügen dem Hang nachgegeben, sich dabei selbst täglich weiser, gereifter und älter zu erscheinen. Das war das eigentliche Geheimniß der Anziehungskraft gewesen, die Brigitta so lange auf ihn geübt hatte. Jetzt war der künstliche Schleier, den er so lange um die eigene Jugend gewoben hatte, plötzlich durch die Leidenschaft zerrissen und er stand mit der unschuldigen Seele eines unerfahrenen Jünglings vor Edith; er hatte seine Jugend wiedergefunden.

Edith aber, der niemals Gelegenheit geboten gewesen, die Gestalt, in der er sich jetzt zeigte, mit seiner frühern zu vergleichen, war bis zur Bezauberung erstaunt, in dem Diplomaten und Weltmann, in dem Löwen der großstädtischen Gesellschaft eine so kindliche Naivetät und eine so bereitwillige Empfänglichkeit für die Geringfügigkeiten zu finden, die sie ihm aus ihrem eigenen engbeschränkten Lebensgang mittheilen konnte. So wurden sie bei dieser Wanderung durch den Garten, die sie, ohne es zu merken, bis auf die Felder ausgedehnt hatten, immer inniger mit einander befreundet. Malköhne hielt dabei im Stillen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, das ihm in solcher Stimmung als Gemeinheit erschienen wäre, an der Voraussetzung fest, daß Edith glauben mußte, den in Dürftigkeit lebenden kleinen Beamten an ihrer Seite zu haben.

Als sie das Haus wieder erreichten, hatte das gegenseitige Vertrauen der Gemüther keine Schranken mehr und ohne Pathos und selbst ohne eine allzu stürmische Betheuerung, einfach wie etwas Selbstverständliches konnte Siegfried der Geliebten den Wunsch aussprechen, sie für immer zu besitzen. Wohl stieg ihr das Blut bis an die Schläfen; wohl glaubte sie, ihr Herz schlage hörbar, aber zugleich war sie sich bewußt, daß ihre Antwort eben so einfach und maßvoll sein mußte wie seine Bewerbung. Sie befanden sich gerade am Fuße der schmalen hölzernen Treppe, die zur Erkerstube hinaufführte, und bevor Edith voranschritt, legte sie ihre Hand in die des Geliebten. Es war zum ersten Male, daß sich ihre Hände berührten, und wenn sie fähig gewesen wären zu sprechen, so hätte ihnen das plötzliche Erscheinen Glowerstone’s das Wort abgeschnitten.

Er war sehr erfreut, den Legationsrath anzutreffen. Zwar hatte die Mittheilung der Geheimräthin, daß Malköhne dem Heirathen abgeneigt, die kühnsten Hoffnungen des sanguinischen Philosophen sehr gedämpft; allein in der Sache des Gutskaufes glaubte er jetzt, gestützt auf die Aussicht eines Ankaufs durch die Geheimräthin, eine Pression üben zu können.

„Ich komme eben vom Pächter,“ sagte er, einen großen Pack von Papieren aus der Tasche ziehend; „ich habe mir alle Tabellen und Register geben lassen und will daraus ein verständliches Tableau für Frau Forstjung zusammenstellen. Einer Dame muß man ja in solchen Dingen möglichst wenig langweilig sein. Kennen Sie die schöne Geheimräthin, Herr Legationsrath? Wissen Sie, daß sie mir leicht die Mittel geben kann, mit der Regierung fertig zu werden?“

Man war inzwischen langsam über die Treppe gegangen und in die große Wohnstube getreten.

„Ich lasse Sie hier,“ sagte Glowerstone, „und gehe an meinen Schreibtisch im Erker, um gleich die Ausarbeitung anzufangen. Die Geheimräthin kommt heute Abend. Sie werden aber verzeihen, Herr Legationsrath, wenn ich dazwischen, wie es sich gerade trifft, Ihre Hilfe in Anspruch nehme. Sie sind in der amtlichen Terminologie zu Hause, ich bloß in der philosophischen. A propos, ich staune, daß Sie sich überhaupt amtlich beschäftigen. Gestern Abend hat uns die schöne Geheimräthin erzählt, daß es der Gebieter über Millionen ist, der sich zum Beamtendienst herabgelassen hat.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_808.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)