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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Blätter und Blüthen.

Genie und Irrsinn. Unter diesem Titel hat ein italienischer Professor C. Lambroso eine Schrift verfaßt,[1] in welcher er die Verwandtschaft des ersteren mit dem Wahnsinn untersucht und die Beziehung beider zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte aus einander setzt. Es wird viele Leser ganz sonderbar gemahnen, wenn sie die höchste Begabung des Menschengeistes mit seinen größten Verirrungen zusammengestellt sehen: und doch ist dies nicht etwas so Neues, daß es Befremden erregen könnte; man denke nur an das Wort des großen Shakespeare:

„Des Dichters Aug’, in schönem Wahnsinn rollend.“

Schon der Vater aller Denker, Aristoteles, meinte, daß viele Menschen in Folge heftigen Zuströmens des Blutes nach dem Kopfe zu Dichtern, Propheten und Sibyllen werden, wie Markus von Syrakus, der in Anfällen des Wahnsinns schöne Verse verfaßte, bei ruhigem Geiste aber ohne jede dichterische Begabung war. Platen nennt das in einem reinen und kindlichen Gemüth entzündete Feuer, „in schöner Dichtung die Thaten der Helden zu besingen“, eine Art von Irrsinn; Paskal erklärte, daß die höchste Stufe des Genies dem Wahnsinn nahe liege. In der That gaben sich mehrere hochbegabte Männer Hallucinationen hin und verfielen auf lange Zeit dem Wahnsinn. Neuere Gelehrte suchten darzuthun, daß der Genius ein Nervenzustand sei, der nicht selten mit demjenigen der Irrsinnigen übereinstimme. Verschiedene geniale Menschen, die durch fortgesetzte Selbstbeobachtung bestrebt waren, ihr Inneres zu erforschen, haben die dichterische Begeisterung als ein sanftes Fieber beschrieben, dem unwillkürlich und schnell die Gedanken entspringen, von dem die Funken sprühen, wie von einem brennenden Holzscheite, das man schüttelt.

Ueberaus zahlreich sind die Sonderbarkeiten, die geniale Menschen dann, wenn sie mitten in ihrer schöpferischen Thätigkeit waren, an den Tag legten. Viele haben im Traume gedichtet, Entwürfe abgefaßt, Verse gemacht. „Alle Handlungen des Genies,“ sagt Voltaire, „sind Werke des Instinkts.“ Corneille schrieb die Scene der Horatier „wie ein Vogel sein Nest baut.“ Tasso glich einem Besessenen, wenn er dichtete; Milton vergrub sein Haupt in die Sofakissen; Bossuet pflegte sich in ein kaltes Zimmer zurückzuziehen, nachdem er sich den Kopf mit warmen Tüchern umwickelt hatte; Rossini komponirte im Bette, Rousseau ordnete seine Gedanken, wenn er unbedeckten Hauptes in der heißen Mittagssonne spazieren ging.

Die Leidenschaften aller genialen Menschen sind heftig, ihre Empfindsamkeit ist oft bis zum Krankhaften gesteigert: das ist derselbe Boden, auf welchem der Irrsinn erwächst. Geniale Gelehrte sind oft einseitig: sie haben sich oft ihr Lebenlang mit einem beschränkten Zweige des menschlichen Wissens beschäftigt; eine Aehnlichkeit mit der „Monomanie“, den Irren, die ganz von einer fixen Idee beherrscht werden. Darum fällt es gleich schwer, Geisteskranke wie hochbegabte Männer von einmal gefaßten Vorsätzen oder Anschauungen abzubringen.

Eine andere sonderbare, aber nichts desto weniger feststehende Thatsache ist diejenige, daß viele Wahnsinnige in verwandtschaftlichen Beziehungen zu genialen Menschen stehen und daß umgekehrt viele hochbegabte Männer Verwandte und Kinder hatten, die an Fallsucht, Blödsinn und Irrsinn litten. Richelieu’s Schwester bildete sich ein, ihr Rücken sei von Krystall, und die Schwester Hegel’s glaubte sich in ein Postpacket verwandelt. Die Schwester Niccolini’s glaubte, wegen der Ketzereien ihres Bruders das eigene Seelenheil verlieren zu müssen und machte wiederholt den Versuch, ihn, der ihr eingebildetes Seelenunglück verschuldet habe, zu tödten. Die Schwester Lamb’s tödtete in einem Anfalle von Wahnsinn ihre eigene Mutter; die Mutter Karl’s V. war Johanna die Wahnsinnige. Beethoven’s Vater war ein Trinker; Byron’s Mutter geistesschwach. Sein Vater führte ein ausschweifendes Leben und hatte einen frechen, schamlosen Charakter; auch sagte Byron von sich selbst: „Wenn es einen Fall giebt, in welchem ein excentrischer Charakter zu entschuldigen ist, so trifft dieser Fall bei mir ein, der ich von einer Familie abstamme, deren Charakterbeschaffenheit mich zu allem Anderen, nur nicht zur Harmonie des Gemüths führen und zum häuslichen Frieden befähigen konnte.“ Der Vater Schopenhauer’s war ein Mann von absonderlichem Charakter und endete durch Selbstmord; eine Tante und ein Großvater des Philosophen waren wahnsinnig. Die Kinder Mercadante’s, Donizetti’s, Volta’s, Manzoni’s fielen dem Wahnsinn zum Opfer, eben so Villemain’s Vater und Bruder und Kant’s Schwester.

Zahlreich ist das Verzeichniß geisteskranker Genies, welches sich in der Schrift von Lambroso findet; man wird darunter allerdings viele Männer antreffen, deren Lebensbeschreibungen, wie sie die Konversationslexika bieten, wenig oder gar nichts von geistigen Störungen enthalten; doch ein genaues Studium ihrer Lebensläufe zeigt, daß sie in einzelnen Epochen unter der Herrschaft des Irrsinns standen und daß viele ihrer Sonderbarkeiten keine andere Erklärung zulassen, als daß sie durch geistige Störung veranlaßt wurden. Wer über höchst merkwürdige und abenteuerliche Fälle von Seelenstörung und über verschiedene Arten des Wahnsinns Näheres erfahren will, der lese die überaus stoff- und inhaltsreiche Schrift von Lambroso. Auch auf das Wesen des künstlerischen Genies läßt sie manche neue und überraschende Lichtblicke fallen. †      

Die Pleißenburg und ein Stück vom alten Leipzig. (Mit Illustration S. 877.) Es hat sich in Leipzig, das als Sitz des Handels und der Wissenschaft unter Deutschlands Städten seit Jahrhunderten einen hohen Rang behauptete, manches historisch denkwürdige Gebäude erhalten. Unter diesen Bauwerken nimmt die Pleißenburg durch Größe, Ausdehnung und geschichtliche Bedeutung die erste Stelle ein. Sie war eine der drei Zwingburgen, welche Markgraf Dietrich, den die Geschichte als „den Bedrängten“ bezeichnet, der aber richtiger „der Bedränger“ genannt werden müßte, im Jahre 1217 gegen die seiner Willkür und Habsucht entgegentretende Bürgerschaft errichtete. Während zwei dieser Zwingburgen bald nachher den Klosterbauten der Dominikaner und Franziskaner weichen mußten, blieb die dritte, zum besseren Schutze der Stadt, bestehen und galt Jahrhunderte hindurch für eine der stärksten Festungen des Landes.

Während des Zeitraumes von der Gründung der Pleißenburg bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts ist nur eine Belagerung derselben vorgekommen, wie denn überhaupt Leipzig im Mittelalter wenig von kriegerischen Ereignissen heimgesucht wurde. Als die Pleißenburg im Jahre 1547, bei der Belagerung durch Johann Friedrich den Großmüthigen, sammt den Festungswerken der Stadt, arg geschädigt worden war, ließ Kurfürst Moritz ein neues Schloß, nach dem Plane der Citadelle von Mailand und dem 1530 von Tartaglia zuerst in Anwendung gebrachten neuen Fortifikationssysteme, errichten. Der Baumeister war der berühmte Architekt Hieronymus Lotter, Bürgermeister zu Leipzig. Das Schloß erhielt eine Bastion nach außen und zwei halbe Bastionen nach der Stadtseite, wie sie der Unterbau der Pleißenburg in ihrer ursprünglichen Gestalt noch jetzt zeigt. Auf dem hohen, starken Thurme, welcher muthmaßlich noch vom alten Baue herstammt, befanden sich fünf Böden mit Geschützen, und nicht minder waren auch die Bastionen mit Kartaunen und Feuermörsern wohl armirt. Zwei viereckige Thürme, die jetzt bis zu geringer Höhe abgebrochen sind, und die Gewölbe des nach der Stadt gerichteten „Trotzers“ waren einst so gefürchtet wie die Jupen von Rochlitz und die Kerker und Folterkammern von Stolpen und Hohnstein. Im Dreißigjährigen Kriege galt die Pleißenburg für eine Hauptfestung, und es haben blutige Kämpfe und mehrfache Belagerungen derselben um ihren Besitz stattgefunden.

Als aber aus der Blutsaat dieses scheußlichsten aller Kriege friedliche Zeiten erwachsen waren, verlor die Pleißenburg ihren Werth. Im Siebenjährigen Kriege galt sie schon nicht mehr als Festung. Alsbald nach dessen Beendigung kam der Gedanke zum Ausdruck, daß eine den Künsten und Wissenschaften, dem Handel und Gewerbe geweihte Stadt, wie Leipzig, sich nicht zu einer Festung eigne und was sie noch als solche erscheinen ließ, Graben, Wälle und Bastionen, allmählich verschwinden müßten, um anderen Zwecken Raum zu geben. Den Anfang hierzu machte 1766 die Erbauung eines Stadttheaters auf der Ranstädter Bastion, und bald traf die umgestaltende Hand des Friedens auch die Pleißenburg. Der Thurm wurde zur Sternwarte eingerichtet, und in die Wohnungen der Besatzung und die fürstlichen Gemächer verlegte man landesherrliche Magazine, die Maler- und Bau-Akademie, das chemische Laboratorium und ein Gerichtsamt. Seit 1830 dient die theilweise umgebaute Pleißenburg als Kaserne. Zugleich mit dem Neubaue des Schlosses Pleißenburg hatte Kurfürst Moritz auch der Stadt neue Befestigungen gegeben, deren Ueberbleibsel ihr manche pittoreske Ansicht verliehen. Namentlich war es der südliche Theil der Stadt, von der Pleißenburg bis zu dem sogenannten Moritzdamme, wo noch die alte Wallmauer, das Petersthor, die steinerne Bogenbrücke am Petersthore, mit ihren zwei Riesenpappeln, der als Obstplantage benutzte Stadtgraben und das gewaltige Magazingebäude, mit den angrenzenden niedlichen Zwingerwohnungen und dem Peterskirchlein, ein anmuthiges Erinnerungsbild der einstmaligen Festung boten. Es erhielt sich bis zum Jahre 1857, wo die in Leipzig erwachte Baulust ihr Augenmerk auch hierher richtete. Nach kurzer Zeit waren nur noch die Pleißenburg und die Peterskirche erhalten. Alles Uebrige hatte prächtigen Promenadenanlagen und einer der schönsten Straßen der Stadt, der Schiller-Straße, Platz gemacht. Das Peterskirchlein ist Anfang 1886 ebenfalls verschwunden und an dessen Stelle ist das Gebäude der Reichsbank getreten. So blieb von Allem nur die finstere Trotzburg Markgraf Dietrich’s übrig, als einziger Zeuge einer langen denkwürdigen Vergangenheit, in der sie ihre einst so stolze Bedeutung verlor, während die Jahrhunderte von ihr beherrschte Stadt zu Macht und Größe emporstieg. Otto Moser.     

Ein beachtenswerthes Schatzkästlein. „Welcher Beruf paßt für Dich? Wie hilft man dem Zucken der Gasflamme ab? Darf man den Gelüsten eines Fiebernden nachgeben? Wie wird ein Tisch gedeckt? Wie adressirt man einen Brief an den Rektor der Universität? Wie heilt man einen kranken Hund? Welche Obstsorten gedeihen bei uns am besten? Wer grüßt zuerst? Wie macht man ein Testament? Bei solchen und tausend ähnlichen Fragen des täglichen Lebens suche im ‚Schatzkästlein‘ eine Antwort, und ich denke, sie wird nicht fehlen.“ Diese Worte hat der Stuttgarter Buchhändler W. Spemann auf das Titelblatt des von ihm herausgegebenen „Schatzkästlein des guten Raths“ drucken lassen, und er hat damit in deutlichster Weise gesagt, welchen Zwecken sein eigenartiges Buch dienen soll. Es ist ein Konversationslexikon des täglichen Lebens; die verschiedenartigsten Fragen, welche die Gesundheit, die Haushaltung, die gute Lebensart, die Berufswahl, die Frauenarbeiten, die Spiele etc. betreffen, werden hier, systematisch geordnet, in bündigster Kürze beantwortet. Auf etwa 800 Seiten finden wir 2133 bald umfangreichere, bald kürzere Artikel, aus welchen wir erfahren, wie ein Haus gebaut werden soll oder wie ein Ei „mit vieler Geschicklichkeit und anmuthiger Fertigkeit geöffnet und verzehrt werden“ kann. Ernst und Scherz des Lebens sind hier gleichmäßig berücksichtigt; auf den ersten Blick mag es uns sonderbar berühren, wenn wir neben trefflichen Belehrungen über die Pflege der Säuglinge und die Jagd- und Reiseapotheke auch Notizen über Gesellschaftsspiele wie „Gesichterschneiden“, „Sackhüpfen“ oder „der geneckte Frosch“ finden: aber das tägliche Leben macht selbst derartige wunderbare Sprünge; es ist ein Drama und eine Posse zugleich, und so muß auch ein Schatzkästlein, wie das vorliegende, neben echten Perlen bunten Tand, Kotillonorden etc. enthalten. Ob die Menschheit ein solches Büchlein braucht, möchte man fragen. Unzähligen wird es gute Dienste leisten, können wir aus Erfahrung


  1. Mit Bewilligung des Verfassers nach der 4. Auflage des italienischen Originaltextes übersetzt von A. Courth (Leipzig, Reclam).
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 879. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_879.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2023)