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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

nicht anziehen könne, weil sie ihr vier Nummern zu groß seien; kurz, es war eine unerquickliche Stimmung.

Jascha wurde eben von der Frau Doktor aufgefordert, „Ja!“ oder „Nein!“ zu sagen, ob sie mit wolle oder nicht. Aber ehe das Mädchen noch antworten konnte, erschien Johanne mit einer riesigen flachen Holzkiste.

„Da, für Fräulein von Ponianska.“

„Ein Kleid!“ riefen wir Alle und drängten uns um den Kasten, dessen Deckel Johanne soeben vermittelst eines Stemmeisens lüftete. Weißes Seidenpapier quoll empor; eine der Schneiderinnen kniete nieder, um es zurückzuschlagen.

„Leute! Kinder! O wie fein!“ rief sie und hob ein schimmerndes, von Spitzen überrieseltes Etwas empor.

„Herr Gott!“ schrie die Andere; „wie ein Brautkleid! Fräulein, was haben Sie für eine gute Großmutter!“

Wir Andern schwiegen still – wo blieb unser einfacher luftiger Mädchenputz gegen dieses Feengewand, in dessen duftigen Spitzen sich die schweren Kelche der Wasserrosen verbargen!

Frau Doktor sah etwas unzufrieden aus. „Jascha,“ fragte sie, „haben Sie eine so kostbare Toilette gewünscht?“

Wir blickten sämmtlich dorthin, wo das Mädchen gestanden hatte, und machten eben so erstaunte Gesichter, wie Frau Doktor es that, denn der Platz war leer – Jascha hatte das Zimmer verlassen.

„Wunderbar!“ murmelte Frau Doktor und hieß Johanne das Kleid mit allem Zubehör in die Nebenstube tragen, wo unsere Festgewänder in einer langen Reihe aufgehangen waren.

Dora murmelte Etwas, das wie „verrückt!“ klang, und Olga zuckte die Achselm „Protzenhaft! Was sollen die Durchlauchten denken, wenn sie daher kommt wie die Königin von Saba!“

Die Schneiderinnen wollten sich nachher noch das Arrangement der Schleppe ansehen, es sei ja zu schön und sie hätten just ein Brautkleid zu arbeiten. Das würde Aufsehen machen.

Im Uebrigen ging es stiller bei uns zu als vorher. Um Jascha bekümmerte sich niemand von uns; sie war schon längst in den Bann gethan; diese Toilettenrenommage aber verdarb ihr vollends die Position. Beim Abendessen erschien sie blaß mit bläulichen Ringeln um die Augen.

„Um Gotteswillen!“ rief Mademoiselle; „Jascha. Sie sind ja ganz naß und Ihre Hände, als ob man unversehens einen Frosch berührt!“

„Es regnet draußen,“ erwiederte das Mädchen. „verzeihen Sie.“ Und sie rückte ein Stückchen mit ihrem Stuhle weiter.

In der That sprühte ein feiner Regen an die Scheiben, und die Aeste der hohen Bäume wogten im Winde auf und ab. Wie schade für das morgende Fest – was sollte aus der Illumination werden!

„Wo waren Sie, Jascha?“ erkundigte sich Frau Doktor mild.

„Im Schloßgarten; ich hatte Kopfschmerzen und glaubte –“

„Sie würden besser werden?“ ergänzte unsere gütige Pensionsmama. „Ist es so“

Jascha ward roth. „O, ich danke sehrr – ja.“

„Essen Sie Nicht?“

„Danke sehrr, nein!“ – Sie ließ in der That die Schüsseln vorüber gehen.

„Sie sind wirklich leidend. Jascha; es ist mitunter eine Qual, wenn man beim Essen zusehen muß. Ziehen Sie sich doch zurück.“

Jascha dankte, stand auf und schob ihren Stuhl unter den Tisch. Als sie an der Thür war, rief Frau Doktor ihr nach. „Jascha, in meiner Stube auf dem Nähtischchen finden Sie englisches Riechsalz.“

Sie neigte dankend den Kopf und verschwand.

Wir durften zweimal in der Woche Abends in Frau Doktors Zimmer kommen; es gab dann eine kleine Erfrischung an Obst oder Kuchen. und wir konnten uns in den vielen Fauteuils. die in dem roth dekorirten, unendlich behaglichen Raume umher standen, vertheilen; wir durften auch auf dem weißen Bärenfelle vor dem Kamin hocken oder im Schaukelstuhl und auf den Puffs und plaudern.

Plaudern mit Anmuth sei eine Kunst, meinte Frau Doktor, und sie war Meisterin darin. Diese Stunden in der Dämmerung eines regnerischen Sommertages oder im Winter am lodernden Kaminfeuer waren von unsagbarem Reiz; sie sind noch jetzt eine meiner schönsten Jugenderinnerungen.

Auch heute war solcher Abend. Wir kamen in fröhlichster Stimmung herein; in den Winkeln der Stube lag schon die Dämmerung; nur die Hermesbüste hob sich leuchtend ab von dem Dunkel der Tapete. Jede von uns eilte zu ihrem besonderen Lieblingsplätzchen, ich hinüber zu dem meinigen, dem teppichbelegten Fenstertritt zu Füßen der Frau Doktor. O, er mar schon besetzt.

„Jascha?“ fragte ich.

Sie saß so merkwürdig da wie eine Statue, und so steinern sah auch das blasse Gesicht aus dem Zwielicht zu mir herüber.

„Rücken Sie ein wenig, Jascha.“ sagte Frau Doktor; „dort ist Platz für Zwei.“

Wir hockten neben einander, eng genug, daß ich Jascha’s Körper berührte und das Zucken und Schauern fühlte, das ihn durchzog.

„Sie sind sicher krank, Jascha.“ flüsterte ich in einer Anwandlung vom alten Mitleid.

„Nein, nein!“ gab sie zurück. Es klang, als müsse sie es mühsam hervorbringen.

Es ward ungewöhnlich rasch dunkel heute. Mademoiselle plaidirte für Licht, sie begriff nicht diese deutsche Liebhaberei, im Dunkeln zu schwatzen. „Es werden doch immer nur lauter sentimentale Geschichten,“ meinte sie in ihrem wunderlichen Deutsch. Wir protestirten aber sämmtlich.

Auf der Straße rollten rasch mehrere Wagen hinter einander vorüber; der Schein ihrer Laternen huschte an der Decke des Salons hin. „Das waren die Herrschaften,“ sagte Frau Doktor, indem sie aufstand, zu ihrem Schreibtisch hinüber schritt, den Deckel schloß und das Schlüsselbund in die Tasche schob. Sie mußte bei dem Lichtschein bemerkt haben, daß er offem gestanden hatte. Und ruhig auf ihren Platz zurückkehrend, wiederholte sie: „Das waren die Herrschaften, so schnell fahren hier nur die Hofequipagen. Ich muß immer noch daran denken; als ich zum ersten Male hierher kam, geschah es auch in einem fürstlichen Wagen. Es war, wie mein Prinzeßchen sich ihren Schwiegereltern als Braut präsentirte.

Wir hatten die Geschichte, glaube ich, schon öfter gehört. aber einstimmig riefen wir: „Bitte, bitte, erzählen Sie uns davon!“

Und Frau Doktor erzählte. „Es war an einem Donnerstag gewesen, im August, und ganz Wilhelmsburg hatte sich mit Fahnen und Kränzen geschmückt. Sträuße wurden dem jungen Paare in den Wagen geworfen, und die Leute schrieen „Hurrah!“ auf der Straße, aus Fenstern und Thüren. Zuletzt mußte das Prinzeßchen ein Glas Champagner trinken; der Herr Hofkonditor in schneeweißer Jacke, Mütze und Schürze brachte es an den Wagen und sagte, ob Durchlaucht ,allunterthänigst‘ geruhen wollten, die bescheidene Erfrischung anzunehmen, was die reizende junge Fürstenbraut auch unter herzlichster Belustigung that. Sie war in Blau und Weiß, den Landesfarben, gekleidet und hielt ein weißes Spitzensonnenschirmchen mit blauem Futter in der Hand.

Am Rathhaus war just ein kleiner Auflauf; es sollte dort in aller Eile ein junges Menschenkind hinter Schloß und Riegel gebracht werden, das mit den Gesetzen in Konflikt gerathen war. Aber der kräftige Bursche wehrte sich den Polizeidienern gegenüber mit verzweifelter Heftigkeit, und Eins – Zwei – Drei hatte er die Braven zur Seite geschleudert, war aus dem Menschenknäuel gesprungen und stürzte an den Schlag des eben daher rollenden fürstlichen Wagens. Allgemeines Entsetzen! Alles lief herzu, um den Menschen wegzureißen, aber er hielt fest. Der Bursch sah zum Erbarmen aus; seine hübschen intelligenten Züge waren von Verzweiflung beherrscht, die Kleider zerrissen, die Hände blutig geschunden.

Der Wagen hielt, die Prinzeß wehrte den Polizisten. ,Was ist’s mit ihm?‘ fragte der Erbprinz. – ‚Gestohlen, Durchlaucht,‘ sagte der alte Stadtsergeant. ‚Laß los, Geselle!‘

‚Nein! Nein!‘ schrie der Mensch, ‚Barmherzigkeit! Sperrt mich nicht ein, meine arme Mutter hat den Tod davon!‘ – Mein Prinzeßchen, auf deren Seite er sich wohlweislich geflüchtet

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_866.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2023)