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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Die Kleine lachte glückselig auf, als Claudine das Hütchen auf den Puppenkopf drückte und es wieder festband.

Baron Lothar sah unverwandt auf die zwei schlanken Hände, die am Hofe vielbewunderten Hände, die in nächster Nähe vor seinen Augen hantierten. Ein breiter schwärzlicher Streifen zog sich um Daumen und Zeigefinger der Rechten.

„‚Rußflecken beschimpfen nicht‘, sagt mein alter Heinemann,“ stammelte sie, unter seinem Blick erröthend, und ließ schleunigst die Hände von der gebundenen Schleife sinken.

„Nein, sie beschimpfen nicht. Aber daß sie in der That vorhanden sind –! Wäre wirklich kein dienstbarer Geist im Eulenhaus zu finden, der Ihnen diese grobe Berührung ersparte?“ – Ein spöttisch ungläubiges Lächeln zuckte um seine Lippen. – „Muß nicht eine Zeit kommen, wo Sie die Erinnerung an diese Flecken dennoch wie einen Makel empfinden werden?“ Seine feurigen Augen wichen nicht von ihrem Gesicht.

Sie sah ihn mit stolzer Entrüstung an. „Hat Ihnen das Hofgeflüster auch zugeraunt, daß ich unwahr sei und zur Komödie neige?“ fragte sie bitterlächelnd zurück. „Soll ich Ihnen wirklich ausdrücklich die schmerzliche Thatsache bestätigen, daß mein Bruder, wenn auch als ehrlicher Mann – denn, Gott sei Dank, die Gläubiger sind befriedigt! – so doch bettelarm von Haus und Hof gegangen ist? – Wir können uns nicht mehr bedienen lassen, und daß dazu kein besonderer Aufwand von Entsagung gehört, das weiß ich jetzt … Diese Flecken“ – sie sah auf die geschwärzten Finger nieder – „lasse ich auch nur insofern als Makel gelten, als sie Zeugen meiner Ungeschicklichkeit sind. Aber auch das wird ja von Tag zu Tag besser.“ – Jetzt lächelte sie wieder mit ihrer sanften Heiterkeit: sah sie doch eine dunkle Gluth in sein Gesicht steigen; sie durfte ihn nicht noch strenger zurechtweisen, der ihren müden Liebling auf dem Arme trug –. „Ich werde mich bald nicht mehr zu schämen brauchen, und gestern Abend bei den verlachten Eierkuchen hätte ich getrost die strenge Beate zu Gaste laden dürfen“ –

„Ich bin überzeugt und leiste hiermit Abbitte!“ unterbrach er sie und neigte in sarkastischer Unterwürfigkeit tief sein Haupt. „Sie scheinen nicht bloß das Aschenbrödel, Sie sind es in Wirklichkeit … Ein Mann kann sich freilich schwer in eine solche Situation hineindenken; aber einen pikanten Reiz mag es schon haben, augenblicklich in der grauen Puppenhülle zu verschwinden, um später mit strahlenden Flügeln in Sonnenhöhe aufzusteigen.“

Sie preßte die Lippen auf einander und schwieg, weil sie wußte, daß sie sich vor ihrer eigenen Stimme entsetzen würde, wenn sie auch nur mit einem einzigen Worte ein Thema berührte, das sie tief verschwiegen in der Brust trug, und welches er immer wieder hartnäckig, mit einer Art von Verbissenheit aufnahm. Das ausdrucksvolle Mienenspiel seines kühnen, energischen Gesichts erregte sie wider Willen.

Sie trat seitwärts, um ihm den Weg freizugeben, und er schritt weiter. Sie gingen an der Schattenseite, unter überhängenden Buchenzweigen hin. Man hörte eine Zeit lang nur die Schritte des kräftig ausschreitenden Mannes und das Hufeklappern des geduldig nebenher gehenden Pferdes, bis die kleine Elisabeth das drückende Schweigen mit einem Schmeichelnamen für den „guten, braven Fuchs“ unterbrach.

„Es hat auch nicht die geringste Aehnlichkeit mit seiner brünetten, spanischen Mutter, dies kleine deutsche Blondchen,“ sagte Baron Lothar, während er in das reizende Kindergesicht sah, das sich an ihm vorüber nach dem Pferdekopf hinbog. „Sie hat die Altensteiner Augen. Wir haben in Neuhaus das Bild unserer Urgroßmutter, die bekanntlich eine Altensteiner gewesen ist. Ein so wilder Junge ich auch war und so wenig Interesse die steifen Portraits an den Wänden für mich hatten: vor jenem schönen großen Oelbild bin ich doch stets stehen geblieben, wenn unsere Staatszimmer oben einmal ausnahmsweise zugänglich waren. ‚Die Lilie des Thales‘ hat sie der damalige Herzog Ulrich genannt. Aber sie ist eine scheue Frau gewesen; sie ist nie wieder zu Hofe gegangen, seit ihr Seine Hoheit einmal allzu feurig die Hand geküßt hat.“

Wieder war es still und in das Knirschen des Steingerölles unter den Tritten der Dahinschreitenden mischte sich jetzt auch das Piepen und Zwitschern in einem Vogelnest über ihren Häuptern.

„Kleine Vögelchen sind auf dem Baume, ich weiß es; Heinemann hebt mich immer hoch und läßt mich in das Nest sehen,“ sagte die Kleine mit einem begehrlichen Blick nach oben.

Er lachte. „Das ist zu hoch, kleiner Schelm, da hinauf können wir nicht! Aber sieh, wie die blauen Augen auch funkeln können! – Ich glaube nicht, daß sich das sanfte Sternenlicht in den Augen meiner schönen Urgroßmutter je so verwandelt hat … Bei den Neuhäuser Gerolds ist der Frauenkopf mit dem aschblonden Lockenhaar nicht wieder aufgetaucht; keine der weiblichen Nachkommen hat das Gesicht geerbt, so viele Töchter auch in Neuhaus gefreit worden sind … Ich meinte deshalb immer, die Frau sei einzig in ihrer Art gewesen. Erst später, viel später überzeugte ich mich, daß jenes Gesicht Erbeigenthümlichkeit der Altensteiner sei – das war an unserem Hofe … Ich war mit dem Herzog auf der Jagd gewesen und wir kamen spät, gerade in dem Augenblick in den Salon der Herzogin-Mutter, als eine neue Hofdame an den Flügel trat, um ‚das Veilchen‘ von Mozart zu singen.“ – Er bog sich vor, um ihr in das Gesicht zu sehen. – „Sie erinnern sich selbstverständlich des Abends nicht –?“

Sie schüttelte mit einem lebhaften Erröthen den Kopf. „Nein. Ich habe ‚das Veilchen‘ so oft singen müssen, daß sich keine besondere Erinnerung für mich daran knüpft.“

Er hatte für einen Moment den Schritt angehalten; aber nun ging es in beschleunigtem Tempo wieder vorwärts. Für ein Künstlerauge wäre diese wandernde Gruppe auf der Waldfahrstraße ein anziehender Vorwurf zu dem Bild einer flüchtenden Familie gewesen. Der sein Pferd am Zügel führende schöne, tannenschlanke Mann, der das ermüdete Kind so sicher und mühelos auf dem Arme trug, und die weibliche Gestalt, die schwebenden Fußes neben ihm herschritt, das schlicht niederfallende Kleid um des rascheren Laufens willen halb geschürzt durch den Gürtel gezogen, und das üppige, aufschwellende Wellenhaar unbedeckt, so daß jeder durch das Buchengezweig schlüpfende Sonnenstrahl Goldlichter aus dem dunklen Blond lockte, – diese Zwei sahen aus, als gehörten sie zusammen und theilten Freud und Leid, wie Diejenigen, „die Gott zusammengefügt“.

Nicht lange mehr, da schimmerte das bunte Blumenfeld des Gartens durch das lichter werdende Unterholz, und das Gebell des Hundes klang herüber … Herrn von Gerold mochte doch nachträglich das plötzliche Erscheinen seiner Schwester in der Glockenstube und ihre hastige Frage nach dem Kinde nachdrücklicher zum Bewußtsein gekommen sein; er hatte wohl auch ihr ängstliches Rufen gehört und sich schließlich selbst aufgemacht, zu suchen. Denn er kam jetzt eilenden Schrittes daher, und zwischen den Eibenbäumen des Garteneinganges bog sich scheu ein mit Kompressen umwickelter Frauenkopf in der Nachtmütze – Fräulein Lindenmeyer hatte sich in ihrer Herzensangst selbstvergessen bis an die äußerste Grenze des Grundstückes gewagt; jetzt freilich rannte sie beim Erblicken der hohen, fremden Männergestalt wie besessen, mit fliegenden Röcken und das Shawltuch schleunigst über den Kopf geworfen, nach dem Hause zurück.

Noch vor wenigen Tagen würde Herr von Gerold an dem Neuhäuser fremd und unberührt von irgend einem verwandtschaftlichen Gefühl vorübergegangen sein, wie es ja auch auf der Universität stets geschehen; gestern aber hatte Baron Lothar seiner Schwester einen ritterlichen Dienst geleistet und heute trug er ihm sein vermißtes Kind entgegen. Er eilte deshalb mit dem Ausdruck warmen Dankes auf ihn zu, und nach einigen vorstellenden und erklärenden Worten von Seiten Claudinens schüttelten sich die beiden Männer herzlich die Hände … Und Baron Lothar machte durchaus keine Anstalten, das Pferd wieder zu besteigen und seines Weges zu reiten, nachdem Herr von Gerold ihm die Kleine abgenommen. Er schritt im Gespräch zwischen den Geschwistern weiter und weiter bis zur Gartenthür, und da nahm er Herrn von Gerold’s Einladung, näher zu treten und sich den interessanten Wachsfund anzusehen, ohne Zögern, als ganz selbstverständlich an. War er doch, wie er selbst sagte, heute geflissentlich dieses Weges geritten, um des Eulenhauses willen, das gestern einen eigenthümlichen Reiz für ihn gehabt habe.

Claudine eilte den Anderen voraus nach dem Hause. Auf der Thürschwelle wandte sie sich noch einmal zurück; sie mußte lächeln. Baron Lothar hatte von König Drosselbart und Aschenbrödel gesprochen, und war sie nicht in der That, wie im Märchen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_071.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2016)