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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

das Fenster; man erkannte das Eiserne Kreuz auf seiner Brust, man sah den vollen Bart, das ungelichtete Haupthaar und bemerkte – welche freudige Ueberraschung! – die straffe aufrechte Haltung des Monarchen.

Wenige Minuten vergingen. Dann kam der Zug im ersten Geleise, unmittelbar am Perron, zurück, und was das Auge vorhin flüchtig erschaut, das erkannte es jetzt in aller Deutlichkeit: das Aussehen des Kaisers war ein über Erwarten gutes, kaum merklich verändert die allen Deutschen so wohlbekannten und vertrauten Züge seines Gesichtes. Die ungebrochene straffe Haltung erinnerte noch immer an die frühere Heldengestalt, und äußere Spuren des tückischen Leidens ließen sich kaum wahrnehmen; höchstens vermochte das schärfere Auge zu erkennen, daß der rothe Uniformkragen etwas lockerer saß.

Als der Zug hielt, schritt alsbald Fürst Bismarck über den Perron, um sich zur Begrüßung in den Wagen zu begeben. Das umstehende Publikum verharrte lautlos; als aber der Fürst in den Wagen trat und Kaiser Friedrich ihm raschen und elastischen Schrittes mit offenen Armen entgegeneilte und den greisen Kanzler wiederholt umarmte und küßte, da brach ein lauter stürmischer Jubel der Menge sich Bahn.

Es war ein Bild, so eigenartig und packend, daß wohl keiner der Augenzeugen es je vergessen wird. Auf dem Perron standen die Zuschauer dichtgedrängt, die Hüte schwenkend und mit Tüchern wehend. Das Innere des kaiserlichen Salonwagens war hell erleuchtet, so daß die Außenwände desselben für die lichtglänzenden Fenster einen scharf kontrastirenden dunkeln Rahmen gaben. Jede Bewegung der im Wagen Befindlichen konnte auf das Genaueste beobachtet werden, und das Publikum folgte denselben mit der gespanntesten Aufmerksamkeit.

Die Kaiserin stand unweit ihres hohen Gemahls und auch sie begrüßte den Reichskanzler, der ihr ehrerbietig die Hand küßte, auf das herzlichste. Und dann sah man die Beiden im Wagen stehen und mit einander verkehren, den Kaiser, der die Unterhaltung mit lebhaften Bewegungen begleitete, und seinen großen Reichskanzler, und wohl kein Auge blieb trocken, das ihn, den eisernen Kanzler, von der Schwere des Augenblicks auf das tiefste erschüttert, mit schmerzdurchbebtem Gesichte und thränendem Auge vor seinem kaiserlichen Herrn stehen sah, der auch seinerseits tief bewegt war.

Als der Kaiser auch die übrigen Herren des Staatsministeriums begrüßt, trat er an das Fenster und grüßte das Publikum, durch wiederholte Verneigung für die ihm dargebrachten Ovationen dankend. Die Hochrufe wiederholten sich laut und freudig und gaben Zeugniß davon, daß die Liebe des Volkes, welche sich der einstige Kronprinz Fritz in so hohem Maße erworben, voll auch auf den nunmehrigen Kaiser Friedrich übergegangen sei.

Deutlich konnte man noch sehen, wie Fürst Bismarck, ein großes Kouvert in der Hand, dem Kaiser verschiedene Papiere überreichte, wie dieser sie in Empfang nahm und prüfend hineinsah – dann wurden die bis dahin unverhüllten Fenster bis kurz vor Abfahrt des Zuges durch Vorhänge geschlossen. Gegen hundert Unterschriften soll der Monarch auf dem Wege von Leipzig bis Berlin vollzogen haben; gesprochen hat er dagegen weder in Leipzig noch auf dem späteren Wege. Der ganze Verkehr wird von Seiten des Monarchen schriftlich geführt, und zwar bedient er sich kleiner weißer Zettel, welche nach ihrer Benutzung regelmäßig vernichtet werden.

Ueber eine halbe Stunde dauerte der Aufenthalt des Kaisers in Leipzig, der, ehe der Zug nach Berlin weiter fuhr, noch einmal grüßend an das Fenster trat, dessen Vorhang er selbst zurückgezogen; und noch einmal wurde er jubelnd und mit neu erwachter Hoffnung auf seine vielleicht doch noch mögliche und vom ganzen deutschen Volke so sehr gewünschte Gesundung willkommen geheißen in der geliebten Heimath, die er und die ihn so lange schmerzlich vermißt hat. Dann ertönte das Signal zur Abfahrt; Kaiser Friedrich fuhr der Reichshauptstadt zu und mit ihm in demselben Wagen der Reichskanzler, des Reiches und des Kaisers erster und treuester Diener. Dietrich Theden.     


Mörikes „Feuerreiter“.

Diese Perle deutscher Balladendichtung hat, wie wir aus zahlreichen Zuschriften ersehen, unsere Leser vielfach beschäftigt. Es würde uns zu großer Freude gereichen, wenn wir durch den Abdruck der Ballade mit der Illustration des talentvollen jungen Malers G. A. Cloß in München (in Nr. 6 d. Jahrg. der „Gartenlaube“) zum weiteren Bekanntwerden der Gedichte Eduard Mörikes beigetragen hätten, welche, obgleich sie zum Allerbesten gehören, was unsere Lyrik hervorgebracht hat, doch leider noch immer nicht genugsam bekannt und gewürdigt sind. Was den Inhalt der Ballade und die ihr zu Grunde liegende Sage betrifft, über welche viele unserer Leser Näheres zu erfahren wünschen, so haben wir uns um Auskunft an den trefflichen Sagenforscher Professor Dr. Wilhelm Hertz gewendet, der uns folgende Erläuterungen zukommen ließ:

Die phantastische Dichtung hat noch jedem Leser ihre Räthsel aufgegeben. Wer ist dieser Feuerreiter? Warum reitet er zu jedem Brand? In welchem Verhältniß steht er zum Teufel? Wie kommt das Gerippe in den Keller, und was ist das Ende von alledem? Der Dichter hat mit künstlerischer Absicht über diese Dinge ein ungewisses Halbdunkel gebreitet, das nur wie durch das Geflacker einer fernen Feuersbrunst ahnungsvoll beleuchtet wird. Daß unsere Phantasie durch die unheimliche Erzählung mehr gereizt als befriedigt wird: das eben verleiht dem Gedicht seinen eigenthümlichen schauerlichen Zauber.

Am räthselhaftesten ist die Ballade in ihrer ursprünglichen Gestalt, wie sie Mörike als Student im Tübinger „Stift“ im Jahre 1824 niedergeschrieben und später seinem im Jahre 1832 erschienenen Romane „Maler Nolten“ einverleibt hat. Da fehlt noch die dritte Strophe unseres Abdrucks, und wir erfahren also nur, daß ein Mensch mit rother Mütze, der jede Feuersbrunst von ferne wittert und zu jeder auf dürrem Gaule hinjagt, seit dem Brande einer Mühle verschwunden ist, daß später sein Gerippe im Keller gefunden wird und beim Ansprechen zerfällt, worauf ihm Ruhe gewünscht wird.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_194.jpg&oldid=- (Version vom 23.7.2023)