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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

und sorgfältig nach außen hin verschlossenen Bauen in todähnlichem Schlafe die schlimme Jahreszeit überstehen, somit also nicht zum Verlassen ihres Wohngebietes gezwungen sind. Gleichwohl giebt es auch unter ihnen, mindestens unter denen, welche in den gemäßigten Gürteln leben, einzelne, welche während ihres Wachseins wandern: Fledermäuse nämlich. So mangelhaft der Fittich des Flatterthieres, verglichen mit der Schwinge des Vogels, uns erscheinen muß, so erheblich begünstigt er Ortsveränderungen, befähigt daher zu Reisen, welche mit der Größe des ihn regenden Thieres außer allem Verhältnisse zu stehen scheinen. Zudem kommt einer wanderlustigen Fledermaus noch ein anderweitiger Umstand zu statten: sie wird durch ihre Jungen nicht an eine bestimmte Oertlichkeit gebunden; denn das Junge hängt sich unmittelbar nach seiner Geburt an die Brust der Mutter und wird von ihr bis zu erreichter Selbständigkeit durch die Luft getragen. Dementsprechend gehört die Fledermaus zu den reisefertigsten aller Säugethiere und macht unter Umständen von der ihr gewordenen Vergünstigung umfassenden Gebrauch. In der Regel sind die Wanderungen, welche verschiedene Fledermäuse ausführen, allerdings als Streifzüge zu bezeichnen, welche bezwecken, zeitweilig besonders nahrungsreiche Gebiete auszunutzen, sie können jedoch zu wirklichen Reisen werden und wenigstens einzelne Arten in weit entlegene Länder führen, entbehren dann auch nicht der Regelmäßigkeit, welche die Wanderungen kennzeichnet. Die größten Flatterthiere, welche wir Flughunde nennen, durchmessen allabendlich den Früchten, ihrer Hauptnahrung, zu Gefallen weite Strecken, scheuen sich aber auch nicht, Meeresarme von zehn geographischen Meilen Breite und mehr zu überfliegen, müssen sogar von Südasien nach Ostafrika geflogen sein oder denselben Weg in umgekehrter Richtung zurückgelegt haben, da einzelne Arten in beiden Erdtheilen vorkommen; die eigentlichen Fledermäuse leisten mindestens dasselbe. Dem in verschiedenen Höhengürteln zu verschiedenen Zeiten eintretenden Erwachen der Kerbthiere folgend, steigen sie von der Tiefe zu Gebirgshöhen empor und im Herbste umgekehrt wieder zur Tiefe hernieder, den viele Fliegen um sich versammelnden Viehherden der Wanderhirten Mittelafrikas ziehen sie nach; aber sie wandern auch vom Süden nach dem Norden und kehren von hier wieder dorthin zurück oder verfahren umgekehrt. So erscheint die Umberfledermaus erst mit Beginn der taghellen Nächte im Norden von Skandinavien und Rußland und verläßt diese Breiten, welche vielleicht als ihre Heimath gelten dürfen, bereits im Spätsommer wieder, um in unseren mitteldeutschen Gebirgen und in den Alpen zu überwintern; so sieht man die Teichfledermaus während des Sommers regelmäßig in den norddeutschen Ebenen, begegnet ihr aber um diese Zeit nur ausnahmsweise in den Gebirgen Mitteldeutschlands, deren Felsenhöhlen sie zum Ueberwintern aufsucht. Daß auch andere in Deutschland lebende Fledermausarten ähnliche Ortsveränderungen vornehmen, kann keinem Zweifel unterliegen.

Hunger und Durst, Armuth und zeitweilige Unwirthlichkeit eines bestimmten Wohngebietes treffen einzelne Säugethiere zuweilen so hart, daß sie sich, gleichsam verzweifelnd, entschließen, Rettung in fluchtartiger Auswanderung zu suchen. Unter solchen Umständen verlassen bei uns zu Lande die Feld-, in Sibirien die Wurzelmäuse ihre Geburtsstätten und ziehen, zu massenhaften Scharen gesellt, in andere Gefilde, schrecken vor keinem Hemmnisse zurück, scheuen das Wasser ebenso wenig wie das ihnen unfreundliche Gebirge oder den ihnen unheimlichen Wald, kämpfen widerstandslos mit Hunger und Elend und verfallen rettungslos Krankheiten und Seuchen, welche pestartig unter ihnen wüthen und Bestände von Millionen auf wenige Hunderte verringern.

Unter solchen Umständen rotten sich in Sibirien die Eichhörnchen, welche in regelrechten Jahren höchstens Ausflüge unternehmen, zu zahlreichen Heeren zusammen, eilen in Trupps oder Gesellschaften von Baum zu Baum, in geschlossenen Herden von einem Wald zum andern, überschwimmen Flüsse und Ströme, dringen in Dörfern und Städten ein, verlieren zu Tausenden ihr Leben und lassen sich auch durch ersichtliche Todesgefahr weder aufhalten, noch zurückscheuchen, noch nach von ihrem Wege abbringen. Die Sohlen ihrer Füße sind abgelaufen und schrundig, die Nägel abgeschliffen, die Haare des sonst so glatten Pelzes gesträubt und verwirrt; ihren Zügen folgen im Walde Luchse und Zobel, im freien Felde Vielfraße, Füchse und Wölfe, Adler, Falken, Eulen und Raben; unter ihren Heeren fordern großartige Seuchen mehr Opfer noch als Zähne und Klauen der Raubthiere, Geschosse und Knüppel der Menschen, und dennoch wandern sie fort und fort, scheinbar ohne jegliche Hoffnung auf Rückkehr. Nach mündlichen Mittheilungen eines mir befreundeten sibirischen Jägers erschien im August des Jahres 1869 ein solches Eichhornheer inmitten der im Ural gelegenen Stadt Tagilsk. Es war nur ein Flügel des wandernden Hauptheeres, dessen Mitte in einer Entfernung von ungefähr acht Kilometern weiter nördlich durch den Wald zog.

Die Thiere folgten sich einzeln oder in verschieden starken Gesellschaften, aber ununterbrochen, zogen eben so dicht geschart durch die Stadt wie durch den benachbarten Wald, benutzten die Straßen wie die Zäune und die Dächer der Gebäude als Pfade, erfüllten alle Höfe, drangen durch Fenster und Thüren in das Innere der Häuser ein, erregten einen förmlichen Aufruhr unter den Menschen, einen noch ärgeren unter den Hunden, welche Tausende von ihnen umbrachten und zuletzt eine bis dahin ungeahnte zügel- und schrankenlose Mordlust bethätigten, schienen aber nicht im geringsten wegen der zahllosen Opfer, welche unter ihnen fielen, in Sorge zu gerathen oder auch nur sich um sie zu bekümmern, überhaupt an nichts Antheil zu nehmen, und ließen sich durch kein Mittel aus ihrer Bahn bringen.

Drei Tage lang währte der Durchzug vom frühen Morgen bis zum späten Abende, und erst nach Einbruch der Nacht trat jedesmal eine Unterbrechung des Stromes ein. Alle wanderten genau in derselben Richtung, von Süden nach Norden, und die Nachfolgenden zogen auf denselben Wegen dahin wie die Vorausgegangenen. Die rauschende Tschussoweia bildete kein Hinderniß; denn alle, welche an das Ufer des sehr schnell strömenden Gebirgsflusses gelangten, stürzten sich ohne Besinnen in die wirbelnden und schäumenden Fluthen und schwammen, tief eingesenkt, mit auf den Rücken gelegtem Schwanze so eilig wie möglich zum jenseitigen Ufer hinüber. Mein Gewährsmann, welcher den Zug mit fortwährend sich steigernder Aufmerksamkeit und Theilnahme verfolgte, begab sich in einem Boote mitten unter die über den Fluß setzenden Scharen. Die ermüdeten Schwimmer, denen er ein Ruder zustreckte, benutzten dieses, um an ihm aus das Boot zu klettern, blieben hier auch, anscheinend sehr ermattet, ruhig und vertrauensvoll sitzen, kletterten sodann, als das Boot neben einem größeren Fahrzeuge anlegte, auf letzteres und verweilten hier, eben so unbekümmert wie aus jenem, geraume Zeit, verließen es aber sofort, nachdem es dem Ufer nahe gekommen war, sprangen auf dieses und setzten ihren Weg so gleichmüthig fort, als habe es keine Unterbrechung für sie gegeben.

Dieselben Ursachen müssen es sein, welche die Lemminge zu ihren seit Jahrhunderten beobachteten Wanderungen zwingen. Jahre nach einander gewähren ihnen die Gebirge und Tundren Skandinaviens, Nordrußlands und des nördlichen Sibiriens behäbigen Aufenthalt und ausreichende Nahrung, denn die breiten Rücken der Fjelds wie die weiten Ebenen dazwischen, das Hügelland wie die Niederungen bieten Raum und Unterhalt für Millionen von ihnen; aber nicht in jedem Jahre erfreuen sie sich gewohnter Fülle für die ganze Zeit des Sommers. Folgt auf einen schneereichen Winter, der für sie, weil sie unter der weißen Winterdecke ein gesichertes Dasein führen, günstig ist, ein zeitiges und warmes, längere Zeit sich gleich bleibendes Frühjahr, so erleidet ihre erstaunliche Fruchtbarkeit und Vermehrungsfähigkeit keinerlei irgendwie erhebliche Beschränkung, und demgemäß wimmelt die Tundra buchstäblich von ihnen. Ein ihre Anzahl ins Unberechenbare steigernder schöner und warmer Sommer beschleunigt aber auch den Lebenslauf aller Nährpflanzen, und ehe er vergangen, sind diese theilweise verdorrt, theilweise durch den gefräßigen Zahn der an und für sich unersättlichen Wühlmäuse vernichtet worden; Mangel an Nahrung macht sich geltend, und jenes behagliche Leben nimmt ein Ende mit Schrecken. Ihr keckes, dreistes Wesen weicht allgemeiner Unruhe und bald bemächtigt sich ihrer sinnlose Angst vor der Zukunft. Jetzt rotten sie sich zusammen und beginnen zu wandern. Derselbe Trieb regt sich gleichzeitig in vielen und übertragt sich auf andere; der einen Rotte gesellen sich mehrere; aus Herden werden Heere; diese ordnen sich in Reihen; und wie ein rieselndes Gewässer ergießt sich ein lebendiger Strom von den Höhen herab in die Niederungen. Alle eilen in bestimmter, doch je nach Oertlichkeit und Gelegenheit vielfach wechselnder Richtung ihres Weges dahin; allgemach bilden sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_227.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)