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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Ueber Hypochondrie.

Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad.


„Ich leide seit längerer Zeit an mannigfachen Verdauungsbeschwerden. Nach jeder Mahlzeit empfinde ich ein unerträgliches Gefühl von Druck und Völle in der Magengegend; der ganze Unterleib ist gespannt und höchst schmerzhaft. Ein eisernes Band umschnürt meinen Bauch. Dabei habe ich Schmerzen in allen Gliedern, ein Reißen und Ziehen in den Armen und Füßen wie mit tausend Zangen; Brennen und Hitze im Rücken und zwischen den Schultern, als ob daselbst mich ein wildes Feuer verzehrte. Im Kopfe habe ich häufigen Druck, der mir den ganzen Schädel einnimmt, mir ist ganz wüst in meinem Gehirne und trübe gestalten sich meine Gedanken. Der geringste Anlaß kann mich in größte Aufregung versetzen und dann hämmert mir das Herz in der Brust, daß diese zu zerspringen droht; es wird mir ganz dunkel und schwindlig vor den Augen, so daß ich hinzufallen fürchte. Mein Schlaf ist recht elend und böse Träume schrecken mich fast allnächtlich auf. Zur Arbeit bin ich nicht recht aufgelegt und die Ruhe bietet mir keine Befriedigung. Ich bin frei von Nahrungssorgen und meine Lebensverhältnisse sind vollkommen angenehm geregelt, ich liebe meine treffliche Frau und meine wohlgerathenen Kinder; dennoch habe ich im häuslichen Kreise keine Freude, und wenn ich in Gesellschaft gehe, halte ich es daselbst nicht aus. Meine Freunde, meine Frau schelten mich aus, ich sei ein Hypochonder; sie verlachen mich als eingebildeten Kranken, weil ich esse und trinke wie ein Gesunder und spazieren gehen kann und nicht fiebere. Aber ich habe doch jene Schmerzen und empfinde doch all die quälenden Empfindungen wahrhaftig und wirklich und rede sie mir durchaus nicht ein. Bitte, Herr Professor, sagen Sie mir, ob ich wirklich krank oder nur ein Hypochonder bin!“

Wie häufig erhalte ich Briefe solchen Wortlautes, wie oft vernehme ich derartige mündliche Klagen! Stets ist mir hierbei schon die überschwängliche Ausdrucksweise auffällig, mit welcher solche Patienten von ihren Leiden sprechen und in grellen Farben ihre Stimmungsbilder entwerfen – untrügliche Zeichen überempfindlicher Nerven und überreizten Geistes. Wahrlich, die Klagen stammen meistens nicht von Personen her, die von einer schweren bedrohlichen Erkrankung lebenswichtiger Organe betroffen werden, aber Unrecht thut man ihnen doch, sie als eingebildete Kranke hinzustellen; denn die Hypochondrie selbst ist ja eine Krankheit, allerdings eine solche, in welcher die wirklich vorhandenen körperlichen Leiden in keinem richtigen Verhältnisse zu der Fülle von stürmischen Erscheinungen stehen, die sie auf dem Gebiete des Nervensystems hervorrufen.

Der Hypochonder ist ein unglücklicher Mensch, der mit einer überaus zarten Empfindlichkeit für die geringsten Veränderungen seiner körperlichen Zustände begabt ist und in Folge dessen auch seine stäte Aufmerksamkeit dem eigenen Ich zuwendet, das ihm der unaufhörliche Anlaß zu trüben Stimmungen, unbegründeten Befürchtungen und Wahnvorstellungen wird. Ganz bezeichnend sagt der geistvolle Humorist Lichtenberg: „Es giebt große Krankheiten, an welchen man sterben kann, es giebt ferner welche, die sich, ob man gleich nicht daran stirbt, doch ohne vieles Studium bemerken und fühlen lassen; endlich giebt es aber auch solche, die man ohne Mikroskop kaum erkennt. Dadurch nehmen sie sich aber ganz abscheulich aus, und dieses Mikroskop ist – Hypochondrie.“

In der That verlegt sich der Hypochonder darauf, sein Befinden mit mikroskopischer Genauigkeit ängstlich zu studiren. Er besieht sorgfältig die Zunge, zählt genau die Schläge seines Pulses, betrachtet im Spiegel die Gesichtsfarbe und den Mienenausdruck und unterwirft die Absonderungen und Ausscheidungen des Körpers einer minutiösen Beobachtung.

Kein Wunder, daß diese stäte Selbstbeobachtung und diese unaufhörliche Beschäftigung mit dem eigenen Körper eine tiefe Verstimmung und starke Aengstlichkeit erzeugt, welche zumeist noch durch unklare Vorstellungen über die Krankheiten gesteigert wird. Ein leichter Kopfschmerz oder Rückenweh giebt zu der Besorgniß Anlaß, daß eine schwere Hirnkrankheit eintritt oder es zu einem Rückenmarksleiden kommt. Ist die Verdauung träge und der Unterleib empfindlich, so taucht gleich die Befürchtung auf, daß sich Magenkrebs entwickle. Ein leichter Katarrh des Kehlkopfes oder der Lungenschleimhaut wird mit tiefer Kümmerniß für beginnende Kehlkopf- und Lungenschwindsucht gedeutet. Das bei nervösen Personen so häufig jeder Erregung folgende Herzklopfen gilt als untrügliches Zeichen eines schweren Herzfehlers. Und so geht es mit wohlgefälliger Abwechslung fort ins Unendliche.

Diese Sorge um das allerhöchste eigene Befinden, diese Furcht vor jeder Möglichkeit zur Erkrankung giebt zu übertriebenen Vorsichtsmaßregeln Anlaß, welche jede Lebensfreudigkeit nothwendig benehmen müssen. Des Abends darf nicht ausgegangen werden, damit sich keine Gelegenheit zur Erkältung biete; die Kleidung wird besonders warm gewählt, der Hals und der Mund mit Tüchern geschützt, damit kein rauher Wind Schaden bringe; die Nähe von Kranken wird ängstlich gemieden, damit ja kein Ansteckungsstoff Eingang finde; kurz, alles Denken und Fühlen, Sinnen und Trachten, Thun und Treiben dreht sich um die Sorge für das eigene körperliche Wohl und Wehe. Bei einer gewissen allgemeinen Bildung besitzt der Hypochonder die moralische Kraft, sich noch einigermaßen zu beherrschen und in Gesellschaft seine trübe Stimmung zu verbergen; nur allein oder im Familienkreise, wo er sich keine Gewalt über die Aeußerung seiner traurigen Empfindungen anthut, ist er schwermüthig, sinnend, grübelnd. Der liebste Gesprächsgegenstand ist ihm sein eigener Krankheitszustand oder ein diesem ähnlicher Zustand, und mit großer Vorliebe weiß er, besonders wenn er eines Arztes habhaft werden kann, das Gespräch auf sein eigenes Leiden zu bringen, das er für unheilbar hält und von dem er baldigen Tod, Elend seiner Familie etc. befürchtet. Unter den Aerzten ist ihm derjenige am liebsten, der sich die Zeit und Mühe nimmt, seine stets wiederkehrenden Klagen mit sichtlicher Aufmerksamkeit anzuhören und den ganzen Körper einer recht gründlichen Untersuchung zu unterziehen.

Es ist kein lichtvolles freundliches Bild, das wir mit diesen wenigen Strichen skizzirten; aber es hat den Vorzug, getreu nach der Natur entworfen zu sein und wohl getroffen die düsteren Züge des Hypochonders zu geben, der mit seiner unsäglichen Besorgniß, mit seinen stäten Klagen sich und den Seinigen das Leben verbittert.

Fragen wir aber nach den Ursachen dieses qualvollen Zustandes, so muß vor Allem erwiedert werden, daß die Hypochondrie eine Tochter der Neurasthenie ist, der allgemeinen Nervenschwäche, welche sich durch erhöhte Reizbarkeit und herabgeminderte Leistungsfähigkeit des gesammten Nervensystems kundgiebt. Wenn gleich die anatomischen Veränderungen des Gehirns, welche der Hypochondrie zu Grunde liegen, noch nicht erforscht sind, so muß man doch annehmen, daß gewisse Veränderungen desselben daran die Schuld tragen, daß bei Hypochondrie alle die Nerven treffenden Eindrücke übermäßig stark empfunden werden und die Anregung zu Unlustgefühlen geben, welche die ganze Seelenthätigkeit, die Gedankenentwickelung und das Geistesleben beherrschen und gefangen nehmen. Zweifellos spielen hier angeborene Verhältnisse eine wichtige Rolle. Es ist geradezu erstaunlich, mit welcher photographischen Treue zuweilen das Bild der hypochondrischen Erscheinungen bei dem Sohne gleich wie beim Vater zu Tage tritt, und in vielen Familien kann man leicht den schwarzen Faden der Hypochondrie verfolgen vom Großvater bis zu dem im Kindesalter befindlichen Enkel.

Dem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgehen, daß manche Kinder, und zwar vorwiegend Knaben von schwächlichem zarten Körperbau, sich durch eine übergroße Empfindlichkeit auszeichnen wie durch eine merkwürdige Neigung, bei den geringfügigsten Anlässen ängstlich und besorgt zu werden. Solche Jungens benehmen sich schon von Kindesbeinen an weniger „männlich“, als ihre Altersgenossen; sie sind leicht eingeschüchtert und furchtsam. Wenn sie ein kleiner Unfall betroffen hat, wenn sie gefallen sind oder gestoßen wurden, kann sie der Anblick der Beule oder Schramme oder gar des fließenden Blutes in die größte Angst versetzen; sie jammern und klagen nicht allein wegen des körperlichen Schmerzes, sondern ganz besonders aus Furcht vor den Folgen der Verletzung. Als Jünglinge thun sich solche mit ererbter Neigung zur Hypochondrie Behafteten durch ihre Grübelsucht hervor,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 889. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_889.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)