Seite:Die Gartenlaube (1888) 154.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

begriffenen Herden von Kanada an bis Mexiko, von Missouri bis zum Felsengebirge begegnet und darf wohl annehmen, daß eine und dieselbe Herde sehr bedeutende Strecken des zwischen den angegebenen Grenzen liegenden Landes durchzieht.

Man hat diese Wisente im Sommer zerstreut auf den unendlichen Ebenen der Prairien und im Winter ebenda, aber zu vielen Tausenden vereinigt, angetroffen; man hat gesehen, wie sie wanderten: denn man hat sie auf den von ihnen ausgetretenen Straßen, den sogenannten „Büffelpfaden“, Hunderte von Meilen weit in mehr oder weniger gerade fortlaufender Richtung durch Ebenen wie über Gebirge verfolgt, indem man ihnen nachzog; man hat sich durch den Augenschein überzeugt, daß meilenbreite Ströme kein Hinderniß, kaum ein Hemmniß für sie bildeten, sie im Gegentheile, einer unaufhaltbaren Lawine gleich, sich in solche Gewässer stürzten und sie mit ihrem dunklen Gewimmel förmlich erfüllten; man hat beobachtet, daß die Herden sich vergrößern und verringern, die Thiere sich vereinigen und trennen, daß alte, mürrische, herrschsüchtige und böswillige Bullen die Gemeinschaft der übrigen Bisons meiden, vielleicht von den Herden ausgestoßen und so, wahrscheinlich erst nach langwierigen Kämpfen, gezwungen wurden, bis zum nächsten Sommer einsiedlerisch leben zu müssen; man hat erkundet, daß sie im Winter bei reichlichem Schneefalle in Waldungen oder an Abhängen von Gebirgen Schutz suchten gegen die Unbill der Witterung. Schon vom Juli an beginnen sie vom Norden aus nach dem Süden zu wandern. Schwache Gesellschaften, welche bis dahin ein behagliches Sammelleben führten, schließen sich anderen an und treten mit ihnen gemeinschaftlich die Reise an; andere Trupps gesellen sich der sich bildenden Herde, und diese wächst und mehrt sich, je weiter sie vordringt, bis endlich jene außerordentlichen Massen entstanden sind, welche nunmehr, wie von einem Geiste beseelt, wirken und handeln und bis gegen das Frühjahr hin vereinigt bleiben. Nachdem der Winter glücklich überstanden ist, lösen sich die Heere allmählich wiederum in Herden auf; auch diese vertheilen sich mehr und mehr und schließlich bleiben nur noch Gesellschaften übrig. Diese Auflösung geschieht während der Rückwanderung, wahrscheinlich genau in umgekehrter Weise, in welcher die Sammlung erfolgte. Auf der Hin- wie auf der Rückreise zieht in einer gewissen Entfernung, aber mehr oder weniger auf denselben Pfaden eine Herde hinter der andern dahin; besonders günstige Oertlichkeiten, mit saftigem Grase bestandene Niederungen z. B. verursachen jedoch zuweilen Anstauungen des lebendigen Stromes. Unter solchen Umständen vereinigen sich geradezu unschätzbare Scharen von Bisons, verweilen tagelang auf einer und derselben Stelle und brechen erst dann wiederum auf, wenn alles Gras abgeweidet worden ist und der Hunger zur Weiterreise zwingt. Auch ihren Zügen folgen Wölfe und Bären nach, und über ihnen kreisen, unheilkündend, Adler und Geier.

Eben so wie Nahrungssorge kann auch Mangel an Trinkwasser zu regelmäßigen Wanderungen veranlassen. Wenn im Südosten von Sibirien, insbesondere in der hohen Gobisteppe, der Winter herannaht, werden alle Säugethiere, welche nicht Winterschläfer sind, durch die eigenthümlichen Verhältnisse des gedachten Hochlandes gezwungen, in tiefer gelegenen Gegenden Unterhalt zu suchen. Der Winter tritt in diesem Hochlande Mittelasiens nicht strenger auf als in den nördlich oder nordöstlich davon gelegenen Gegenden, ist aber meist schneelos und belegt alle Gewässer, welche der ohnehin äußerst geringe Niederschlag hervorrief und unterhält, mit einer dicken Eisdecke. Sobald nun letztere so stark wird, daß die in der Gobi hausenden Thiere sie nicht zerschlagen können, sehen sie sich zur Auswanderung gezwungen und ziehen dann nicht allein nach südlichen, sondern nach nördlichen Geländen, welche letztere nur den einen Vorzug haben, reich an Schnee zu sein; denn dieser erquickt die lechzende Zunge der Wanderthiere leichter und bietet den schwachen Hilfen weniger Widerstand als das schwerschmelzende und schwer zu zertrümmernde Eis.

So nur erklärt es sich, daß die Kropfantilope, welche die hohe Gobi in zahlreicher Menge bevölkert, ein Land verläßt, welches, mit alleiniger Ausnahme des Schnees, beziehentlich also des verwendbaren Wassers, dasselbe bietet wie die Winterherberge. Nicht der Hunger, sondern der Durst treibt sie in die Fremde. Mit Eintritt des Winters drängt sich die ohnehin gesellig lebende Antilope in Herden zusammen, welche viele Tausende zählen, erfüllt alles tiefer liegende Land rings um ihre heimathliche Hochebene und schweift, in einer einzigen Nacht nicht selten zehn bis zwölf geographische Meilen zurücklegend, oft Hunderte von Meilen über die Grenzen ihres eigentlichen Heimgebietes hinaus. Der Beobachter, welcher ihr folgt, bemerkt dann ihre Spuren allüberall und in solcher Menge, daß es den Anschein gewinnen will, als ob kurz vorher alles gewohnte Maß, jede übliche Anzahl bei weitem übersteigende Schafherden vorübergezogen sein müßten.

Noch ehe die Wanderzeit der Kropfantilope beginnt, hat sich der Kulan oder Dschiggetai, mutmaßlich der Stammvater unseres Pferdes und jedenfalls das schönste, stolzeste Wildpferd der Erde, aufgemacht, um in denselben Gegenden, welche er mit dem Zweihufer theilt, dem herannahenden Winter zu entfliehen. Die Füllen vom letzten Sommer sind bis zum Herbst hin soweit erstarkt, daß sie eine weite, länger währende Reise zu ertragen, schnelle Märsche auszuhalten und allen Widerwärtigkeiten und Gefahren einer unsteten Lebensweise Trotz zu bieten vermögen. Auch die jungen Hengste, welche das vierte Lebensjahr vollendet haben, befinden sich in ihrer Vollkraft, verlassen, thatenlustig, bereits zu Ende des September ihre Mutterherden und drängen vorwärts. In den alten Hengsten und Stuten endlich regt sich der Paarungstrieb und damit Unruhe und Wanderlust. So beginnt das flüchtig, unternehmende Thier seine alljährlichen Wanderungen bereits viel früher, als der Winter einzieht, ja ehe er sich noch bemerklich macht; seine Reisen entbehren daher anfänglich auch aller Stetigkeit und Regelmäßigkeit und nehmen das Gepräge abenteuernder Züge an. In der Absicht, das bisher auf ihnen lastende Joch abzuschütteln, welches der Leithengst und unbeschränkte Gebieter einer Herde ihnen auferlegte, sich selbständig zu machen und ihrerseits sich zum Alleinherrscher aufzuwerfen, verließen die Junghengste ihre Mutterherden und durchstreifen nunmehr einzeln die sandigen Steppen. Alle jüngeren, mannbar gewordenen und ebenso manche der älteren Stuten scheinen von denselben Gefühlen beseelt zu sein wie der thatendurstige Junghengst und versuchen, der Herrschaft ihres bisherigen Tyrannen sich zu entziehen und jenem sich zu gesellen, um dann sofort der Botmäßigkeit des jungen Strebers zu verfallen. Aber nicht ohne Kampf erwirbt sich letzterer einen Stutentrupp, giebt der alte Herrscher seine Rechte auf. Stundenlang steht der werbende Junghengst auf der Spitze eines Hügels oder Bergrückens und blickt suchend über das Gefilde. Sein Auge durchirrt die Oede; seine gegen den Wind gerichteten Nüstern sind weit geöffnet, seine Ohren gespitzt. Kampfbegierig, in gestrecktem Galopp, sprengt er jeder Herde, welche naht, jedem Gegner, welcher sich zeigt, entgegen, und ein wüthendes Ringen entbrennt um die Stuten, welche nur dem Sieger sich gesellen. Solches Kämpfen und Streiten aber bringt Bewegung in die Herden, löst sie von dem Gebiete, auf welchem sie den Sommer verbrachten, und leitet nunmehr die allmählich sich regelnden, weiten, fördernden und kaum unterbrochenen Wanderungen ein. Im Verlaufe derselben, wenn auch nicht vor Beendigung der eben geschilderten Kämpfe, sammeln sich die Kulantrupps ebenfalls zu immer zahlreicher werdenden Herden, bis endlich solche, welche mehr als tausend Stück zählen, gemeinschaftlich nahrungversprechenden Gefilden zuwandern. Auch auf den Winterständen trennen sich die Wildpferde nicht, sind daher genöthigt, genügender Weide halber, fortwährend umherzustreifen. Dröhnend schallt der Hufschlag ihrer vereinigten, in gewohnter Weise eilfertig dahinspringenden Heere, und mehr als einmal schon hat derselbe innerhalb des russischen Reiches die Kosaken der Grenzwachten unter die Waffen gerufen. Kein Wolf wagt es, solche Herden anzugreifen: denn die muthigen Hengste wissen ihre Hufe ihm gegenüber so gut zu gebrauchen, daß er bald von jedem Angriffe absteht; höchstens kranke und ermattete Wildpferde fallen ihm, welcher auch diesen Wanderzügen folgt, dann und wann zum Opfer. Auch der Mensch, welcher den Wildpferden eifrig nachjagt, richtet unter ihren Beständen nicht eben erheblichen Schaden an, weil ihre Vorsicht und Scheu die Annäherung des Jägers erschwert. Trotzdem verhängt der Winter, wenn er besonders schneereich ist, schwere Leiden über sie. Die ohnehin kärgliche Weide wird um so schneller verbraucht, je zahlreicher die Herden sind, welche sie beanspruchen. Wahllos äsen die Thiere dann von allen Pflanzenstoffen, welche sie finden. Monatelang müssen sie mit entblätterten Schößlingen ihr Leben fristen. Feiste und Rundung des Leibes schwinden; zuletzt gleichen sie wandelnden Gerippen. Selbst darbend, ist die Mutterstute nicht mehr im Stande, das Füllen zu ernähren; denn

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_154.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)