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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Herr von Ahlfeldt völlig in Brand!“ sagte der alte General zu mir, der zufällig an meiner Seite stand, und sah zu Jascha hinüber, die neben ihrem Tänzer saß mit rosigen Wangen. „Reizendes Kind allerdings, diese kleine Polin! Fürstin hat ihn vorhin schon geneckt mit seiner Inklination.“

Nach Beendigung des Tanzes verabschiedete sich Jascha’s Tänzer, und sie kam zu mir herüber. Herr von Ahlfeldt trat zu Frau Doktor, zog einen Stuhl heran und vertiefte sich in eine längere Unterhaltung. Jascha verwandte kein Auge von ihnen; ihr Fächer war in fieberhafter Bewegung, ihre Lippen waren halb geöffnet.

Ich fragte sie Etwas, aber sie stand wie geistesabwesend neben mir. Erst als die fürstlichen Herrschaften, vom Spieltische kommend, sich zurückzogen und Herr von Ahlfeldt sich von Frau Doktor beurlaubte, schob sie ihren Arm unter den meinigen. „Es ist zu Ende,“ sagte sie halblaut.

Alles drängte in die Garderobe, am Fuße der Freitreppe rollten die Wagen vor, der Schwarm der Gäste stieg hinunter. Einen Augenblick bemerkte ich Herrn von Ahlfeldt neben Jascha; dann rollte ich mit einigen von uns dem Hause zu. Jascha war in einen andern Wagen gerathen.

Ich stand bereits in unserem Zimmer, als sie rasch eintrat, der Mantel glitt ihr von den Schultern, und mitten im Zimmer blieb sie stehen, die Hände gefaltet, und sah in das leere Nichts mit glückseligem Ausdruck. „O Miß Mary,“ rief sie endlich, „es war so schön!“ Sie kam herüber zu mir, knieete vor dem Stuhle nieder, auf dem ich saß, und schlang die Arme um mich. „Ich habe nie gewußt, daß es so schön sein kann im Leben,“ flüsterte sie, „ich darf es Ihnen doch sagen, ich kann es nicht für mich behalten.“

„Ich freue mich, daß Sie sich amüsirt haben, Jascha,“ erwiederte ich, fast erschreckt von dem Gefühlsausbruch des sonst so stillen Mädchens.

„Amüsirt?“ rief sie außer sich, „wie das klingt! Wie kleinlich, wie nichtssagend! Es – o Miß Mary, wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten –“

In diesem Augenblicke hörten wir eiliges Thürenschlagen, das Rufen der Frau Doktor. „Johanne, Johanne!“ und im nächsten Moment war unsere Thür aufgerissen und die sonst so ruhige Frau erschien halb ausgekleidet, auf der Schwelle.

„Kinder! Mary! Denkt Euch, ich bin bestohlen. In meinem Schreibtische fehlen vierhundert Mark! Johanne, laufe zur Polizei!“

Wir standen Beide starr, Jascha und ich; aber Erstere sank schon im nächsten Augenblick auf den Stuhl, auf dem ich gesessen; ich kümmerte mich gar nicht um sie; ich lief hinter Frau Doktor nach deren Zimmer und betrachtete den Schub des Schreibtisches, in welchem vierhundert Mark in Kassenscheinen neben sechshundert Mark in Gold gelegen hatten, wovon nur die vier Kassenscheine verschwunden waren. Frau Doktor hatte ihre Brillantbrosche weglegen und für die Wirthschaft, die sie im Drange des Tages mit Geld zu versehen vergessen hatte, hundert Mark herausnehmen wollen und da die Entdeckung gemacht.

Das ganze Haus ward lebendig, Johanne, das Stubenmädchen, fing an zu weinen, als ob ihr der Strick schon an der Kehle saß; die Köchin stand kreidebleich und fragte, ob die gnädige Frau es auch ganz genau wisse. Diese armen Geschöpfe traf natürlich der erste Verdacht; denn Frau Doktor behauptete mit ziemlicher Bestimmtheit, es könne nur ein Hausdieb gewesen sein, Einer, der ganz genau Bescheid wisse, wie und wo. Olga erklärte, es sei unheimlich, vielleicht habe der Spitzbube sich noch im Hause versteckt. Dies bewirkte, daß keine von uns in ihr Zimmer zurückkehren wollte und im eifrigen Gespräche Muthmaßungen, Ausrufe hin und her flogen. Ueber eine Stunde verging so, bis Frau Doktor befahl, sobald der Tag graue, solle Johanne nach der Polizei gehen und wir jetzt ins Bette, denn augenblicklich sei Nichts in der Sache zu thun.

Zufällig war ich die Letzte, die das Zimmer verließ, Frau Doktor hatte sich abermals über das Schubfach gebeugt.

„Wenn ich nur begreifen könnte!“ sagte sie. Und als sie mich zögern sah, fügte sie hinzu. „Ein Dieb, ein professioneller Dieb, hätte wohl Alles genommen, sollte ich denken. Aber, Mary, ich begreife nur nicht; die Schlösser sind heil, niemals steht der Schub offen, ich bin doch immer –“

Plötzlich hielt sie inne und sah mich erschreckt an. „Um Gotteswillen, das ist ja Wahnsinn zu denken!“ flüsterte sie. „Ach, Mary, so Etwas weckt alles Schlechte im Menschen – nicht wahr, Mary?“

Ich wußte nicht, was sie meinte; ich kam herüber zu ihr und blickte sie fragend an.

„Die Johanne und die Rike sind immer so ehrlich gewesen; ich habe sie jahrelang, Mary –“

„Ich glaube auch nicht, daß eine von ihnen die Diebin ist, Frau Doktor.“

„Nicht, Kind, nicht? Was glaubst Du denn?“

Sie sah mich so fassungslos an, wie ich sie noch nie gesehen.

„Nichts!“ erwiederte ich ängstlich, „Nichts, Frau Doktor, ich habe keine Ahnung.“

„Mary, warum kam Jascha nicht mit herüber? Ihr waret doch eben Alle hier?“

Jascha? – Mir war es plötzlich, als preßte Etwas furchtbar mein Herz zusammen. Wir sahen uns Beide an; das Gebahren des Mädchens während der letzten Zeit zog blitzschnell vor mir vorüber. Aber, mein Gott, es war ja unmöglich! „Ich bitte Sie, Frau Doktor, liebe Frau Doktor!“

„Ach Kind! Kind! Ich bin eine alte Frau – ich kenne das Leben –“

„Nein, nein! Dieses nicht! Dieses nicht!“ rief ich weinend.

„Sei ruhig, Mary, es kann ja nicht möglich sein,“ sagte auch sie. „Geh hinüber, laß Dir Nichts merken! Es wird ja Alles aufgeklärt werden.“

Mit diesem furchtbaren Argwohn, der in mir rege geworden, kehrte ich zurück. Jascha saß nicht mehr auf dem Stuhle, sie lag davor, die Hände in das Haar gekrallt, ein Stöhnen klang mir ins Ohr.

„Jascha,“ rief ich, „was ist denn?“ Ich lief zu ihr, kniete neben sie und legte meinen Arm um ihren Leib. „Jascha, Sie haben Kummer, sagen Sie mir, was Sie drückt!“

„O, lassen Sie mich! Lassen Sie mich!“ schrie sie gellend auf und sprang empor, die gelösten Haare wild zurückschüttelnd. „Mir ist so schlecht, so angst!“

Ich weiß nicht, wie es kam, aber meine Zweifel waren augenblicklich zu Ende.

„Jascha,“ sprach ich fest, „warum sagten Sie es mir nicht, daß Sie Geld gebrauchen? Ich hätte es Ihnen von meinem Großpapa besorgt.“

Sie starrte mich mit einem Antlitz an, das sich zusehends verwandelte, mit Augen, so voll namenlosen Entsetzens, daß ich mich zu fürchten begann. Dann schwankte sie und würde zu Boden gefallen sein, hätte ich sie nicht gehalten. Und mit der fast Bewußtlosen im Arm saß ich auf dem Rand ihres Bettes, lange Zeit, und Nichts unterbrach die schreckliche Stille, als ihr regelmäßiges Aufstöhnen. Das erste Morgengrauen stahl sich durch die Vorhänge, unsere Kerze flackerte noch einmal auf, ehe sie erlosch, und noch immer saßen wir in der farblosen bleiernen Dämmerung des beginnenden Regentages, noch immer.

„Jascha,“ sagte ich endlich weinend und küßte sie auf die Stirn, „Jascha, wollen Sie sich nicht ein wenig legen?“

Da fuhr sie empor, und ihre Arme umklammerten mich: „Verlassen Sie mich nicht! Bleiben Sie – bleiben Sie bei mir!“

„Ich bleibe, Jascha, aber legen Sie sich, ziehen Sie das Kleid aus!“

„Das Kleid!“ rief sie, „das schreckliche Kleid!“ Und sie warf sich wild auf ihr Lager, und ihren leidenschaftlichen Schmerzensausbruch dämpften die Kissen, in die sie schrie.

„Ach Jascha, warum denn?“ sagte ich.

„O Gott im Himmel, was habe ich gethan!“ schrie sie auf.

„Jascha, fassen Sie sich, werden Sie ruhiger, gehen Sie zu Frau Doktor, noch ist Nichts verloren. Vertrauen Sie ihr die volle Wahrheit –“

„Ich kann nicht! Ich kann nicht! – Ist denn kein Ausweg?“

„Gut, wenn Sie nicht wollen, werde ich es thun, Jascha. Die Geschichte darf nicht erst beim Amte gemeldet werden.“

Sie war vom Bette geglitten und lag auf den Knieen, die Hände gefaltet. Und so sah sie mir nach, als ich hinauseilte, hinunter zur Frau Doktor. Die alte Dame schlief nicht, sie saß in ihrem Morgenkleide im Lehnstuhl am Fenster, sie schien sich nicht einmal zu wundern, als ich kam, und sah mich nur fragend an.

„Frau Doktor,“ sagte ich mit thränenerstickter Stimme, „helfen Sie ihr, sie ist unglücklich!“

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