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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Die Geheimräthin.

Novelle von Hieronymus Lorm.
(Schluß.)


Mit dem Instinkt des Verwundeten, der wie der angeschossene Hirsch von selbst zur lindernden Quelle getrieben wird, trat Malköhne in die Wohnung der Geheimräthin, so mechanisch, daß er ohne Zweifel wieder umgekehrt wäre, wäre er zu deutlichem Bewußtsein gekommen, wo er sich befand. Es war bereits Abend geworden; Brigitta schrieb eifrig an einem Briefe, den sie der Gräfin Surville im Falle eines unglücklichen Endes zurücklassen wollte. Sie hatte sich an diesem Tage mit der Gräfin innig befreundet und bei ihrer Verlassenheit und Entfremdung den Gesellschaftskreisen der Hauptstadt gegenüber fand Brigitta für das Bedürfniß, ihr bis zum Tode verletztes Frauenherz ganz zu offenbaren, keine bessere Befriedigung als den Brief an die Gräfin.

Malköhne war beim Eintritt an der Thür stehen geblieben; Brigitta fuhr bei seinem Erscheinen erschreckt in die Höhe. Als sie den Wortlosen todtenblaß vor sich sah, war ihr Alles klar. Edith hatte ihn zurückgewiesen. Ein tiefer, erlösender Seufzer stieg aus dem Herzen der bisher so gequälten Frau. Zugleich füllten sich ihre Augen mit Thränen, denn niemals hatte sie tief empfundenes Unglück in so sichtbarer Gestalt vor Augen gehabt, als beim Anblick des jungen Mannes. Sanft nahm sie ihn bei der Hand und wollte ihn zum Sofa geleiten; er sank aber auf einem niederen Tabouret in sich selbst zusammen.

Brigitta ehrte sein Schweigen, im dunklen Gefühle, daß es ihn laben müsse, in ihrer Nähe zu sein, ohne zu sprechen. Nie hätte sie das erste Wort laut werden lassen, aber Malköhne selbst unterbrach das Schweigen. Er sah sich zuerst wie verwundert um, die zwei Kerzen, die auf dem Schreibtisch brannten, erhellten das Zimmer nicht genug, daß er Brigitta’s Züge mit voller Deutlichkeit hätte sehen können. So entging es ihm, ob sie Freude oder Mitgefühl ausdrückten; er wußte nur, daß er sich in unmittelbarer Nähe des einzigen Wesens befand, welchem er bisher alle seine Erfahrungen bekannt hatte. Freilich war auch unter den schmerzlichsten derselben keine gewesen, die sich mit dem verzehrenden Weh hätte messen können, das ihm jetzt die Seele durchwühlte.

Er begann langsam die Geschichte dieses Tages zu erzählen, nicht als ob er sie dem Ohre eines Anderen beichtete, sondern als ob er sie aus eigenem Bedürfniß in ein Tagebuch schriebe. Minute nach Minute schilderte er das Zusammensein mit der Tochter Glowerstone’s. Einen Moment strahlte überwältigende Freudigkeit aus seinen Augen, als er von der stummen Handreichung am Fuße der Treppe berichtete. Dann kehrte er mit einer Wuth, als ob er sich selbst zerfleischen wollte, sein Innerstes heraus, die Zweifel, die ihn nicht früher losgelassen hatten, als bis sie sein Glück zertreten. Jedes Wort wiederholte er, das er gesprochen und vernommen; es war, als ob er niemals hätte enden können, als ob er mit diesen Bekenntnissen noch einen Rest des sonst spurlos Untergegangenen festhielte und ihn niemals mehr aufgeben wollte.

Brigitta hörte ihn an, zuerst wie man von dem Leid eines Unglücklichen, das man nicht selbst nachempfinden kann, sich erzählen läßt. Man bleibt eigentlich kalt gegenüber dem Geschehenen selbst, aber man hat das Vertrauen, einen Trost für den Unglücklichen ausfindig zu machen. Allmählich indeß nahmen die Bekenntnisse ihres Geliebten die Gestalt an, als ob sich ihr eigenes Schicksal darin ankündigte. Ihr erster Gedanke bei seinem Anblick war gewesen: ich habe ihn wieder! Die Freude darüber spurlos zu unterdrücken, war als die nächste Regung eines edlen Herzens ihr nur natürlich gewesen.

Während er aber sprach, die Gefühle, die ihn angetrieben hatten und ihn jetzt einem so namenlosen Elend preisgaben, mit den glühenden Tönen der Leidenschaft verkündete, mußte sich Brigitta endlich fragen, ob sie den Verlorenen auch wirklich wiedergewonnen hatte. Immer unumwundener, immer deutlicher mußte sie sich die Antwort ertheilen, daß ein anderer Mann ihr zu Füßen saß, als derjenige, mit dem sich zu vereinen den Traum vieler Jahre für sie gebildet hatte. Vielleicht saß er auch in Zukunft wie seit Jahren täglich an ihrer Seite, vielleicht verband er sich sogar zuletzt mit ihr. Aber war damit auch der Zauber gebrochen, der ihn im Innern festhielt und ihn nach einer ganz andern Richtung zog?

Mit einem unwillkürlichen Schrei fuhr sie empor. Laut sagte sie sich:

„Er hat eine Jugend, die ich nicht an ihm gekannt habe, und nicht ich bin es, die diese Jugend geweckt hat; ich habe ihn wiedergewonnen – aber ich habe ihn für ewig verloren.“

Brigitta war eine jener großen Schönheiten, deren Alter man nicht zu enträthseln vermag, von denen man sogar glaubt, daß sie nicht jünger sein könnten, ohne minder vollendet zu sein. Allein Brigitta zählte beinahe um zehn Jahre mehr als der Mann, den sie liebte: eine Wahrheit, die ihr in diesem Augenblicke grell vor Augen trat. Aus dem Schmerz, dessen Tiefen Siegfried nach allen Seiten vor ihr aufgedeckt hatte, stieg seine bisher nicht geahnte, seine bisher künstlich verborgen gehaltene Jugendlichkeit empor. Die Maske dieser Jugend war es gewesen, was ihn mit ihr verbunden hatte; dies fühlte Brigitta. Die angenommene Blasirtheit, der Anschein, Alles hinter sich zu haben und durch Nichts mehr getäuscht werden zu können, der scharfe, durchschauende Blick und das schonungslose Urtheil: das waren die willkürlich aufgebauten Stufen gewesen, auf denen er sich bis zu ihrer eigenen Erfahrung und Denkungsweise zu erheben und mit ihr auf gleichem Niveau zu sein schien. Die Natur aber fordert allmächtig und unbeugsam ihr Recht. Sie wollte sich seine Jugend nicht entgehen lassen – und er stand plötzlich vor ihr, voll Schwärmerei und Illusion, durchklungen von den gewaltigen Lebenstönen des zum ersten Male erwachten Herzens, in weiter, weiter Entfernung von Brigitta.

Er konnte ihr nichts mehr geben; sie konnte ihm nichts mehr sein; ihre Hände reichten durch so große innere Trennung hindurch nicht mehr zu einander hin, selbst wenn sie sich äußerlich in einander gelegt hätten. Sie sah mit einer Art Bewunderung auf den noch immer in sich versunkenen, noch immer auf dem Tabouret kauernden Mann herab, daß er so plötzlich zum Jüngling hatte werden können. Bald aber erfüllte sie sein Anblick mit tiefem Mitgefühl, so daß sie fast freudig sich bewußt wurde, ihm noch etwas sein zu können, eine Schützerin, eine Pflegerin, eine Schwester.

„Ich lasse Sie nicht allein nach Wiesbaden zurückkehren,“ sagte sie, „und hier ist Ihres Bleibens auch nicht. Ich habe an diesem Orte nichts mehr zu thun. Warten Sie hier auf mich! Ich nehme Abschied von der Gräfin und von Glowerstone’s und lasse den Wagen kommen. In Wiesbaden kann ich Sie getrost dem Lord und Ihren diplomatischen Geschäften überlassen. Thätigkeit ist jetzt das Einzige, was Ihnen Heil bringt.“

Er antwortete nicht und sie nahm Hut und Mantel. Die Gräfin befand sich bereits bei Glowerstone’s, so daß Brigitta ohne Aufenthalt hinübereilte. Sir Albert und seine „Muhme“ waren wie gewöhnlich in einem sanften Streit begriffen, der nur von seiner Seite immer lautern Schall annahm. Es handelte sich darum, ob es nicht gut wäre, Edith der Gräfin, wie sie es wünschte, nach Italien mitzugeben, während Sir Albert Nahrung für seine Welt- und Menschenverachtung darin fand, daß man ihn so herzlos allein lassen wollte.

„Da kommt ein Schiedsrichter,“ rief Sir Albert beim Anblicke der Geheimräthin; „aber ich hoffe nicht viel; ich habe die Frauen niemals auf meiner Seite.“

Die Gräfin erzählte, daß Edith angegriffen und traurig in ihrem Kämmerchen sitze, sich nicht zu Bette legen, aber auch keine Gesellschaft um sich sehen wolle. Der Grund der Verstimmung sei nicht ausfindig zu machen.

„Ich weiß ihn sehr gut,“ erklärte Glowerstone, „aber Ihnen, Muhme Isabel, wollte ich nichts davon sagen. Sie sind gleich mit dem Vorwurf bei der Hand, daß ich mir sanguinisch in der Einbildung einen Palast baue, der beim ersten Fußtritt, den ich hineinsetzen will, zusammenbricht. Diesmal aber bin ich gewiß, daß der Palast in voller Wirklichkeit vorhanden war und daß ihn Edith muthwillig zerstört hat.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_822.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)