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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)


Karten spielen oder Erlebnisse erzählen, Bettel- und Gaunerpläne schmieden, der Flasche zusprechen oder schlafen, – damit verstreicht den Pennegästen die Zeit; es geht Mittag vorüber und kommt der Abend herbei, – der Hausknecht (als rechte Hand des Boos, Herbergvaters, auch Viceboos titulirt) schließt die Fensterläden und zündet die Hängelampe an, die den ganzen Raum erleuchten muß, – „und jetzt, jetzt strömt es langsam heran, das Heer der Vagabunden, der Bejammernswerthesten des ganzen Volks. – Stundenweit sind sie heute den ganzen Tag durchs Land unmhergestrichen, um ihren Lebensbedarf sich ‚bischenweise‘ zusammenzuholen. Alle ohne Ausnahme sind fast steifgefroren – und ihre Füße? Daß Gott erbarm! Unempfindliche Eisklumpen! – – Der einzige Trost ist dem Kunden, wenn der Brotbeutel gefüllt ist mit allerhand Eßwaaren. Diese lassen sich, wenn Etwas übrig bleibt, verkaufen und für das Geld giebt’s so wieder einen festen Schluck in die Flasche.“

Wie nun der Abend in der Penne die Nacht einleitet, wie die Einzelnen, die Paare, die Gruppen der früh Ausgezogenen, so weit sie nicht von der Polizei eingesteckt oder durch die Flucht vor derselben anderswohin verstreut worden sind, sich an den Tischen, in den Winkeln und um den Ofen herum wieder einrichten, wie der Hunger gestillt und die Bulle gefüllt und in der bunten, entsetzlich gemischten Gesellschaft getrunken und gesungen, getanzt und geprügelt wird, bis Boos und Viceboos die nächtliche Ordnung durch Zusammenrücken der Tische und Auslegung der Schlafstreu herstellen: dieses scenenreiche Stück des Pennetreibens muß der Leser in Rocholl’s Buch sich selbst vor Augen führen. Selbstverständlich beherbergt die Penne in ihren anderweitigen Räumen noch eine „besser situirte Minderheit“ von „armen Reisenden“, deren Fechtgewinn täglich zum Betrage von mehreren Mark aufsteigt und die Nachts in Betten schlafen, früh Kaffee trinken und dann sich auch am Abend etwas Besseres gestatten dürfen, als Pellkartoffeln und „Schwimmlinge“ (Heringe), den höchsten Luxus der auf dem „Rauscher“ (Stroh oder Heu) oder dem „Knacker“ (Tisch oder Bank) nächtigenden armen Kunden. Nur die Schnapsflasche ist Allen gemeinsam das höchste Gut.

Endlich ist die Nachtordnung hergestellt. „Nun ist’s still in dem großen Gebäude, welches so viel Jammer und Elend in sich schließt. Da liegen sie reihenweis – meist vom Fusel übermannt, von der Lampe trüb beleuchtet, die ‚Sklaven des Branntweins‘. – Wie viel hoffnungsvolle Blüthen sind in ihnen auf immer geknickt! Wie viele Mütter haben jahrelang auf ein paar Zeilen von ihrem Liebling geharrt, bis ihr Haar grau, ja – weiß wurde und sie ohne Nachricht, ohne Trost hinübergingen! Oder war’s vielleicht besser, daß sie nicht erfuhren, ob ihr Sohn todt sei, als wenn sie ihn hier gewußt hätten? Arme Menschen, Ihr selbst könnt Euch nicht mehr helfen, Ihr Tausende von Genossen, Ihr selbst nicht! Mögen es denn Andere versuchen, Euch zu helfen!“

Zenab, eine arabische Sängerin in Kairo.
Originalzeichnung von Alfred Schüler.

Wer das Buch zu Ende gelesen, hat in der That „eine Welt des Mangels, eine Fülle von Kummer und Elend“ kennen gelernt, deren Größe in erschreckenden Zahlen vor uns steht:

„Welche Branntweinfluthen,“ sagt Rocholl, „werden von den etwa 200 000 Wanderbettlern, die sich im Deutschen Reiche umhertreiben, täglich, jährlich – durch die Kehle gejagt! Ein einfaches Rechenexempel! Der Wanderbettler verbraucht im Durchschnitt, wie von Seiten einer Autorität auf diesem socialpolitischen Gebiete neuerdings angegeben wurde, täglich etwa zwei Mark. Gering angeschlagen werden davon täglich 50 Pfennig für Schnaps ausgegeben; also legen 200 000 Vaganten zusammen täglich 100 000 Mark in Branntwein an. Das macht im Jahr, zu 360 Tagen gerechnet, für die 200 000 Menschen – 36 Millionen Mark für Branntwein!

Und wäre diese Rechnung auch zu hoch gesteigert, betrüge sie die Hälfte oder weniger – daß es gerade der Branntwein ist, an welchem so Viele zu Grunde gehen, macht die Rettung derselben um so schwerer, weil der „Branntweingenuß nicht die Ursache, sondern eine Folge der Noth“ ist, wie Liebig uns belehrt. In seinen „Chemischen Briefen“ sagt er:

„Es ist eine Ausnahme von der Regel, wenn ein gutgenährter Mann zum Branntweintrinker wird. Wenn hingegen ein Mensch durch seine Arbeit weniger verdient, als er zur Erwerbung der ihm nothwendigen Menge von Speise bedarf, durch welche seine Arbeitskraft völlig wieder hergestellt wird, so zwingt ihn eine starre unerbittliche Naturnothwendigkeit, seine Zuflucht zum Branntwein zu nehmen. Der Branntwein, durch seine Wirkung auf die Nerven, gestattet ihm, die fehlende Kraft auf Kosten seines Körpers zu ergänzen; es ist ein Wechsel, ausgestellt auf die Gesundheit, welcher immer prolongirt werden muß, weil er aus Mangel an Mitteln nicht eingelöst werden kann. Der Branntweintrinker verzehrt das Kapital anstatt der Zinsen, daher denn der unvermeidliche Bankerott seines Körpers.“

Wie aber die Unglücklichen von dem sie ruinirenden Genusse abhalten, zu welchem sie „eine unerbittliche Naturnothwendigkeit zwingt“? Es muß ein Ersatz für den Verlust gesichert werden. Viele Versuche sind gemacht und Anstalten gegründet worden, welche darauf hinzielen und zu deren Darlegung uns wohl eine andere Gelegenheit geboten wird. Wenn trotz dieser edelsten und eifrigsten Bemühungen es noch nicht gelungen ist, die Zahl der bettelnden „Kunden“ wesentlich zu verringern, so liegt wohl die Hauptschuld an der Zersplitterung derselben. Ein Zusammenfassen dieser Kräfte ist zunächst zu erstreben. Wenn ferner unsere Kolonien erst einmal dem Fleiße ein sicheres Heim gewähren, so wird es auch leichter werden, diese verlorenen Söhne des Vaterlandes für dieses und für sich selber zu retten.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_028.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)