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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Es wird sich finden,“ antwortete Frau Doktor und zog sich mit beruhigtem Gesicht in ihr Zimmer zurück.

Jascha behauptete wohl zu sein am andern Tage, dem großen feierlichen Balltage. Sie war aber von einer ungewöhnlichen Hast und Unruhe; sie holte selbst ihre Festtoilette herauf, erklärte aber, Nichts essen zu können, fuhr zusammen, wenn eine Thür ging, wechselte die Farbe und ihre Hände zitterten; sie war entschieden nervös.

Um sechs Uhr kam die Friseuse. In unseren Zimmern hatte sich ein reges Leben entfaltet, überall duftete es nach Eau de Cologne, frischen Blumen und neuen Handschuhen, lauter glückliche Mädchengesichter blickten sich an mit rothen Wangen und leuchtenden Augen. Jascha und ich waren so ziemlich die Letzten, die frisirt wurden. Die weiße Seide ihres Kleides raschelte bereits unter dem langen Pudermantel, den sie über ihre Toilette geworfen hatte. Sie war, während sie sich anzog, nicht vor den Spiegel getreten, und so kam es, daß ich nicht gesehen, wie sie ihr Kleid anlegte.

In der tiefen Fensternische stand sie, indessen ich frisirt wurde, und starrte in den Garten hinunter, in dem auch heute noch Regen und Wind ihr Wesen trieben. Ich konnte nur die Schleppe des weißen Seidengewandes sehen; die lag so unbeweglich auf dem getäfelten Fußboden, als sei sie nicht in Verbindung mit etwas Lebendigem.

Die Frau sprach mit halblauter Stimme; ich gab ihr leise Antwort, es ging so trübselig bei uns her, gar nicht wie in einem Zimmer, in dem sich zwei junge Mädchen zum Balle ankleiden. Endlich war ich fertig und Jascha saß auf dem Stuhl vor dem Spiegel.

„Wie befehlen das gnädige Fräulein?“

„Ganz offen das Haar,“ erwiederte sie. Die prachtvollen goldenen Wellen flossen über ihre Gestalt, ein paar Nadeln nahmen das Haar zum Hinterkopf zurück und festigten die Wasserrose, die förmlich versank in dieser Fülle. Es war im Umsehen geschehen. Dann erhob sich Jascha und zog den Pudermantel von den Schultern, sprachlos standen die Frau und ich vor ihr. Wie schön, wie märchenhaft schön! dachte ich. Auch sie starrte ihr Spiegelbild an wie überrascht, diese wundervolle Gestalt in der schimmernden Seide, diese schneeigen Schultern und die wunderbaren Arme, die aus den weit zurückfallenden Spitzenärmeln auftauchten.

So wie wir zuletzt mit dem Anzug fertig wurden, kam auch an uns zuletzt die Reihe, in einen der altmodischen großen Hofwagen zu steigen, die uns zum Feste abholten. An der Freitreppe hatte sich das halbe Städtchen eingefunden, und diese ganze große Treppe sollten wir vor Aller Augen ersteigen; eine bedeckte Rampe besaß das Schloß nicht.

Es war schon dunkel, das flackernde Licht der Pechpfannen streifte zauberhaft das Schloß, die Treppe und die dunklen Wipfel der Bäume und die Gesichter der Menschen. Mit einem Ruck hielt der Wagen; Lakaien rissen den Schlag auf und neben einander schritten Jascha und ich die Stufen empor. Hinter uns her scholl ein bewunderndes Flüstern; ich wußte, das galt ihr, und ich schaute sie an, und just in diesem Augenblick zögerte ihr Fuß und ihr Kopf wandte sich etwas zurück, ich folgte der Richtung ihres Blickes – da stand die Frau aus dem Park; ich erkannte die großen Augen, die scharfen verlebten Züge unter dem Tuch, das sie ums Haupt geschlungen, und langsam hob sie ihre Hand an die Lippen und, Jascha ansehend, küßte sie die Spitzen der Finger und winkte ihr kaum merklich, es war ein fast verzehrender Ausdruck in den Augen.

„Jascha!“ flüsterte ich athemlos. Aber da ging sie schon wieder neben mir, so ruhig, als wäre Alles nicht gewesen; es hatte ja auch kaum einen Moment gedauert, nicht länger, als man braucht, um langsam den Fuß auf eine höhere Stufe zu setzen.

„Jascha,“ wiederholte ich. „Wer ist’s?“

Aber sie antwortete nicht, und dann traten wir auch schon durch das Portal in die weite Halle, in deren riesigen Kaminen die Holzstöße flammten und in der Frau Doktor mit den Andern unser ungeduldig harrte, um uns die breite Treppe hinauf nach dem Saal zu führen, wo sich die Gäste versammelten.

Wir machten Aufsehen an diesem Abend; das heißt, nicht wir, sondern Jascha, nur Jascha. Als wir eintraten, flogen die Blicke Aller zu diesem schlanken, wunderbar schönen Geschöpf hinüber, es muß ausgesehen haben, als schwanke eine Lilie über einem Beete bunter Sommerblumen. Wer hätte das auch gedacht von Jascha?

Der Fürst war ganz elektrisirt von dieser Erscheinung, die Fürstin sprach ungewöhnlich freundlich mit ihr; Prinz Georg schwur Frau Doktor zu, Jascha sei der Stern des Abends, und Olga’s Adjutant ging mit fliegenden Fahnen in das feindliche Lager über. Ein dichter Kreis von Herren umstand sie plötzlich und ihre Tanzkarte wanderte von Hand zu Hand.

O, wir bekamen ja auch Tänzer, aber erst in zweiter Reihe. Es dauerte keine zehn Minuten, da flog Jascha’s weiße Seidenschleppe im Walzer über das Parkett des Saales, Prinz Georg war der Tänzer. Ich tanzte mit einem Jagdjunker von Göltz; er unterhielt mich auch vortrefflich in den Pausen, aber seine Augen waren wo anders – wo sollten sie wohl sein? – bei Jascha. Ein alter General, den ich vom vorigen Jahre kannte, trat herzu. „Also eine Studiengenossin von Ihnen?“ fragte er, zu Jascha hinüber sehend. „Polin? Wie? Ich hatte den Namen nicht recht verstanden.“

Ich nannte ihn.

„Aus O. doch nicht?“

„Ja, ich denke, so heißt die Besitzung.“

„Ei! ei! Hm! hm!“ brummte er, „hab’ die Mutter gekannt.“ Und ganz dicht an meinen Tänzer herantretend, wollte er ihm ins Ohr flüstern, aber das Flüstern des alten Herrn war so energisch, daß ich mir hätte die Ohren zuhalten müssen, um es nicht zu hören. „Schönes Weib war diese Mutter, aber rabiate Person; spielte toll, sag’ ich Ihnen, ihr halbes Vermögen verspielt, schließlich Scheidung, kurz ehe der Mann starb; Großmutter bestand darauf, sonst wäre Alles futsch gewesen. Habe sie selbst gesehen in Monte Carlo, verteufeltes Weib, übrigens Tochter ihr Ebenbild, ganzes Ebenbild.“

Erschreckt sah ich zu Jascha hinüber, unsere Blicke begegneten sich; es war mir, als habe sie geahnt, was hier gesprochen ward über sie; ihre rosige Farbe verschwand plötzlich und wich einer Marmorblässe.

„Was ist aus der Mutter geworden?“ hörte ich meinen Jagdjunker fragen, indem er sich anschickte, mich wieder durch den Saal zu wirbeln.

„Was wird aus ihr geworden sein? Verkommen irgendwo in Paris oder Nizza,“ flüsterte der alte Herr wieder hörbar. Und dahin flogen wir durch den Saal.

Gott im Himmel, wie schrecklich! Welch Elend lag in dem gleichgültig gesprochenen Worte: „Verkommen“! Und während des Tanzens dachte ich an den erstickten Aufschrei Jascha’s, als ich einmal ihre Mutter erwähnte, und ein unsägliches Erbarmen zog in mein Herz. Wie sehr, wie sehr mußte sie leiden!

Schon in der nächsten Pause eilte ich zu ihr.

„Nun?“ fragte Dora spöttisch, „der aufsteigenden Sonne nach?“

Ich überhörte es und trat neben Jascha. Sie stand im Gespräch mit einem jungen Manne in Frack und weißer Halsbinde, ein wunderschönes Paar. Jascha bemerkte mich kaum; ihre Augen glänzten, und sie redete mit ihrer langsam klingenden Weise und dem bewußten R. Ich wendete mich und ging. „Wer ist der Herr, der mit Jascha spricht, Liddy?“ fragte ich, da sie mir gerade in den Weg kam.

„Herr von Ahlfeldt, Rittergutsbesitzer in der Nähe hier,“ lautete die Antwort. „Reizender Mensch, nicht?“

Beim nächsten Tanze sah ich sie wieder zusammen, auch beim Souper, das an kleinen Tischen genommen ward, und beim Kotillon. Ich hatte Jascha noch nie lächeln gesehen, heute, als er ihr bei einer Tour den Rosenstrauß brachte, lächelte sie, es machte sie noch reizender.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich nicht froh werden konnte, daß ich immer und immer diese Jascha ansehen mußte, diese strahlende Jascha, und an die verkommene Mutter denken, und daß mir dabei die Frau nicht aus dem Sinn kam, dies elende Weib mit den großen Augen, die so sehnsüchtig zu Jascha hinüber blickten. Bah! Es war ja Unsinn – sie war ja verkommen in Paris oder Nizza – Gott wußte wo? Aber Jascha erschien mir so fremd in diesem Glanze, dieser Rosengluth, in diesen von Freude durchwehten Räumen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_882.jpg&oldid=- (Version vom 5.11.2023)