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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

indem sie bei dem geringsten Unwohlsein alle möglichen Krankheitssymptome an sich entdecken und ohne wirkliche Nöthigung über eine Fülle von Schmerzen klagen; sie fühlen sich bei jedem unbedeutenden Anlasse krank, meiden die lärmenden Vergnügungen der Altersgenossen, sind leicht launisch und mißvergnügt und haben oft das Bedürfniß, allein zu sein und sich auszuruhen. Das Mannesalter bringt dann die von den Eltern überkommene Krankheit zur vollen Entwickelung und geringfügige Gelegenheitsursachen geben den Anstoß, daß die Hypochondrie zum unverkennbaren Ausdrucke gelangt.

Alle Krankheiten, welche eine große Schwächung des Organismus und hiermit auch eine Herabsetzung der Energie, eine Ermüdung des Nervensystems bedingen, sei es durch Blutverluste, durch Fieber, sei es durch Beeinträchtigung der Gesammternährung, können, besonders bei erblicher Anlage, die Veranlassung zur Hypochondrie werden. Das Entstehen dieser Krankheit läßt sich oft ganz deutlich von einem überstandenen Typhus, einer schweren Lungenentzündung etc. her verfolgen, oder es lassen sich übermäßige geistige Anstrengungen, sinnliche Ausschweifungen, drückender Kummer und Sorgen als krankmachende Ursachen nachweisen. Bestimmte Beschäftigungsarten scheinen besonders die Hypochondrie zu begünstigen. Sitzmenschen, welche, an das Bureau gefesselt, eine mehr mechanische Schreibarbeit haben, die ihre Denkthätigkeit nicht vollständig in Anspruch nimmt, wie Kanzlisten, Rechnungsbeamte, und andrerseits Stubengelehrte, welche ihr Gehirn in eintöniger Weise anstrengen, aber auch Personen, welche in noch rüstigem Alter sich zur Ruhe setzen und eine rege, abwechselungsvolle Thätigkeit mit dem ungewohnten Nichtsthun vertauschen, das ihren Gedanken keinen genügenden Spielraum bietet – sind sehr häufig geneigt, ihren körperlichen Zuständen ganz besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und sich betrübenden Vorstellungen und ängstlichen Stimmungen hinzugeben. Daß eine Geistesbeschäftigung und Seelenthätigkeit, welche andauernd auf die Beobachtung von Krankheiten gerichtet ist, hypochondrische Empfindungen zu wecken vermag, ist leicht erklärlich, und in diesem Umstande liegt der Grund, daß der Studirende der Medicin sich so leicht alle möglichen Krankheiten einredet, die er gerade auf der Klinik vertreten findet; daß gebildete Krankenpfleger durch den Verkehr mit den Leidenden an hypochondrischer Stimmung leiden, daß das Lesen gewisser sogenannter populärer medicinischer Schriften beängstigende Vorstellungen zu wecken vermag und daß bei herrschenden Seuchen und ansteckenden Krankheiten so leicht Hypochonder auftauchen, welche grundlos an Cholera, Typhus, Scharlach, Blattern, Diphtheritis erkrankt zu sein fürchten.

Dekoration zu Graun’s Oper „Orfeo“ im Jahre 1785.


Wenn in den besser situirten, wohlhabenden und gebildeten Gesellschaftskreisen die Hypochondrie weit häufiger auftritt als in den arbeitenden Klassen der Bevölkerung, so liegt der Grund hierfür darin, daß der geplagte Arbeiter, der auf seiner Hände Thätigkeit angewiesen ist, weder Befähigung noch Zeit hat, der Phantasie viel Spielraum zu gönnen und sich krankhaften Empfindungen hinzugeben. Aber ausschließliches Eigenthum der Reichen ist dieses hypochondrische Krankheitsgefühl keineswegs, und gar manche Handwerkersfrau weiß auch davon zu erzählen, wie ihr Mann sie mit seiner Hypochondrie, seiner Launenhaftigkeit und Griesgrämigkeit zu quälen versteht.

So stürmisch die Erscheinungen sind, welche die Hypochondrie hervorruft, so mannigfach die mit ihr verknüpften Leiden sind, so tief diese Nervenkrankheit in alle Lebensverrichtungen eingreift – so können wir doch sagen, daß in den meisten Fällen Besserung, ja Heilung erzielt werden kann. Ein denkender und fühlender Arzt wird zumeist ein lohnendes Feld seiner segensreichen Wirksamkeit finden, wenn er jeden Einzelfall zum genauen Gegenstande eingehenden Studiums macht, die veranlassenden krankhaften körperlichen Zustände erforscht und die ursächlichen seelischen Einflüsse ins Auge faßt. Mit ätzendem Spotte oder leichtem Achselzucken ist kein Hypochonder zu kuriren, wohl aber durch ernste Erforschung der Natur des betreffenden Individuums. Häufig sind Verdauungsstörungen die Ursachen der Hypochondrie. Geeignete Regelung der Magen- und Darmthätigkeit ist hier von unendlicher Wichtigkeit.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 890. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_890.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)