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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

als eine brüllende See das Schiff hebt und, plötzlich in sich zusammenstürzend, auch diese Bewegung dem Fahrzeug mittheilt. Der heftige Stoß wird von dem Kadetten hoch oben in dunkler Luft nicht genügend parirt. Ein furchtbarer Schrei und durch die Finsterniß fliegt ein Körper hinab in den Ocean. „Mann über Bord,“ schreit es auf Deck und – es geschieht, was in solcher Zeit in solchem Falle gethan werden kann.

Bruno Stein fühlt beim Stürzen einen entsetzlichen Druck, unter dem er zu ersticken meint, purpurne Lichter zucken vor seinen Augen; an sein Ohr dringen Stimmen, halb höhnisches Gelächter, halb donnerndes Strafgericht. Ihm vergehen die Sinne. Nur für einen Moment, dann rieselt es glühend durch seine Adern. Instinktiv macht sein Körper die Bewegung des Schwimmens. Der entsetzliche Druck auf Haupt und Brust mindert sich. Schneidende Kühle umgiebt sein Haupt. Er kann Athem schöpfen. Er öffnet die Augen. Er ist emporgekommen aus der grausigen Tiefe und wird von den Wellen hin und her geschleudert.

Da, dort, einem schwarzen Phantom gleich, schaukelt die „Jason“ – auf den nachtschwarzen Wassern. Jetzt schwebt sie auf der Spitze eines Berges, nun stürzt sie in ein Wellenthal. Ha, jetzt saust das Schiff in einem großen Bogen herum, ein Sternlein fliegt vom Schiff auf die tobende See herab.[1] Zu ihm! Zu ihm! Mit verzweifelter Anstrengung sucht der Schwimmende das auf dem Wasser glimmende Lichtlein zu erreichen. Jetzt hat er es erreicht; er streckt den Arm aus, sinkt aber kraftlos in die Tiefe zurück, und aberwals umfassen ihn die Schauer des Todes. Jähe Blitze zucken hin und her, tiefe Orgeltöne in zermalmender Fülle dringen in sein Ohr. Dazwischen unterscheidet der Ertrinkende deutlich eine weinende Menschenstimme; er sieht dicht über sich das liebe Antlitz seiner Mutter, welche schluchzend sagt:. „Mein Sohn, warum hast Du mir das gethan?“

Und so ermuthigend dringt ihr Weinen in seine dahinschwindende Seele, daß er mit letzter Kraft wieder die Arme bewegt, und als bohrten sich glühende Nadeln in sein Hirn, denen er entfliehen müßte, schnellt er abermals empor zur Oberfläche. Nur nicht das Weinen hören! Und welche Vorstellungen, welche Gedanken drängen sich blitzschnell in seiner Seele!

Leben! Leben! Gehorsam! Subordination! Briefe schreiben! Gleich, sofort will er schreiben, daß nur die Mutter wieder lächle! „Wir wollen den Burschen schon ’rumkriegen,“ hört er den Bootsmann sagen. Keine Ermahnungen mehr, liebe Mutter! Nicht sterben! „Der störrische Sinn muß gebrochen werden!“ Nein, nein, nicht mehr störrisch! Mutter, Mutter! –

Das Sternlein erlischt, er hat es nicht erreicht.

„Kamerad! Bruno Stein! Wir sind da! Muth, Muth!“ Aus weiter Ferne hört er den Ruf, kann aber nicht mehr antworten, nur ein dumpfes Stöhnen dringt aus der Brust. „Mutter, liebe Mutter,“ seufzt er matt und weiß ferner nicht, was in Nacht und Graus mit ihm vorgeht; er fühlt nicht, daß kraftvolle Arme ihn packen und den Wellen entziehen. Bruno Stein ist besinnungslos: aber er lebt. – –

Um einige hundert Meilen ist die Korvette nordwärts gesegelt, und seit ihn der Ocean in seinen todbringenden Armen wiegte, ist mit dem Kadetten Bruno Stein eine große Veränderung vorgegangen. Der störrische Bursch ist ein pflichttreuer Mensch geworden, der sich weder vor dem ersten Officier, noch vor dem alten grauen Bären, dem Bootsmann, zu fürchten hat. „Der wird! Er hat den Wind von vorn gekriegt!“ sagt der „Gewalthaber vor dem Maste“ und schiebt ein neues Stück Tabak in seine ausgeweitete Mundhöhle. Einen Haken hat die Sache aber doch. Der sonst so überkecke Kadett leidet seit jener Nacht an Schwermuth; je näher die „Jason“ ihrem nächsten Hafen kommt, je mehr das Datum dem 24. December entgegenrückt, um so düsterer wird seine Stimmung.

Weihnacht! Trotz fester Disciplin und strammen Dienstes schlagen zwanzig Kadettenherzen schneller, wenn das Wort im leise geführten Gespräch auftaucht. Weihnacht! Wo auch Seiner Majestät Schiff sich befinden möge, es wird den jungen Menschenkindern eine fröhliche Feier bereitet werden, freilich nicht von Eltern und Geschwistern, sondern von der „großen Mutter“, der Marineverwaltung. Nur für den unglücklichen Bruno Stein wird es kein Christfest geben. Er glaubt durch seine trotzige Nichtachtang der elterlichen Liebe das Anrecht auf dieses Fest der Liebe verscherzt zu haben; kaum darf er hoffen, daß die Eltern seiner gedenken.

Die Korvette ist nach Amoy beordert. Hier findet sie Befehl, die „Ariadne“ zu erwarten, die zur Ablösung unterwegs ist. Also in Amoy muß Weihnacht gefeiert werden. Nicht gerade zur Erbauung für Officiere und Mannschaften, die lieber in einem großen Welthafen, etwa Hongkong, binnengelaufen wären , aber das Kadettenvölkchen ist ganz aus Rand und Band; der Platz ist einerlei, Weihnacht ist eben Weihnacht.

O Welt, wie bist du weit! Wo Amoy liegt? An der Ostküste des chinesischen Reichs. Genauer: unter 24 Grad nördlicher Breite und 118 östlicher Länge, auf einer dem Festlande

  1. Die leuchtende, zehn Minuten brennende Rettungsboje, welche entzündet und über Bord geworfen wird, sobald bei Nacht der Ruf „Mann über Bord“ ertönt. Gelingt es dem Verunglückten, sie zu erfassen, so wird er von dem schnell ausgesetzten Boote meist gerettet werden können.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 829. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_829.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2024)