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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Weisung der kanadischen Regierung, unter starker Bedeckung zunächst zu Wasser, dann zu Lande der Stadt Regina zugeführt, wo er am 23. Mai anlangte. Er sollte das Gefängniß dieser Stadt nicht mehr verlassen.

Da das englische Strafproceßrecht die zeitraubende Voruntersuchung (in unserem Sinne des Wortes) nicht kennt, so konnte die Hauptverhandlung gegen Riel vor dem Schwurgericht zu Regina schon am 20. Juli beginnen. Die Geschworenenbank bestand nur aus sechs Geschworenen. Diese Abweichung von der uralten englischen Regel (der Zwölferzahl) beruht aber für Manitoba auf besonderem unangreifbaren Gesetz. Die deßhalb von der Vertheidigung Riel’s und der nordamerikanischen und irischen Presse erhobenen zum Theil recht leidenschaftlichen Vorwürfe sind daher unbegründet. Eben so wenig sind die Angriffe gegen die Unparteilichkeit des Richters Richardson und der Geschworenen irgendwie begründet. Vertheidigt wurde Riel von vier der besten Anwälte des Landes, die bis 700 Miles weit nach Regina gereist waren. Ihr Honorar war durch öffentliche Sammlungen aufgebracht. Die Verhandlung dauerte elf Tage.

Und dennoch erklärten am 1. August die Geschworenen Riel einstimmig der ihm beigemessenen Strafthaten schuldig, empfahlen ihn jedoch der Gnade der Königin, und Richardson verurtheilte ihn demgemäß pflichtschuldig zum Tode durch den Strang, vorbehältlich der königlichen Gnade.

Die Verurtheilung konnte nur geschehen, wenn die Geschworenen zugleich annahmen, Riel sei geistig gesund.

Die Frage des geistigen Zustandes Riel’s ist die interessanteste des ganzen Processes und hat während desselben und später die eingehendste Erörterung gefunden. In einer Unzahl englischer und französischer Strafprocesse wird ja von Seiten der Vertheidigung der Einwand der Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten erhoben, so daß man häufig geneigt sein mag, diesen Einwand nicht ernst zu nehmen. Aber hier stand es anders. Die Vertheidigung hatte von Quebec den Dr. Roy kommen lassen, um zu beweisen, daß Riel von 1876 bis zum 21. Januar 1878 19 Monate lang im Irrenhause zu Beauport gewesen war, wegen Größenwahns. Acht Tage lang mußte deßhalb die Verhandlung ausgesetzt werden, bis der Irrenarzt eintraf. Dr. Roy bestätigte diese Thatsache vollkommen und versicherte, Riel sei noch jetzt unzurechnungsfähig, er habe zur Zeit seiner Empörung Gutes und Böses nicht unterscheiden können.

So günstig stand dieser wichtigste Theil der Beweisaufnahme für Riel’s Vertheidigung, als Dr. Roy durch den schneidigen Staatsanwalt Osler ins Kreuzverhör genommen wurde – und als dieses geendet war, hatte der Doktor wohl bei Allen im Saale, jedenfalls bei den Geschworenen, jeden Glauben verloren. Dieses Kreuzverhör war die glänzendste Leistung des ganzen Processes. Mit unbarmherziger, planvollster Folgerichtigkeit trieb der Kronanwalt den Arzt fortwährend aus einer seiner vermeintlich sicheren und gedeckten Stellungen in eine neue thatsächlich eben so unhaltbare. Zuerst mußte Dr. Roy zugestehen, daß jährlich 800 bis 900 Irre in Beauport behandelt würden, darunter „leider nur“ 25 bis 30 Größenwahnsinnige im Jahr. Dr. Roy mußte einräumen, daß ohne besondere Hilfsmittel des Gedächtnisses oder des Falles die Erinnerung an Name und Krankheitsart des einzelnen Patienten nach Jahren nicht möglich sei. Zudem hatte der angebliche Riel in Beauport gar nicht Riel, sondern Larochelle geheißen. Gleichwohl hatte Dr. Roy, der doch schon vor Beginn des Processes wußte, daß er vernommen werden sollte, nach Regina gar keine – der angeblich reichlich vorhandenen – urkundlichen Beweise mitgenommen, um sein Gedächtniß zu unterstützen und um die Identität der Person des Angeklagten mit Larochelle zu beweisen, außer einer Strazze. „Da sehen Sie, von welchem Werthe schriftliche Beweise wären!“ muß er sich von Osler vorhalten lassen. Der Vertheidiger Fitzpatrick springt dem Arzt bei mit der Aufforderung, nur Französisch, mit Hilfe eines Dolmetschers, zu antworten. „Wenn der Zeuge sich hinter das Französische verstecken will, so kann er es thun!“ ruft Osler scharf.

Das war aber nur der Anfang von Dr. Roy’s fluchtartigem Rückzug. Denn nun nagelte ihn Osler an der Begriffsbestimmung fest, die Dr. Roy von der Geisteskrankheit „Größenwahn“ im Allgemeinen geben mußte. Dr. Roy meinte: „Die specielle fixe Idee des Kranken, der Wahn seiner Größe, sein Weltverbesserungsplan etc. sei unerschütterlich, und so weit diese Manie in Frage komme, vermöge der Kranke auch Gutes und Böses nicht zu unterscheiden.“

Da thut Osler die glänzende Frage: „Ob ein der Vernunft beraubter Mann, dessen fixe Idee unerschütterlich ist, sich dazu verstehen könne, diese Idee gegen Zahlung von 35 000 Dollars fallen zu lassen?“

Schließlich entläßt der Kronanwalt den Zeugen mit den schneidenden Worten: „Wenn Sie weder Englisch noch Französisch antworten können, werde ich viel besser thun, Sie gehen zu lassen – Sie können sich zurückziehen.“

Wir haben bei dieser Scene länger verweilt, weil sie jedenfalls die Hauptfrage des ganzen Processes entschied, die Geschworenen von der Geistesgesundheit Riel’s überzeugte. Die Vernehmung der übrigen Aerzte vervollständigte nur diese Ueberzeugung. Sie hielten Riel für geistig klar und zurechnungsfähig. Ebenso urtheilten die Officiere, welche Riel nach seiner Gefangennahme bewacht und begleitet hatten, der Gefängnißarzt und Wärter. Auch die Rede, welche Riel zum Schlusse der Verhandlung hielt, ehe die Geschworenen ihren Wahrspruch abgaben, muß bei den Geschworenen die Ueberzeugung von seiner geistigen Gesundheit bestärkt haben – nämlich wegen der sichtlichen Tendenz des Redners, unzusammenhängend und verwirrt zu sprechen und seltsame Gebete und Offenbarungen plötzlich in nüchterne Betrachtungen einzuflechten – mit einem Worte für verrückt zu gelten. Diesen Eindruck hatte aber Riel’s ganzes Handeln auf die Geschworenen bisher durchaus nicht gemacht.

Wie richtig die Geschworenen hierbei urtheilten, zeigte sich erst später. Die stärksten Beweise für Riel’s geistige Gesundheit brachten Riel und seine Freunde erst bei, als das Schuldig gesprochen war: er selbst, indem er in einer Rede unmittelbar nach Verkündung des Wahrspruchs eben so vernünftig, planvoll, scharfsinnig sprach, als kurz zuvor verwirrt – diesmal zu dem Zwecke, um seine Begnadigung wirklich zu erlangen, welcher die Geschworenen ihn anempfohlen hatten; seine Freunde, indem sie ein Schreiben bekannt machten, das Riel am 6. Mai – also in der größten Erregung des Kampfes, unmittelbar vor der Entscheidung um Batoche – an die Zeitung „Irish World“ gerichtet hatte. Und dieses Schreiben aus den Tagen der größten Erregung war zwar furchtbar bitter gegen England und alles englische Wesen, aber durchaus planvoll, klar, ja man kann sagen: mit durchtrieben scharfsinniger Berechnung abgefaßt. Wenn damals Louis Riel geistig gesund war, so war er es immer!

Auch die weisen, gründlichen und vorurtheilslosen Richter der zweiten Instanz (des Appellhofes von Winnipeg) haben dieses Urtheil über Riel’s Geisteszustand in eigenen ausführlichen Gutachten bestätigt.

Endlich wird der letzte denkbare Zweifel beseitigt durch Riel’s Verhalten in den letzten Tagen vor seinem Ende. Sein Testament vom 6. November ist eben so klar und einsichtsvoll – bis auf die Erkenntniß eigener Schuld, zu welcher er sich nie verstand und nie gelangt ist – als sein letzter Brief an seine Mutter, den er Nachts um 2 Uhr am 16. November 1885, sechs Stunden vor seiner Hinrichtung niederschrieb. Auch bis zu seinem letzten Augenblick war er ruhig, klar und gefaßt, und er starb muthig, wenn er auch noch auf dem Schaffot die Worte stammelte: „J’espère encore!“ – „Ich hoffe noch immer!“

Tausende hatten bis zu seinem Ende mit ihm gehofft, daß die Regierung ihm Gnade schenken werde. An Bittschriften, an Agitationen, an leidenschaftlichen Angriffen der Presse ist zu diesem Zwecke Alles aufgeboten worden; aber die kanadische Regierung blieb fest, und der geheime Londoner Kabinetsrath widerrieth der Königin die Gnade. Daß Riel kein Nationalheld, keines jener reinen selbstlosen Opfer der Hingebung an hohe Ideen war, deren Stirne für ewige Zeiten der goldene Schein des Märtyrers oder Apostels umfließt, ist klar. Daß er, unter dessen Befehl Hunderte ihr Leben geendet hatten und eine Provinz in Asche und Verwüstung sank, Maß für Maß und Leben für Leben den Tod verdiente, ist zweifellos; daß sein Proceß gerecht geführt und entschieden wurde, gleichfalls. Aber dennoch hätte höchste Weisheit ihm vielleicht trotz alledem ein milderes Schicksal und Ende gewähren können, als das nach dem Gesetz verdiente – freilich nicht immer ist höchste Weisheit auch höchste Klugheit, nicht immer ist sie angebracht! Hans Blum. 

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_827.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2022)