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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Aber sie hält sich tapfer. Heute Morgen saßen wir mit einander unten in der Laube, wo vor drei Tagen noch Dein liebes Gesicht zwischen den Weinranken durchsah, arbeiteten und sprachen von Dir.

„Ach,“ sagte Klara, „Fräuleln Marie ist wohl sehr glücklich. Alle haben sie lieb –“ das Weitere will ich Deiner Bescheidenheit ersparen. Du kannst denken, wie ich über Dich loszog!

„Glauben Sie,“ fing Klara nach einer Pause wieder an, „daß der – der Herr Doktor Brandt Fräulein Marie auch sehr verehrt?“

„Warum sollte er nicht? Es schien mir so. Uebrigens weißt Du ja, Klara, daß Marie Braut ist.“

„Ja – aber vielleicht macht ihm das nichts aus. Ich – ich glaube, das ist immer so in der Welt, daß das Unerreichbare – und überhaupt – warum wäre er denn so unglücklich –?“

„Weil er ein Narr ist,“ sagte ich. „Du könntest auch etwas Besseres thun, Klara, als Dich für diesen Menschen interessiren.“

Sie hörte mich nicht mehr – Pferdegetrappel von der Straße her schien sie unwiderstehlich anzuziehen; sie sprang auf den Ausguck an der Mauer und kam mit einem strahlenden Gesicht zurück.

„Zwei Schimmel auf einmal! Nun sind es bereits fünfzig!“

Ich sah sie erstaunt an: „Was kümmern Dich denn die Schimmel anderer Leute? Und wo sind denn die übrigen achtundvierzig? Und warum müssen es gerade fünfzig sein?“

„Nicht fünfzig, sondern neunundneunzig,“ berichtigte sie. „Und dann ein Kaminfeger, dann trifft’s ein.“

Ich griff nach ihrem Arm: „Klara, bist Du denn ganz übergeschnappt? Was ist das nun wieder für ein gräßlicher Unsinn?“

„Ja, wissen Sie das nicht?“ lachte sie. „Das ist ja ganz unglaublich. Ich dachte, alle jungen Mädchen zählten Schimmel! – Nun, aber das wissen Sie doch, daß es ein großes Glück ist, wenn man rostige Nägel findet oder gar ein Hufeisen? Neulich sah ich eines mitten auf der Straße liegen, aber es war im dicksten Schmutz, und da mochte ich doch nicht hineinfassen, und außerdem genirte ich mich; es ging gerade Jemand vorbei –“

„Aha! Nun, und die Schimmel?“

„Ja sehen Sie,“ fuhr sie erröthend fort, „wenn auch Nägel und Hufeisen eine sehr gute Vorbedeutung sind, ganz sicher weiß man es doch nicht. Aber wenn man im Lauf eines Jahres neunundneunzig Schimmel sieht und dann einen Kaminfeger, und gleich hinterher ein Herr Einem die Hand giebt – dann ist es sicher, daß man den heirathet. Ja – ganz gewiß,“ betheuerte sie eifrig und etwas beleidigt Über mein schallendes Gelächter, „bei Anna Dietrich ist es vollständig eingetroffen, und seitdem habe ich auch angefangen, Schimmel zu zählen.“

„So? Seit wie lange denn?“

„O, ungefähr seit einem halben Jahr. Aber jetzt muß ich heim,“ setzte sie, um weiteren Fragen zu entgehen, rasch hinzu; „es ist schon sechs Uhr.“

Immer noch lachend verabschiedete ich sie und saß dann wieder still und freute mich des schönen Abends in dem lieben friedlichen Gärtchen mit seinen duftenden Rosenkronen, dachte an Dies und Jenes und fühlte mich so recht von Herzen glücklich.

Da kam vom Hause der heimliche Grund von Klara’s Schimmelmanie hergeschlendert. Er sah etwas blaß und übernächtig aus und streifte im Vorübergehen mit dem gewohnten verächtlichen Blick meine unschuldigen Zwergbohnen. Mit kurzem Gruß ließ er sich auf den Stuhl mir gegenÜber fallen und starrte düster vor sich hin.

Er kam mir gerade recht. Du hast es selbst gesehen, wie kurze Umstände ich mit diesem „kompromittirenden Verehrer“ mache. Hugo ist jetzt auch beruhigt über ihn. Er gestand mir in jener großen Aussprache, daß er mehr als einmal auf den „verdammten Bengel“ recht eifersüchtig gewesen sei, aber dies ist nun so vorüber, als ob es vor hundert Jahren gewesen wäre – zwischen uns kommt Nichts mehr! Ich kann jetzt ganz ruhig „mütterliche Freundin“ sein.

„Nun,“ fing ich die Unterhaltung an, als Brandt gar keine Anstalten zum Sprechen machte, „was ist denn heute los? Sie sehen ja aus, als ob Ihnen ein Unglück passirt wäre?“

„Ein Unglück?! O – was könnte mir für ein besonderes Unglück zustoßen? Meine ganze Existenz ist ja nur eine Kette von Mißgeschick und Mißerfolg – ich …“

„Nun, das wollen wir für jetzt ruhen lassen. Sagen Sie mir lieber, was Ihnen heute passirt ist, denn daß Sie etwas haben, sehe ich Ihnen an.“

„O, es ist nicht der Rede werth,“ sagte er mit affektirter Gleichgültigkeit. „Herr Schumann hat mir für den Herbst gekündigt. Finden Sie das nicht ganz in der Ordnung? Nicht logisch und konsequent?“

„Wenn Sie nachlässig oder unartig gegen ihn waren, ja!“

„Unartig gegen ihn?“ fuhr er auf. „Gegen diesen stiernackigen Proletarier, diesen rohen Kerl, dessen einziges Interesse dahin geht, Geld und wieder Geld zu machen, der Gehirn und Muskeln seiner Leute aufs Aeußerste ausnützt und dann noch die Minuten zählt, die man in seiner verpesteten Höhle zuzubringen hat? Einem Nilpferd würde darüber die Geduld reißen –“

„Ich glaube nicht, daß die Nilpferde besonders geduldig sind,“ wandte ich ein.

„Und es ist gut so!“ fuhr er mit erhobener Stimme fort. „Ich bin dieser niederträchtigen Existenz bis zum Ekel überdrüssig. Was weiter wird? Ich frage es nicht, ich fange an einzusehen, daß der Kampf gegen das sogenannte Schicksal vergeblich ist. Der sinnlose Zufall trifft irgendwo einmal Einen unaufhörlich, statt nur dann und wann; ich bin dieser Eine – ich, bei dem es nicht Noth thäte, ihm den Unwerth des Lebens zu demonstriren. Ich war von Anfang an davon überzeugt.“

„Hören Sie,“ sagte ich, „diese Redensarten habe ich im Schopenhauer selbst gelesen und besitze ein gutes Gedächtniß (das war zwar gelogen, aber es paßte mir gerade so schon und daß solche Sachen darin stehen, weiß ich doch!). „Fahren Sie nur in Ihren personlichen Erlebnissen fort.“

„Meine Erlebnisse sind nur ein Theil der allgemeinen Misère, ekel, schaal, flach und unersprießlich, wie sie. Er hat Recht, der alte Franzose: le jeu ne vaut pas la chandelle! Man nährt die Kerze mit seinem besten Lebensmuth, mit Hoffnung und theuren Illusionen und was bleibt übrig? – Asche!“

Ich sah ihm recht freundlich und theilnehmend ins Gesicht: „Ja, das ist wohl wahr. – Warum schießen Sie sich eigentlich nicht todt?“

„Wie so?“ fuhr er auf. „wie meinen Sie das?“

„Nun, ganz einfach. Eine Pistole werden Sie ja haben und Pulver auch. Wenn Ihnen die Welt so verleidet ist, warum kehren Sie ihr nicht einfach den Rücken? Religiöse Bedenken halten Sie nicht ab, so viel ich weiß.“

„Nun – man hat doch noch Pflichten gegen das Allgemeine –“ stotterte er.

„Bilden Sie sich das nicht ein. Kein Mensch wird Sie vermissen, denn Sie haben sich nicht die Mühe gegeben, an Menschen Theil zu nehmen. Und zehn Andere sind bereit, in die Lücke zu treten, die Sie lassen. – Aber,“ fuhr ich fort, als er etwas betreten schwieg, „nun will ich ernsthaft reden und als ungelehrte Frau Ihnen sagen, daß ich mich für Sie, einen gesunden jungen Mann, schäme über solche Reden. Was! diese einzige Existenz, die uns gegeben ist, mit mattherzigem Gewimmer zubringen, statt die Augen aufzumachen, um Interessanteres zu sehen als das hochgelobte Ich, statt die Hände zu rühren, um etwas Tüchtiges zu schaffen! Was haben Sie denn bis jetzt in der Welt geleistet, mein lieber Herr Doktor, um so gewaltige Glücksansprüche zu erheben? Wenn Sie fünfundzwanzig Jahre lang umsonst für das Wohl Ihrer Mitmenschen gearbeitet hätten, dann könnten Sie sich beklagen, aber so viel ich weiß, sind Ihre Anstrengungen bis jetzt recht mäßig gewesen, und dort sitzt der Haken. – Wissen Sie, woran es Ihnen fehlt? Nicht an Talent und Intelligenz. Sie haben von Beidem eine ganz ordentliche Portion, aber am Charakter fehlt es Ihnen. Das unterstehe ich mich Ihnen ins Gesicht zu sagen als Eine, die es gut mit Ihnen meint! Und Ihre jetzige Kalamität ist gerade recht: bisher hat Sie das Gute nicht gefreut, nun ärgern Sie sich einmal über das Schlimme und dann packen Sie an, schaffen aus Leibeskräften und haben schließlich Ihre Freude am Erfolg, wie andere unphilosophische Leute!“

So predigte ich ihm noch eine Zeit lang fort und war selbst erstaunt über die Keckheit, mit der ich es that. Er wurde immer nachdenklicher, und nach einiger Zeit sagte er: „Ich wollte, ich hätte Sie früher gekannt. Sie sind eine so merkwürdig resolute Natur, Sie hätten von großem Einfluß auf mich sein können, statt –“

„Ja wohl, statt –!“ fiel ich ihm ein. „Was haben Sie denn nun von Ihren vielen kleinen und großen Koketterien mit lauter problematischen und unverstandenen Damen? Nichts als die Blasirtheit für diejenigen guten und natürlichen Mädchen, die doch allein die richtigen Frauen geben.“

„Sprechen Sie von meinen Fabriktöchtern?“ fragte er und schlug die Augen resignirt gen Hinnnel.

„Nein,“ lachte ich, „so schlimm ist’s nicht gemeint. Und beim Heirathen sind wir noch nicht, lieber Freund. Erst müssen Sie eine Stelle haben und dann noch ein ganz Anderer werden, Einer, der froh ist, wenn ihn ein liebes Mädchen nimmt, statt daß er sich einbildet, ihr ein ungeheures Geschenk mit seiner kostbaren Person zu machen.“

Ich hielt inne, es blitzte mir ein Gedanke auf, der mich in der nächsten Minute ganz erfüllte. Wenn man Brandt bei Klara’s Vater unterbringen könnte?! Parkettböden schneiden oder Leim sieden – das kommt doch schließlich auf Eins heraus – und dann weiter – wenn sich Klara ihn am Ende ernstlich in den Kopf gesetzt hat – wenn ihn der Alte zu einem tüchtigen Geschäftsmanne machte – eine Hilfe braucht er doch einmal, denn er hat keinen Sohn – – ich sage Dir, die Wenn strömten mir nur so dutzendweise zu und wirbelten in meinem Gehirne umher. Ich sah ihn prüfend fort und fort an. Bisher war er mir eigentlich ganz gleichgültig gewesen, nun kam es mir auf einmal vor, als müsse ich den verkehrten Menschen auf einen ordentlichen Weg bringen. Und wenn Klara auch dadurch glücklich würde! Wenn er sie in der Nähe sieht, muß er das liebe, bescheidene Ding ja lieb gewinnen, und bildungsfähig ist sie – ja, ich mußte mich nur halten, um nicht gerade mit meinen Gedanken herauszuplatzen.

„Darf man fragen, was Sie so beschäftigt?“ hörte ich ihn endlich sagen.

„Nein, das darf man nicht,“ rief ich vergnügt: „erst muß ich mit Hugo reden, gehen Sie jetzt, lassen Sie mich allein, Sie hören bald mehr davon.“

Er ging, ich überlegte mir die Sache in allen Details und fand keine Unmöglichkeit. Das Geschäft ist ein großer Betrieb; er müßte sich einarbeiten, aber das könnte er auch, und ein anderes Ding wäre es doch, als die abscheuliche Leimfabrik. Wenn ich dem alten Reichert ein Bischen um den Bart gehe, nimmt er ihn doch vielleicht; er sagte mir neulich, wie viel Dank er mir Klara’s wegen schulde. –

„Hugo, Hugo,“ rief ich diesem entgegen, als er in den Garten trat, „komm’ schnell, ich muß Dir etwas Wichtiges vortragen.“

„Nun,“ meinte er, als ich fertig war, „das ist gar nicht so dumm; da könnte aus dem interessanten Jüngling ja noch so zu sagen ein Mensch werden!“

Und jetzt begebe ich mich an die Intrige, und wie sie geglückt ist, das wirst Du hoffentlich recht bald erfahren! Emmy.
 




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