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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

unnachsichtliche Verfolgung letztere auch erleiden mögen. Wie bei dem Wilde, auf dessen Kommen und Gehen oder Erscheinen und Verschwinden Tausende achten, verhält es sich auch bei anderen Säugethieren, welche minder scharf beaufsichtigt werden. Ununterbrochenes Aus- und Einwandern läßt sich nicht in Abrede stellen. Gerade hierdurch erfolgt, falls nicht die Elemente es verhindern oder der Mensch und andere Feinde erfolgreich eingreifen, allmählich fortschreitende Erweiterung des Verbreitungsgebietes einer bestimmten Art.

Unsere Vorfahren theilten ihre Behausungen bis zu Ende der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit der Hausratte und kannten die Wanderratte nur vom Hörensagen, wenn überhaupt. Erstere war eine Ratte mit vielen, aber doch nicht allen Untugenden ihres Geschlechtes. Sie bewohnte unsere Hausböden, fraß von unserem Getreide, unserem Speck, unseren Vorräthen überhaupt, zernagte Thüren, Dielen und Hausgeräthe, polterte des Nachts gespensterhaft durch alte Schlösser und sonstige spukbegünstigende Gebäude, verursachte manchen Aerger, manchen Schreck, bestärkte in manchem Gemüthe Gespensterfurcht und Aberglauben: aber es ließ sich doch wenigstens mit ihr leben, mindestens mit ihr auskommen. Eine tüchtige Hauskatze hielt sie im Schach, ein geschickter Kammerjäger wußte ihr zu begegnen. Da erschien ihre furchtbarste Feindin, und ihr Stern begann zu erbleichen.

Im Jahre 1727 sah man Scharen von Wanderratten, welche entweder geradeswegs von Indien oder von hier aus über Persien gekommen sein mußten, die Wolga überschwimmen, und bald erfuhr man, welche Heimsuchung Europa betreffen sollte. Flüssen und Kanälen folgend, gelangte die Wanderratte in Dörfer und Städte, nahm, dem Menschen und der Hauskatze zum Trotz, unsere Wohnungen von unten her ein, erfüllte Keller und Gewölbe, stieg nach und nach bis zum Dachboden empor, vertrieb nach langen und unerbittlich geführten Kämpfen ihre Verwandte, machte sich zur Herrin in unserem eigenen Hause und zeigte uns tausendfach, was eine Ratte vermag; denn sie bekundete und bethätigte alle Untugenden ihrer Sippschaft, spottete jeglicher Anstrengung von unserer Seite, sie zu vertreiben und behauptete siegreich das Feld, welches wir ihr mit Hilfe von Katze und Hund oder mittels Schlageisen und Falle, Gift und Geschoß bisher vergeblich streitig zu machen suchten. Fast zu derselben Zeit, in welcher sie über die Wolga schwamm, im Jahre 1732, erreichte sie Europa noch auf einem zweiten Wege, indem sie von Ostindien aus zu Schiffe nach England reiste. Nunmehr begann sie ihre Weltwanderung. In Ostpreußen erschien sie bereits im Jahre 1750, in Paris drei Jahre später; Mitteldeutschland eroberte sie sich um das Jahr 1780, setzte sich hier jedoch, wie überall anderswo, zunächst nur in den Städten fest und nahm, gleichsam von diesen aus, erst nach und nach das flache Land ein. Ihr schwer erreichbare, das heißt nicht an Flüssen gelegene Dörfer besiedelte sie erst in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts: in meiner Knabenzeit war sie in meinem Heimathsdorfe noch unbekannt und die auch hier gegenwärtig von ihr verdrängte Hausratte in unbestrittenem Besitze der Oertlichkeiten, in denen jetzt ausschließlich sie gefunden wird. Zu manchen einsamen Gehöften gelangte sie noch später, nicht vor der Mitte unseres Jahrhunderts; aber noch immer setzt sie ihren Siegeslauf fort. Nicht zufrieden, Europa entdeckt und erobert zu haben, zog sie, und zwar bereits zu Ende vorigen Jahrhunderts, zu neuen Fahrten aus. In den von ihr bereits besiedelten Häfen schwamm sie vom Ufer aus nach den Schiffen, kletterte an Ankerketten, Tauen und anderen ihr passend erscheinenden Leitern an Bord, bezog den dunklen, schützenden Raum, durchreiste in den Fahrzeugen alle Meere, landete an allen Küsten und bevölkerte von ihnen aus alle Länder und Inseln, soweit solche ihr erwählter Schutzherr oder gezwungener Ernährer, der gesittete und in festen Wohnungen hausende Mensch, in Besitz genommen. Gegen unseren Willen haben wir ihr geholfen oder doch ihr es ermöglicht, die großartigste Gebietserweiterung durchzuführen, welche jemals einem dem Menschen nicht unterthanen Säugethiere gelungen ist.

Ein anderes Beispiel für derartige Ausflüge ist der Ziesel, ein im ganzen Osten Europas und in Westsibirien häufiger, zur Familie der Eichhörnchen und insbesondere zur Unterfamilie der Murmelthiere zählender, schädlicher Nager von der Größe des Hamsters. Albertus Magnus hat ihn in der Nähe von Regensburg beobachtet, wo er gegenwärtig nicht mehr vorkommt, wogegen er wiederum neuerdings in Schlesien eingewandert ist. Vor vierzig oder fünfzig Jahren kannte man ihn dort nicht; Ende der vierziger oder anfangs der fünfziger Jahre aber erschien er, ohne daß man ergründen konnte, woher er gekommen, und nunmehr drang er langsam weiter nach Westen vor. Auch seine Wanderungen begünstigt mittelbar der Mensch, da das Thier, wenn auch nicht an das bebaute Feld gebunden, in diesem die zusagendsten aller von ihm besiedelten Wohnsitze findet.

Genau dasselbe gilt für mehrere Mäusearten, welche mit der Umwandlung des Bodens zu Feld sich weiter verbreiten oder ihr Wohngebiet vergrößern. Andererseits schmälert der Mensch auch wiederum zusagende Wohnsitze verschiedener Säugethiere durch Entwaldung, Entsumpfung und sonstige Umänderung gewisser Strecken und bewirkt dadurch sicherlich weit mehr als durch unmittelbare Verfolgung Auswanderungen der früher auf jenen Strecken seßhaft gewesenen Thiere der ersten Klasse. Denn auch für sie, die Säugethiere, gilt das Grundgesetz, daß geeignete Wohnstätten trotz des willkürlich und meist roh und grausam eingreifenden Menschen früher oder später besiedelt werden.

Von solchen Ausflügen lassen sich die Streifzüge der Säugethiere, behufs zeitweiliger Verbesserung ihrer Lage, wohl unterscheiden. Sie werden wahrscheinlich, wenn nicht von allen Arten, so doch von einzelnen Gliedern aller Familien der Klasse unternommen, währen längere oder kürzere Zeit, führen in mehr oder minder entlegene Gebiete, können daher selbst das Gepräge wirklicher Wanderungen annehmen, enden jedoch nach geraumer Frist und bringen das wandernde Säugethier endlich wieder zu den ursprünglichen Wohnsitzen zurück. Die Absicht oder die Hoffnung, bessere Weide- beziehentlich Jagdgründe auszunutzen, eine zufällig sich darbietende Gelegenheit zur behaglichen Gestaltung des Lebens rechtzeitig wahrzunehmen, dürfte als ihre hauptsächlichste Ursache hingestellt werden können. Solche Streifzüge finden statt jahraus, jahrein in allen Gürteln der Breite und Höhe, selbst in Gefilden also, welche jederzeit wesentlich dieselben Bedingungen zum Leben gewähren. Das Säugethier beginnt und vollendet sie einzeln oder in Trupps, Gesellschaften und Herden, je nachdem es sonst mit seinesgleichen zu leben gewohnt ist, verfolgt dabei oft mit mehr oder weniger Regelmäßigkeit dieselben Straßen, erscheint auch wohl annähernd zu derselben Zeit auf bestimmten Stellen; immer aber sind es zufällige Umstände, welche es leiteten und führten.

Wenn die Früchte der heiligen Feige und anderer die Tempel der Hindu umgebenden Bäume ihrer Reife sich nähern, sehen die Brahmanen, welche Tempel und Bäume pflegen, mit salbungsvoller Erbauung der Ankunft ihrer vierbeinigen Götter entgegen. Und nicht vergeblich: denn sie erscheinen gewiß und wahrhaftig, die zu Gottheiten erhobenen Wesen, Hulman und Bunder, zwei Affenarten, um die im frommen Wahn für sie gepflanzten und behüteten Bäume ihrer leckeren Früchte zu entledigen und außerdem in benachbarten Gärten und auf nahe gelegenen Feldern zu rauben und zu plündern, so lange beides lohnt. Und sie verschwinden wieder, zur Betrübniß ihrer Verehrer, zur Freude aller übrigen Bewohner Indiens, deren Besitzthum sie in rücksichtsloser Weise schädigten, nachdem sie hier wie dort nach ihrer Weise geerntet haben. Wenn im Innern Afrikas die Körner des dortigen Nährgetreides, der Durra oder der Mohrenhirse, sich härten, steigt unter Führung und Leitung eines in allen Lagen des Lebens erfahrenen und geprüften, würdigen und erfindungsreichen Pavians die Herde, welcher er mit dem gerechtfertigten Stolze eines Führers und Stammvaters vorsteht, von dem Gebirge hernieder, um zu untersuchen, ob Vetter Mensch auch in diesem Jahre so freundlich gewesen, das nährende Korn auszusäen. Oder es naht gleichzeitig unter nicht minder ausgezeichneter Führung die Meerkatzenbande dem Saume der Waldungen, um den rechten Zeitpunkt zu ergiebiger und so viel als möglich ungestörter Brandschatzung des Feldes nicht zu versäumen. Wenn in der Pflanzung des südamerikanischen Landwirths die goldene Orange im dunklen Laube glüht, finden sich oft, von weither kommend, die Rollaffen ein, um die Frucht mit dem Besitzer zu theilen.

Auch andere Pflanzenfresser führt die Hoffnung, den täglichen Bedarf mit leichterer Mühe zu erwerben, zu Oertlichkeiten, in Gegenden und Gefilde, welche sie sonst meiden; Kerbthierräuber ziehen den zeitweilig hier oder dort häufiger auftretenden Kerfen nach und große Raubthiere folgen den pflanzenfressenden Arten ihrer Klasse, insbesondere den Herden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_139.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)