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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Ich machte eiligst Kehrt, warf mich außer Sehweite auf eine Bank, schluchzte mehrere Minuten lang inbrünstig ob dieser Tyrannei und ging dann in düsterer Stimmung dem Weiher zu, an dem ich Jascha zu suchen hatte.

Richtig, da saß sie. Ich betrachtete sie ein Weilchen von diesseit der Buchenhecke. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah über die kleine Wasserfläche hinweg in die dichte Wirrniß der Bäume, durch welche nur hier und da der glühende Schimmer des Abendroths leuchtete. Es herrschte ein gedämpftes rosiges Licht, und rosig flimmerte es aus dem sonst so finstern Wasser zurück und wob sich rosig um das sonst so blasse Gesicht Jascha’s. Sie trug ihr blaues einfaches Wollkleid wie alle Tage und das schwarze Sammetband um den schlanken Hals, daran leise bebend ein goldenes Kreuz mit Türkisen besetzt hing, ohne welches ich sie noch nie erblickt hatte. Unbeweglich verharrte sie so, sie schaute sich auch nicht um, als ich mich durch die Hecke drängte und zu ihr hinüber schritt. Erst als ich sprach, blickte sie auf, und so sehr wirkten diese traurigen Augen auf mich, daß ich die mißmuthige Art meiner Anrede, welche ich beabsichtigt hatte, unterließ und nur sagte:

„Wir werden zusammen wohnen – von jetzt ab; ich soll es Ihnen mittheilen.“

„O, Sie sind sehrr freundlich!“ erwiederte sie, sich erhebend.

Wir standen dann eine ganze Weile stumm neben einander. Ich wußte Nichts mehr zu sagen, sie offenbar auch nicht. Endlich machte ich eine Bemerkung, daß der Platz hier sehr hübsch sei.

„O, err ist es!“ erwiederte sie, „es ist so friedevoll hierr.“

Dann wieder Pause; das Läuten der Eßglocke klang uns wie erlösend. Ohne ein Wort schlugen wir den Weg durch die Buchenhecke ein und folgten den Andern nach, die eben durch die Gänge eilten. Ich biß plötzlich die Zähne zusammen, vor uns flatterten aus dem Gebüsch wie ein Paar zärtlicher Vögelchen – Dora und Lotte; sie hielten sich um die Taillen gefaßt und schienen ein Herz und eine Seele. O, sie würde mich nicht einen Augenblick vermissen, die Falsche!

Von einem plötzlichen Impuls getrieben, legte ich meinen Arm in den Jascha’s, und ein gezwungen heiteres: „Wartet doch!“ rufend, erlangte ich, daß sich jene beiden umsahen und mich Arm in Arm mit Jascha erblickten.

Das Mädchen hatte meine Annäherung hingenommen, ohne sich zu sträuben, aber auch ohne sie zu erwiedern, sie hielt so höflich ihren Arm gebogen, wie ein schüchterner Jüngling auf dem ersten Ball. An der Hausthür angelangt, trat sie zurück und ließ den Arm sinken. Dora bemerkte es und lachte, und dieses Lachen brachte mich zu dem Gelöbniß, Jascha Ponianska näher zu kommen und sie womöglich als Freundin zu erobern. Aber das schien leichter, als es sich in Wirklichkeit erwies.

Als wir zusammen in das für mich neue Schlafzimmer traten, schickte ich mich zu der bewußten Eroberung an. Ich hatte bereits überlegt und beschlossen, sie feierlich anzureden, das heißt, mit der Thür ins Haus zu fallen, ihr zu sagen, da uns das Schicksal einmal zusammengeführt, wollten wir uns doch ferner nicht mehr so fremd gegenüber stehen, sondern versuchen, uns einander anzuschließen und verstehen zu lernen etc. Ich, als die um ein halbes Jahr Aeltere, die ich nur in der Pension verblieben war, weil mein alter Großvater – meine Eltern waren längst verstorben – fürchtete, daß sein Haus nicht der rechte Platz für ein junges, lebenslustiges Mädchen sei: ich, die heimlich verlobt war mit meinem Vetter Robert, der in zwei Jahren aus Rio zurückkehren würde, um das Geschäft seines Vaters in Hamburg zu übernehmen und mich dann heimzuführen; ich, die ich von Frau Doktor Degenhardt auf Großvaters Wunsch seit einem halben Jahre behandelt wurde wie eine völlig erwachsene Dame, ich konnte das thun; von der Aelteren muß ja stets die Anregung zur Vertraulichkeit ausgehen.

Es war eine warme Julinacht. Der Mond strahlte in das trauliche Gemach und zeigte die schneeweißen Bettvorhänge und einfachen Möbel in fast tagheller Beleuchtung. Jascha begann ihre Nachttoilette sofort, ich setzte mich angekleidet auf einen Stuhl an das offene Fenster und sah ihren Bewegungen zu, sie hatten etwas Langsames, Müdes, ohne der Grazie zu entbehren. Sie kam jetzt in ihrem leisen Schritt herüber und trat vor den Spiegel zwischen den beiden Fenstern, also in meine nächste Nähe; sie sah nicht in das Glas hinein, es mochte dieses Hintreten ganz mechanisch geschehen. Sie hob die beiden schlanken Arme, von denen die weißen weiten Aermel des Frisirmantels weit zurückfielen, zum Hinterhaupt empor und löste ihr Haar.

„Jascha,“ fing ich resolut an, dann verstummte ich, sie hatte, wie erschreckt über diese Anrede, den Kopf nach mir gewandt, und ihr Anblick, das blasse junge Gesicht mit den großen Augensternen, jetzt von einer wahren Goldfluth umwallt, die fast märchenhafte Schönheit dieses Mädchens wirkte so verblüffend auf mich, daß mir die Worte versagten.

„Sie riefen mich? Ja?“ fragte sie leise.

„Ich sagte – ich wollte –“ stotterte ich –. Meine schwungvolle Rede war vergessen, sie kam mir dumm und gesucht vor. Ich meinte plötzlich, daß ich warten müsse, bis dieses Herz sich mir freiwillig zuwende, daß es unzart sei, sich diesem Mädchen aufdrängen zu wollen, aus dessen Blicken ein auf Lebenserfahrung deutender Ernst sprach, der es um Vieles reifer machte, um Vieles höher stellte, als mich, die Aeltere, Unbedeutendere.

„Ist es Ihnen auch nicht störend, daß ich nun hier mit wohne, daß –“ begann ich endlich.

„Aber, ich bitte sehrrr!“ antwortete sie, und ich konnte bemerken, wie ein dunkles Roth über ihr Gesicht floß. Sie bückte sich rasch, nahm den Kamm auf, der ihr entglitten war, und begann die mächtigen Haarwellen zu durchkämmen.

„Setzen Sie sich,“ bat ich, „Sie haben so starkes Haar, es ist unmöglich, daß Sie es allein einflechten.“

„O, Sie sind sehrr freundlich; ich danke, ich thue es stets allein, jetzt. Früher –“

Sie brach ab, indem sie mir wehrte.

„Früher?“ sagte ich unwillkürlich.

„Meine Mut – –“ Diesmal wurde das R nicht ausgesprochen, das Wort blieb unvollendet. Es war, als sei es in einem Aufschluchzen erstickt.

„Jascha,“ fragte ich weich, „ist Ihre Mutter auch todt?“

„Todt!“ wiederholte sie wie abwesend. „Ja, ja!“ stieß sie dann hervor, „sie ist todt.“ Und die Hand, die den Kamm hielt, winkte heftig und abwehrend zu mir hin, als sollte ich schweigen. Eben so hastig barg sie das Haar in einem Netz, eilte ins Zimmer zurück und rüstete sich vollends zum Schlafen. „Gute Nacht!“ klang es gedämpft in mein Ohr. Im nächsten Augenblick lag sie in ihrem langen weißen Nachtkleide vor dem Bette auf den Knieen, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt, und betete.

Merkwürdig lange dünkte es mich, die ich, aus Besorgniß, sie zu stören, keinen Schritt zu thun wagte. Erst als sie sich niederlegte, suchte ich auch mein Lager auf. Schlafen konnte ich nicht, mir war hier Alles fremd, das Bett stand anders als drüben und Jascha’s Gesellschaft kam mir unheimlich vor. Ich wagte einen Blick zu ihr hinüber – sie lag dort, die Hände gefaltet über der Brust, die Augen geschlossen, wie man Todte zu lagern pflegt; ich hörte sie nicht einmal athmen; sie veränderte auch ihre Stellung nicht innerhalb der nächsten Stunden, während welcher ich vergeblich den Schlaf suchte, immer, wenn ich zu ihr hinüber sah, lag sie noch so.

Ich begann, mir allerhand wunderliche Sachen auszudenken in der Stille der Nacht, und alle drehten sich um Jascha. Je öfter ich hinüber sah, desto unheimlicher erschien mir diese unbeweglich ruhende Gestalt. Rasch klopfte mir das Herz, die Luft in dem Raum dünkte mich unerträglich schwül; ich zählte die Schläge der Thurmuhr, der immer gleich die Dielenuhr im Hause folgte, es war ein sonderbarer Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Dann sah ich, wie Jascha sich plötzlich im Bett erhob und gleich darauf in ihrem langen Kleide durch das Zimmer wandelte, und ich konnte mich vor herzklopfender Angst nicht bewegen. Mir fielen schreckliche Geschichten ein von nachtwandelnden Personen, das Grauen kroch mir durch den ganzen Körper, und ich fühlte, wie mir die Zungenspitze so merkwürdig schwer im Munde lag.

Sie war an ihre Kommode gegangen, zog leise, ganz leise den Kasten auf und nahm Etwas heraus; in der nächsten Minute saß sie am Fenster, schob den Vorhang ein wenig zur Seite, und den Kopf tief herniederbeugend, schien sie in dem blassen Mondlicht etwas zu lesen. Nun, nachtwandelnde Personen – dachte ich mir – lesen nicht, wie ein Alp fiel es mir von der Brust; und sie schreiben auch nicht, und Jascha that es jetzt. Ich hörte deutlich das Kratzen ihrer Feder und nun auch ein leises Schluchzen;

ich sah, wie sie mit der Hand an die Augen fuhr und dann hastig

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