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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Die Familie Orleans.
von K. Th. Heigel.
(Fortsetzung.)


Als Karl X. am 25. Juli 1830 jene verhängnißvollen, von dem Minister Polignac aufgesetzten „Ordonnanzen“ unterzeichnete, welche die eben vollzogenen Wahlen für ungültig erklärten, ein neues Wahlrecht oktroyirten und die Presse unter strengste Bevormundung stellten, traten sofort Thiers und andere Vertreter der Presse mit Ludwig Philipp in Verbindung, ohne daß der Vorsichtige aus seiner passiven Rolle herausgetreten wäre. Rasch theilte sich jedoch die Aufregung weiteren Kreisen mit und bald handelte es sich nicht mehr um einen Protest gegen mißliebige Maßregeln, sondern um eine allgemeine Schilderhebung gegen das bourbonische Königthum. Der von Thiers im „National“ verfochtene Satz: „Der König herrscht, aber regiert nicht!“ wurde die Losung des Tages. In einer nach Beginn des Kampfes zwischen den Volksmassen und den Truppen, und zwar ebenfalls von Thiers verfaßten Proklamation war hervorgehoben, daß Karl X., an dessen Händen Bürgerblut klebe, nicht mehr Oberhaupt Frankreichs bleiben und nur der Herzog von Orleans als Freund der Freiheit die Ordnung wiederherstellen könne. Ludwig Philipp selbst aber gab kein Lebenszeichen. Er hielt sich in einem Pavillon „la laiterie“ im Park seines Landhauses zu Neuilly versteckt; er wollte sich erst finden lassen, wenn der in den Straßen von Paris hin- und herwogende Kampf entschieden, zu seinen Gunsten entschieden sein würde.

Erst als am dritten Tage der Bankier Lafitte die Nachricht überbracht hatte, daß das Volk Sieger geblieben sei, und als eine Kammerdeputation ihn dringend aufforderte, nach Paris zu kommen, um das Vaterland vor der Sturmfluth der Anarchie zu retten, erklärte er sich bereit, dem Ruf der Vorsehung und der Mitbürger Folge zu leisten. Nächtlicher Weile begab er sich nach Paris und betrat, nachdem er den Anruf der Schildwache mit dem Losungswort: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! beantwortet hatte, das Palais Royal. Noch fuhr er fort zu versichern, er hege keinen anderen ehrgeizigen Wunsch, als den, zu den besten Bürgern gezählt zu werden, und er wolle einfacher Bürger sein und bleiben. Dabei war nicht zu unterscheiden, wo die Wahrheit aufhörte und die Täuschung anfing. Am Morgen des 31. Juli ließ Ludwig Philipp den Herzog von Mortemart, der dem nach St. Cloud geflüchteten König Karl die Ablehnung der Vermittelungsvorschläge durch die Kammer melden sollte, zu sich bitten.

Mortemart erzählte später, Orleans habe auf ihn den Eindruck eines Fieberkranken gemacht. „Macbeth Bourgeois“ verrieth die innere Aufregung durch die Todtenblässe seines Gesichtes. Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Blick war unstät, die Stimme gebrochen. „Schildern Sie Sr. Majestät, wie schmerzlich berührt ich bin ob der neuesten Vorgänge; nur gezwungen bin ich nach Paris gekommen, denn man hätte mir sonst Frau und Kinder gefangen genommen. Ueberbringen Sie aber meine Erklärung: ich will lieber den Tod erleiden als die Krone annehmen!“

Noch am nämlichen Tage erließ Orleans einen Aufruf, worin er sich bereit erklärte, den Posten eines Generalstatthalters anzunehmen, und mit einem echt französischen Schlagwort schloß. „Die Charte wird künftig eine Wahrheit sein!“ Da aber noch immer in den Straßen nur Hochrufe auf die Freiheit und auf Lafayette ertönten, wurde im Hôtel de Ville eine theatralische Scene aufgeführt, welche ihren Zweck, die Sympathie der Menge auf den künftigen König zu lenken, nicht verfehlte: Ludwig Philipp trat mit Lafayette ans Fenster, entfaltete die Trikolore und umarmte den General. Die auf dem weiten Platz versammelte Menge brach in Jubel aus – die neue Dynastie war von der Revolution anerkannt. Nun wurde rasch der Thron für den Roi-Citoyen aufgerichtet. Am 3. August rückte die Pariser Nationalgarde vor Rambouillet, um Karl X. zur Abreise zu zwingen; noch war der Bourbon nicht auf britischem Boden angelangt, als das Parlament am 7. August mit 219 gegen 33 Stimmen in der Person Ludwig Philipp’s einen Nachfolger ernannte. Als die Frage laut wurde, ob der neue König den Namen Philipp VII. annehmen solle, rief Dupin, dem Herzog von Orleans sei die Krone übertragen, „nicht weil, sondern obwohl er ein Bourbon sei.“ In Uebereinstimmung mit dieser Erklärung nannte sich der Erwählte „Ludwig Philipp I., König der Franzosen.“

Nun wurde die Charte in liberalem Sinne reformirt, so daß der Bürgerstand recht eigentlich der Träger der neuen Ordnung sein sollte. Der König selbst fuhr fort, wie ein einfacher Privatmann aufzutreten; in bürgerlichem Anzug, gewöhnlich mit dem Regenschirm in der Hand, machte er seine Promenaden; nach wie vor besuchten seine Söhne das Collège Henri IV. Diese wohlberechnete Schlichtheit war für die Pariser etwas Neues, also etwas Anziehendes; der Bürgerkönig war eine Zeit lang wirklich populär. Zwar begannen die Legitimisten und die Anhänger der Republik bald einen heftigen Kampf gegen die Autorität des Julikönigthums und der hohe Adel verbündete sich mit den Kommunards, um den tiers parti und dessen Oberhaupt zu schädigen. Allein Ludwig Philipp obsiegte ohne viel Blutvergießen sowohl über die Restaurationsversuche der Herzogin von Berry, die ihrem Sohne die Krone retten wollte, wie über die Putsche der Cavaignac’s und Raspail’s. Obwohl kein Fürst Europas so häufig von Mörderhand bedroht war wie Ludwig Philipp, mied er nie die Oeffentlichkeit und die Gefahr, und die ersten mißlungenen Attentate steigerten noch die Sympathie mit dem unerschrockenen Regenten, von dessen Wohlwollen manches geschickt verbreitete Abenteuer, von dessen Welterfahrung manches kluge Wort in Kronrath und Kammer Zeugniß gab.

Ungünstiger schien sich anfänglich das Verhältniß zum Ausland zu gestalten. An den Höfen wurde befürchtet, daß die französische Regierung die revolutionären Geister in ganz Europa entfesseln und eine Aera des Kriegs heraufbeschwören werde, wie Napoleon I. Die ersten Annäherungsversuche wurden ziemlich schroff zurückgewiesen; ja, Zar Nikolaus gab barsch und bündig zu verstehen, daß er einen Usurpator nicht anerkennen wolle.

Allein die Besorgniß der Fürsten erwies sich als unbegründet. Nicht bloß wurde der revolutionären Propaganda von der französischen Regierung kein Vorschub geleistet, sondern der „neue Cromwell“ suchte sogar mit einer gewissem demüthigen Unterwürfigkeit die Souveraine darüber zu beschwichtigen, daß er das europäische Staatswesen nicht stören werde. Zwar wurde mit England „entente cordiale“ angeknüpft und die Verbrüderung „der zwei großen, dem liberalen Fortschritt zugewandten Verfassungsreiche“ in Paris und London mit wohlklingenden Worten gefeiert; aber den in Polen, Italien, Deutschland entweder für ihre Nationalität oder für liberale Reformen kämpfenden Parteien blieb die erhoffte und erbetene Unterstützung Frankreichs versagt.

Man ist nicht berechtigt, zu bezweifeln, daß Ludwig Philipp aufrichtig bedacht war, die Wohlfahrt von Staat und Volk zu fördern; die eifrigste Sorge verwandte er aber auf Befestigung seiner Dynastie und Vermehrung des Hausguts. Dieser „wirthschaftliche, hausväterliche Sinn“ verleitete ihn nicht selten zu einer Handlungsweise, die mit patriotischen Pflichten nicht vereinbar war oder doch den von einem Roi-Citoyen gehegten Erwartungen nicht entsprach. Ungünstigen Eindruck machte es, daß er das ganze große Vermögen auf seine Kinder überschreiben ließ, während früher das Privatvermögen der Könige mit den Krondomänen vereinigt gewesen war. Die Geltendmachung des Condé’schen Testaments zu Gunsten des Herzogs von Aumale gab Anlaß zur Verleumdung, der Tod des Erblassers sei im Interesse des Erben gewaltsam herbeigeführt worden. Mit mehr Recht wurde getadelt, daß Ludwig Philipp auch nach der Uebersiedlung in die Tuilerien fortfuhr, an der Börse zu spekuliren, und allerlei politische Manöver zu Gunsten seiner Privatkasse ausführen ließ.

Immer lauter erscholl die Klage, daß Landmann, Bürger und Arbeiter unter härterem Druck zu leiden hätten, als in den Zeiten der absoluten Monarchie, während eine neue privilegirte Kaste alle Macht in Händen habe, die Bankiers und Großindustriellen, die „Herzenskinder“ des „Königs der Börse“; die neue Verfassung beruhe nicht auf demokratischer Grundlage, sondern stehe unter dem Bann einer Vermögensherrschaft, deren materielles Wesen auf alle Kreise entsittlichend wirke.

(Schluß folgt.)     

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_115.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2018)