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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)


Der Titel eines Herzogs von Orleans, den ganz Europa nur mit Abscheu aussprach, war das einzige Erbe, das auf Philipp’s Sohn, Louis Philipp, geboren 6. Oktober 1773, überging.

Der Prinz hatte eine sorgfältige Erziehung genossen, insofern er fünf lebende Sprachen und eine Menge Kenntnisse erlernt hatte; im Uebrigen war die Methode der Erzieherin, der bekannten Schriftstellerin Frau von Genlis, die im Palais Royal eine zweideutige Stellung einnahm, so radikal wie möglich gewesen. Demgemäß schwärmte schon der Knabe für die Principien der Revolution; der Siebzehnjährige trat trotz der Abmahnung seiner Mutter in den Jakobinerklub ein und verrichtete hier gleich anderen Novizen den Dienst eines Thürhüters und Ausrufers. Als jedoch Buzot im Konvent jenen Angriff auf die Familie Orleans richtete, erblickte Ludwig Philipp darin eine Mahnung, sich aus der „großen Falle Paris“ zu retten, und begab sich ins Lager Dumouriez’. Der Kommandant der Nordarmee hielt große Stücke auf den Prinzen und dachte ihm bei seinen Restaurationsplänen eine hervorragende Stellung zu, wenn auch nicht die Krone. In der Schlacht bei Neerwinden am 18. März 1793 befehligte „General Egalité“ das Centrum. Als der geschlagene Dumouriez mit den Oesterreichern in Unterhandlung trat, ging auch Ludwig Philipp zu den Feinden über, erlangte aber nur einen Paß, um in der Schweiz eine Zuflucht zu suchen. Von allen Mitteln entblößt, nahm er unter dem Namen Chabaud-Latour eine Stelle am Kollegium zu Reichenau an; in deutscher Sprache lehrte er Geschichte, Geographie und Mathematik, auch Französisch und Englisch. Da er sich aber auch in jenen Klostermauern vor Verfolgung der Aristokraten nicht mehr für sicher hielt, verließ er im Juni Reichenau, nicht ohne sich ein Zeugniß seiner guten Führung als Lehrer ausstellen zu lassen. Nun irrte er, ohne einen Sou in der Tasche zu haben, monatelang in der Schweiz umher, bis General Montesquiou dem Flüchtling die Mittel bot, nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika auszuwandern, wohin ihn der amerikanische Gesandte in Paris, Morris, eingeladen hatte.

Nachdem er noch vorher die skandinavischen Staaten bereist hatte, schiffte er sich mit seinen zwei jüngeren Brüdern nach Amerika ein. Er besuchte die großen Handelsmetropolen des Westens und dehnte seine Wanderung bis in die von Indianerstämmen bewohnten Prairien aus. Nach mannigfaltigen Abenteuern kehrte er 1800 nach London zurück. Da das Direktorium die 1797 verordnete Zurückgabe des konfiscirten dynastischen Hausguts wieder rückgängig gemacht hatte, sah sich der Herzog abermals genöthigt, fremde Hilfe anzurufen; er wandte sich an die – Bourbons. Durch Vermittelung des Grafen Artois (nachmals Karl X.!) fand der Gesuchsteller trotz aller störenden Erinnerungen gnädige Aufnahme bei dem Roi en exil, Ludwig XVIII. Die Fürsprache der Bourbons verschaffte dem Herzog den Bezug einer beträchtlichen Jahresrente aus den Fonds der englischen Regierung. Nach dem Tode seiner beiden Brüder Montpensier und Beaujolais begab er sich nach Palermo, wo damals der durch Murat aus Neapel verdrängte königliche Hof residirte. Der gemeinsame Haß gegen Napoleon überbrückte auch hier die Kluft zwischen ihm und dem Bourbon Ferdinand, und nachdem die Geschmeidigkeit des Herzogs auch über die Abneigung der Königin, einer Schwester Marie Antoinettens, gesiegt hatte, erhielt er die Hand der Tochter des königlichen Paares, der herzensguten Marie Amalie; am 25. November 1809 wurde in Palermo die Hochzeit gefeiert.

In den Briefen Ludwig Philipp’s aus jener Zeit giebt sich leidenschaftliche Erbitterung über Napoleon kund, während mit Enthusiasmus von den Pflichten gegen die königliche Familie gesprochen wird.

„Niemals würde ich eine Krone annehmen,“ schrieb er 1808 an seine künftige Schwiegermutter, „so lange ich nicht nach unserm Erbfolgegesetz dazu berechtigt bin. Für Schmach und Schande würde ich es ansehen, wollte ich der Nachfolger Bonaparte’s werden und eine Stellung einnehmen, die nur durch nichtswürdigen Meineid zu erringen, durch Schurkerei zu behaupten wäre. Mich beseelt anderer Ehrgeiz; ich will am Sturz der Herrschaft Bonaparte’s Antheil haben, will auch ein Werkzeug der Vorsehung sein, um die Menschheit von einem Tyrannen zu befreien und auf den Thron meiner Väter wieder meinen königlichen Gebieter und ebenso auf alle gestürzten Throne die rechtmäßigen Herrscher zurückzuführen. Ich will der Welt zeigen, daß ein Mann wie ich jede Usurpation verachtet und verabscheut und daß nur Emporkömmlinge ohne Familie und ohne Ehre sich etwas aneignen, was ihnen eine günstige Gelegenheit in die Hände spielt.“

Mit solcher Pietät gegen das alte Königthum stand freilich des Herzogs Vorliebe für England und englisches Wesen in einem gewissen Widerspruch.

„Ich habe mein Vaterland so früh verlassen,“ schreibt er einmal an den Bischof von Landaff, „daß ich kaum etwas von französischer Art an mir habe, vielmehr in Wahrheit England angehöre, nicht bloß aus Gründen der Dankbarkeit, sondern auch der Neigung und des Geschmacks.“

Im Gefolge der Bourbons kehrte der Sohn des Bürgers Egalité im Mai 1814 nach Paris zurück. Kurz vorher hatte er nochmals Ludwig XVIII. seiner unbedingten Ergebenheit versichert und überschwänglicher Freude Ausdruck gegeben, daß endlich das Ungeheuer (ce monstre) gestürzt werde; es sei an der Zeit, ein Ende zu machen mit der Revolution und ihrer niedrigsten Ausgeburt, Bonaparte, den er zwar hasse, aber noch gründlicher verachte. Wie grell sticht gegen solche Worte die Proklamation Ludwig Philipp’s von 1840 ab, wo von Napoleon, dessen „Reliquien“ soeben nach Paris gebracht wurden, gesagt ist: „Er war König und Kaiser zugleich, er war der wahre legitime Herrscher unseres Landes!“

Ludwig XVIII. gab dem Herzog alle Hausgüter zurück und verhalf ihm überdies zur Wiedererlangung des Vermögens seiner Mutter, der Erbtochter des Herzogs von Penthièvre. Der Herzog verfügte jetzt über Reichthümer, welche den Besitz sämmtlicher Prinzen der älteren Linie weit überragten. Fortan war es die Hauptsorge des ehemaligen Lehrers von Reichenau, seinen Besitz zu vermehren; er liebte das Geld an sich, seine Schätze sollten ihm aber auch politische Vortheile zuwenden; denn wenn er auch öffentlich dem regierenden Monarchen unterthänigste Ergebenheit bezeugte, ließ er sich doch schon unmittelbar nach seiner Rückkehr angelegen sein, eine oppositionelle Partei um sich zu sammeln, indem er bald seine Eigenschaft als Mitglied der bourbonischen Familie, bald seine jakobinische Vergangenheit hervorkehrte. In diesem Bestreben wurde er durch die Abneigung der älteren Linie der Dynastie gegen jedes Zugeständniß in konstitutionellem Sinne unterstützt. Schon im Januar 1815 wurde ein Komplott aufgedeckt, dessen Theilnehmer, hauptsächlich dem Officiersstand angehörig, Ludwig XVIII. eine neue Konstitution aufnöthigen oder den verfassungsfreundlichen Herzog von Orleans auf den Thron erheben wollten. Natürlich wurde der König mißtrauisch gegen den Vetter; allein es ließ sich nicht beweisen, daß dieser selbst die Verschwörer begünstigt hätte. Während der hundert Tage floh auch Orleans mit der königlichen Familie nach England, aber Napoleon’s Niederlage führte „der in Orleans verkörperten Idee“ neue Anhänger zu. Vier Tage nach der Schlacht bei Waterloo schrieb Marschall Soult an Napoleon: „Der Name Orleans ist im Munde fast sämmtlicher Generäle!“

Zwischen den Anhängern des Napoleonischen Cäsarenthums und der absolutistischen Monarchie erwuchs der „tiers parti“, eine Mittelpartei, die ein auf politische Freiheit sich stützendes Königthum aufrichten wollte. Im Palais Royal pflegten sich die Benjamin Constant, Lafitte, Sebastiani, Stanislas, Girardin und andere Vertreter der liberalen Opposition zu versammeln. Von Wichtigkeit war es, daß Thiers und Mignet, die Hauptmitarbeiter des „Constitutionnel“, des angesehensten liberalen Organs, die zu den beliebtesten und berühmtesten Wortführern des Liberalismus zählten, die Vertretung der orleanistischen Wünsche und Interessen übernahmen. Wiederholt bildeten sich Verschwörungen zu Gunsten des Herzogs, doch dieser leugnete jede Betheiligung ab.

„Der Herzog bewegte sich nicht, und doch sah der König, daß er gehe; diese Art unbeweglicher Thätigkeit beunruhigte ihn; aber wie sollte er Jemand am Gehen hindern können, der keinen Schritt zu thun schien?“

Weder Ludwig XVIII. noch sein Nachfolger Karl X. konnten ihrem Wunsche gemäß den Vetter exiliren; denn dieser gab sich keine Blöße und erfreute sich solcher Beliebtheit, daß es gefährlich war, ihn anzutasten.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_092.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2019)