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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

ihm noch am selben Abend, nachdem er sich gesetzt und noch ein wenig im Stuhle gebeugt hatte, von Jakobäa um den lockeren Halskragen gebunden, mit kühn dahinflatternden Enden à la Byron. Nachdem mit Hilfe der milden Weihnachtsstimmung dieser erste Angriff ohne erheblichen Widerstand geglückt war, wurde man unternehmender. Nicht lange darnach lagen neben Florians Geburtstagskuchen, von dessen sechsundzwanzig Kerzchen glänzend beleuchtet, zwei Künstlerhüte mit Riesenkrempen – er nannte sie „Schattenspender“, aber er trug sie.

So erfolgreich Jakobäas Bemühungen waren, „den Kranz um den Krug edlen Weines zu winden“, so wenig Freude erlebte sie an ihrem eigenen Aeußeren. Das Streckbett sammt dem Dehnen und Ziehen der Glieder half ebenso wenig wie die Tage, Wochen, Monate, welche nur so bei ihr vorüberhuschten , als ob es an ihr gar nichts zu schaffen gäbe! Wenn sie einsam auf ihrem Stübchen vor ihren Büchern und Heften saß, wurde sie zuweilen von einer wilden Verzweiflung darüber gepackt.

Sobald sie aber wieder auf der Uebungsbühne des Konservatoriums eine ihr zusagende Rolle zu spielen hatte, dann vergaß sie gänzlich des knappen Rahmens und fühlte nicht mehr, wie sich ihr Geist allenthalben daran stieß. Ja, sie lebte und ging so vollständig in der Darstellung auf, daß sie in ihrer tragischen Hoheit und königlichen Würde sich wohl ein wenig bückte, wenn sie durch die Thür des Hintergrundes abtrat. Man hatte immer den Eindruck, sie habe sich selbst sehr lieb in solchen Stunden, und sie erschien einem dann etwa wie ein winziges ärmliches Fleckchen Erde, dem ein plötzlicher Sonnenstrahl etwas Erhabenes und Erhebendes verleiht. Ihr Organ hatte dabei Töne, welche an die tiefsten Saiten der Menschenbrust rührten; ihre Tragik wühlte dunkle Ahnungen empor, daß sie wie helle Offenbarungen da lagen – es war etwas Dämonisches , etwas Berauschendes darin. Merkwürdigerweise entwickelte sich nicht – wie das sonst bei kleinen Persönchen zu sein pflegt – in den zierlichen Gliedern eine hastige und sprunghafte Regsamkeit, sondern sie bewegten sich in einer würdevollen Ruhe, in einem feierlichen Rhythmus, welcher Erinnerungen an Goethes Theaterdirektion und an die Weimarsche Schule heraufbeschwor. An dem feinen Figürchen wirkte dergleichen befremdend und muthete erst dann an, wenn sich dem längere Zeit hindurch der Vortrag zugesellte. Beides gehörte zusammen; man sah dann, daß diese feierliche Bewegung der inneren Natur gemäß war und von innen heraus in Werkzeuge strömte, welche ihr zwar gehorchten, aber nicht dafür geschaffen waren.

So war das erste Studienjahr zu Ende gegangen. Fräulein Jakobäa Almer hatte es mit Auszeichnung zurückgelegt; sie war und blieb unangefochten die begabteste und zugleich die fleißigste unter sämmtlichen Zöglingen ihres Jahrganges.

Die Familie Haushuber hatte sonst immer den Sommer in Wien zugebracht. Die nöthige Abkühlung suchte und fand Florian im Donaustrom, wo er im bequemen Tempo seinen Schwimmübungen oblag, zu denen sich auch hier allerlei krause Künsteleien gesellten; so liebte er es, auf dem Kopf im Wasser zu stehen, bloß mit einer Hand oder auch nur mit dem kleinen Finger zu rudern, am eifrigsten aber verlegte er sich auf das Tauchen nach Kreuzern und Kieselsteinen. Ein einziger Versuch, einmal mitten in einem allzu heißen Sommer sich auf dem Lande zu erfrischen, war kläglich mißlungen. Florian hatte so sehr die häusliche Bequemlichkeit vermißt und Fräulein Nina ihre rastlose Thätigkeit, beide aber die gewohnte bürgerlich gute Küche, daß sie nach drei Tagen wieder heimgekehrt waren. Nun versicherte der Arzt, welchen Fräulein Nina unter dem Vorwande eines Unwohlseins zu sich berufen hatte, „bei dieser Gelegenheit“ Herrn Haushuber, daß seiner Fettleibigkeit eine Grenze gezogen werden müsse, und schickte ihn unter den üblichen furchtbaren Drohungen nach Karlsbad.

Ueber die Fettleibigkeit lachte Florian bloß; die Drohungen hingegen machten ihn doch einigermaßen nachdenklich. In einem sehr knappen Sarg auf dem sehr langweiligen Centralfriedhof zu liegen, das erschien ihm doch zu wenig behaglich und ging ihm über allen Spaß. „So ein kleines Schlagflüßchen!“ hatte der elende Doktor gemurmelt. Florians Körperumfang hatte zwar die üblichen Grenzen immer etwas überschritten; das viele Sitzen der höheren Kunst zu Liebe hatte jedoch in neuester Zeit diese Neigung wirklich in bedenklicher Weise gefördert.

Nebenbei warf der Doktor „bei dieser Gelegenheit“ auch gegen Jakobäa hin, daß sie gar nicht gut aussehe. Das that sie auch nicht. Die Ueberanstrengung vor den Prüfungen sammt der Sommerhitze hatten sie merklich angegriffen; sie schlief schlecht und aß fast gar nichts.

„Ihrem Magen würden auch ein paar Becher Karlsbader Schloßbrunn nicht schaden,“ brummte er – „und Ihren Nerven thut es noth, daß Sie eine Zeit lang Karlsbader Waldluft schnappen. Das wird Sie wieder röther und voller und stattlicher machen.“

Stattlicher! – Das klang wie eine Himmelsbotschaft an Jakobäas Ohr. Wenn es ohne besonderes Aufsehen gegangen wäre, so wäre sie dem alten struppigen Doktor gern um den Hals gefallen. Also es gab ein Mittel, es war auf der weiten Welt ein Ort, wo man stattlicher werden konnte! Sie sah dem alten brummigen Herrn mit einem heißen Blicke nach, wie Julia ihrem Romeo, indeß Herr Haushuber, der sonst allen Menschen wohlwollte, diesem Romeo den Hassesblick des Tybalt nachsandte. Aber das Schlagflüßchen – dergleichen duldet eben wenig Widerrede.

Das Atelier blieb daheim, Sammtflaus und Künstlerhut kamen mit; Fräulein Nina packte einen großen Korb voll Proviant für die kurze Tagesreise und hing den Strickbeutel über den Arm; Jakobäa endlich stopfte ihr Kofferchen mit dem ganzen Shakespeare voll. So stürzte man sich in die weite unbekannte Welt mit dem Steckbrief des Wiener Arztes an den Karlsbader Arzt im Strickbeutel. Gleich am ersten Tage suchte und fand Fräulein Nina in ihrer thatkräftigen Weise, welche sie überall, nur nicht an Florian bethätigte, eine passende und angenehme Wohnung auf dem Schloßberg. Florian schlenderte indessen durch die Straßen und richtete sein Augenmerk auf die Werke der Karlsbader Schildermalerei; sie nöthigten ihm nur ein verächtliches Lächeln ab, und endlich ward er dieses Anblickes so satt, daß er sich auf eine Waldbank beim Hirschensprung rettete. Dort saß er und schnitzte sich zum Nutzen sowohl als zum Zeitvertreib einen Stiefelknecht, weil dieses Möbel im Gasthaus sich für seine Füße zu klein erwiesen hatte. Aber wie die Noth stets die Erfinderin der Künste ist, so kamen ihm bei dem Schnitzeln des nothwendigen Instrumentes allerlei Erleuchtungen; zuerst wurde das Stützende des Stiefelknechtes in eine Art Zange zum Herausziehen der Nägel umgezaubert, hierauf die eine Zacke der Gabel in einen Hammer – über die zweckmäßige Verwendbarkeit der andern Zacke war er noch im Unklaren. Das Ganze sollte daheim noch künstlich zum Zusammenlegen gefügt werden, damit man es in die Rocktasche stecken könne; wozu man einen Stiefelzieher in der Rocktasche tragen müsse, daran dachte er in diesem Augenblicke nicht. Vor Eifer schweißtriefend ward er mitten in dieser Beschäftigung von den Frauen aufgestöbert und aus der Waldidylle zu dem neu gefundenen Heim geführt.

Dann begann der übliche Tageslauf eines Karlsbader Kurgastes, nur bei Florian etwas später als bei der großen Mehrzahl. Er liebte im allgemeinen das frühe Aufstehen nicht und hatte sich auch nur einmal, am ersten Tage, den Gänsemarsch der Kurgäste bei den Brunnen von weitem angesehen. Als er nach diesem Anblick heimkam, erklärte er ohne weitere Begründung, es wäre doch klüger gewesen, in Wien zu bleiben. Er kam zwar bei dem Frühstück in Erinnerung des Schlagflüßchens wieder von diesem Gedanken ab; aber er stand nie früher auf, bevor er nicht sicher sein konnte, daß der ortsübliche Gänsemarsch aufgelöst und der Zutritt zu den Brunnen frei sei. Jakobäa studirte nach dem ersten Becher den Theaterzettel des Tages und blickte nach dem zweiten Becher an sich nieder, ob sie bereits „stattlicher“ geworden sei. Während sie von dem sanften Schloßbrunn nippte, verschlang Florian unsägliche Massen des gewalttätigen Sprudels und führte dabei in der Sprudelkolonnade ein gemächliches Stillleben, da er die Bewegung nicht liebte.

Dann nahm man gemeinsam bei Pupp das Frühstück. Florian beklagte sich dabei jeden Tag über sein zu kurzes Bett; Fräulein Nina spürte mit Zunge, Nase und Augen den Geheimnissen des berühmten Karlsbader Kaffees nach, und Jakobäa durchstöberte die Theaternachrichten sämmtlicher Zeitungen. Hierauf begannen alltäglich die bangen Ahnungen der Tante bezüglich des zu erwartenden Mittagessens, welche während desselben sich in schweren Seufzern Luft machten und nach demselben als schmerzliche Erinnerungen erst durch den Nachmittagskaffee verscheucht wurden. Dieser wurde gleichfalls gemeinsam beim „Elefanten“ auf der alten Wiese unter den schattigen Bäumen eingenommen. Florian saß mit jener Gemächlichkeit da, wie sie seine Trafiktürken unabänderlich zur Schau trugen, und musterte

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